Monat: Juni 2013

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    Es waren einmal zwei Schwestern, die saßen unter einer Platane am See. Da kamen kräftige Jäger geritten und verliebten sich sogleich in die beiden Schönen. Den Schwestern gefielen die Waidmänner zwar, aber ihr Hochmut ließ eine solche Regung nicht zu. „Schau mal“, rief die eine der anderen zu, „die haben wohl eben erst Reitunterricht genommen. Gleich werden sie vom Pferd fallen.“ Und die andere lachte und antwortete: „Mit Pfeil und Bogen können sie gewiss auch nicht umgehen. Sie haben ja noch gar nichts geschossen.“

    Und so ging es weiter, bis der rothaarige Jägersmann sprach: „Habt Ihr Lust, uns zum Hofe zu begleiten? Wir könnten Euch heute Abend zum Tanze ausführen“. Die Schwestern riefen wie aus einem Munde: „Mit einem Rotfuchs?“ Aber sie wurden stutzig: „Wieso zum Hofe? Seid Ihr keine Jäger?“ – „Nein“, sagte der Jägersmann mit der Hakennase, „wir sind Königssöhne.“ Da lachten die Schwestern noch höhnischer. Sie riefen: „Haha, gewiss handelt es sich um ein ganz besonderes Königreich, vielleicht sogar um das, welches am Zauberberg liegt, wo der Zauberkönig regiert.“ „Genauso ist es“, erwiderten die Jäger. Die Schwestern konnten vor Lachen kaum noch sprechen und stammelten: „Dann seid Ihr natürlich fähig, uns ein Zauberkunststück vorzuführen, damit wir vor Ehrfurcht erstarren.“ Und sie lachten weiter.

    Da hob der rothaarige Jäger einen Pfeil, der zum Zauberstab wurde, und machte damit wellenartige Bewegungen. Flugs befanden sich die Schwestern nicht mehr am Ufer des Sees, sondern auf einem Floß inmitten des Wassers. Der Habichtnasenjäger, der einen Falken auf seiner Schulter trug, rief: „Ihr werdet erst wieder an Land kommen, wenn Ihr mittels dieses Sees ein gutes Werk getan habt. Den Falken lassen wir Euch hier. Er wird Euch durch Zauberkraft helfen. Und nun, Bruder, kommt, sonst verpassen wir noch den Ball.“
    Da war den Schwestern das Lachen vergangen. Sie versuchten, an Land zu kommen, was wegen einer Strömung nicht gelang. Sie riefen um Hilfe, aber niemand kam. Und der Falke antwortete auf ihre drängenden Fragen, dass sie sich selbst etwas überlegen müssten.
    Da kamen sie auf die Idee, das Wasser des Sees ablaufen zu lassen, damit die Fische als Nahrung für die Bewohner des umliegenden Landes Verwendung finden könnten. Aber die Fische schwammen mit fort.
    Dann ließen sie mit der Hilfe der Zauberkraft des Falken das Wasser des Sees salzig werden, damit sich Heringe, Flundern und Kabeljau vermehrten und nicht bloß Plötzen. Da aber starben alle Wasserpflanzen und Bäume ab und die Tiere des Waldes hatten kein Trinkwasser mehr.
    Später untersagten sie das Angeln, damit sich die Fische rascher vermehren konnten. Da hungerte das Volk.
    Danach mussten die Blesshühner jeden Tag zwei Eier legen, wodurch die Schwäne, Wildenten und Wildgänse sich gestört fühlten und abzogen. Die Schwestern hatten jeden Tag einen neuen Einfall, aber eine wirklich gute Tat war nicht dabei.
    Die Jahre vergingen. Der See wucherte allmählich zu. Da kam den Schwestern die Erleuchtung: Sie baten den Falken, aus dem See eine Wellness-Oase zu entwickeln. 24 Stunden Spaß! Beauty-Shops! Sauna! Massagen! Wasserski! Tauchkurse! Die Achterbahn landet im Wasser!
    Eines Morgens erschienen die Königssöhne, begleitet von ihren Gemahlinnen, und ließen die Schwestern an Land kommen, damit sie kein weiteres Unheil anrichten konnten.

    Copyright Dr. Jürgen Rogge

  • Engelchen sprach zu Engelchen:
    Wir fliegen in die Höh.
    Wenn ich nach unten seh,
    sehe ich die Erde rund und schön,
    sehe Menschen froh spazieren gehen.

    Sehe Kamele dort im Wüstensand,
    Sehe Affen hier am Dschungelrand.
    Sehe blaue Meere, Wälder grün:
    Warum müssen wir zum Himmel ziehn? 

    Engelchen nahm vom Engelchen
    Das Händchen in die Hand:
    Die Städte dort, das böse Land
    Dort leben Menschen, die im frommen
    Mordgewand zum Himmel  kommen.

    Erkoren waren sie zu Leben,
    Sie können Hass und Tod nur geben.
    Egal ob Kind, ob Frau, ob Greis,
    egal ob braun, ob gelb, ob weiß,

    egal  ob böse oder gut,
    sie töten stets in blinder Wut
    und denken dort am Himmelsthron,
    sind Engelchen ihr Mörderlohn.

    Engelchen schrak vor Engelchen:
    Im Himmel werden wir sie sehen?
    Vor unserer Tür werden sie dort stehen?
    Ins Paradies müssen wir sie lassen?
    Und die dort lieben, die so hassen?

    Das tut mir weh, das tut so weh.
    Doch komm, ich hab da die Idee:
    Wir drehen um jetzt auf der Stelle
    Fliegen schnell zur bösen Hölle

    Richten dort ein Zimmer ein
    Für alle guten Engelein.
    Der Teufel kommt ins Paradies
    Mit seinen Hexen, die gewiss

    Die frommen Mörder treulos quälen
    Und ihnen Lust und Liebe stehlen.
    Gott hört die Engelchen Idee
    Holt sich den Teufel  in die Höh
    Und übergibt ihm feierlich
    Zum Paradies den Dieterich.

    Verschworen nur die Engel wissen,
    wie fromme Mörder büßen müssen:
    Die Engelchen im Himmelreich
    Tun es allen Hexen gleich,

    Schrubbern fromme Mörder  glatt,
    Bis diese ausgepresst und platt
    Sich nur noch nach der  Hölle winden
    Um im Fegefeuer Lust zu finden.

     

    Copyright Prof. Dr. Dr. Klaus Kayser

     

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    Es war schwarz und es war sein Sonntagskleid.
    Die Klinge war geschliffen und war scharf.
    Die Augen lagen tief und sie waren bereit
    Zu töten bei Befehl und Bedarf.

    Oh Allaf, die Wüste kennt
    Nur Sand, keine Rosen, kein Herz!
    Oh Allaf, die Seele brennt
    Und tötet den ehrvollen Schmerz!

    Sie war schön und war jung und war achtzehn Jahr.
    Ihr Kleid war so kurz und so bunt.
    Locker und wild war ihr nachtschwarzes Haar
    Und kirschrot der lockende Mund.

    Oh Allaf, die Wüste kennt
    Nur Sand, keine Rosen, kein Herz!
    Oh Allaf, die Seele brennt
    Und tötet den ehrvollen Schmerz!

    Er war stark und war blond und stampfte das Bein.
    Er tanzte die Brust mit funkelndem Schwung.
    Sein Blick fiel auf sie und sie fiel auf ihn rein.
    Sie war ja so schön und er war ja so jung.

    Sie tanzten das Leben und das Leben war gut.
    Die Nacht war so mild und voll auch der Mond.
    Er hat sie geküsst und auf ihr geruht
    Und tief in ihrem Herzen gewohnt.

    Der Bruder, der Kurde, er sah was er sah.
    Die Familie, die Ehre geopfert der Lust.
    Der Vater befahl was mit ihr geschah.
    Der Bruder, das Messer fand die liebende Brust.

    Er hielt sie in den Armen und sterbend sie sah
    Die Tränen, sein Sonntagskleid voller Blut.
    Vater, mein Vater, befahl was geschah.
    Mein Bruder, mein Bruder, du warst mir so gut.

    Oh Allaf, die Wüste kennt
    Nur Sand, keine Rosen, kein Herz!
    Oh Allaf, die Seele brennt
    Und tötet den ehrvollen Schmerz!

     

    Copyright Prof. Dr. Dr. Klaus Kayser

     

     

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    Der Ring – eine italienische Ballade aus dem großen Krieg

     

    Befehl war kämpfen bis zum Sieg
    Spricht Enkel eins zu Enkel zwei.
    Es ging um Tod im großen Krieg.
    Mein Großvater war auch dabei.

    Dein Großvater war mit Gewehr,
    spricht Enkel zwei zu Enkel eins.
    Mein Großvater war nicht im Heer.
    Er kämpfte nicht, er hatte keins.

    Fünf Kameraden auf dem Feld,
    spricht Enkel eins, ein Hinterhalt,
    hat Großvater mir einst erzählt,
    Partisanentod in Kriegsgestalt.

    Bauern nur und keine Schuld,
    sprach Großvater, der zwei zu mir:
    Da war kein Hass, war nur Geduld
    Auf Leben, Frieden hofften wir.

    Zum Marktplatz wurden wir getrieben
    Die Kugel drohte und der Tod.
    Da war kein Abschied von den Lieben.
    Da war Gewalt, Befehl und Not.

    Das Gewissen zu vergessen
    In allem nur gehorsam sein!
    Großvater zwei ward Angst besessen
    Großvater eins sah sich allein.

    Mit Befehl und all dem Leben,
    das zu töten ihm befohlen war.
    Das werde es mit ihm nicht geben!
    Das sei sein Wort, und das sei klar:

    Bauern seien nicht Soldaten!
    Partisanen nicht ein Opfer wert!
    Bestellt die Felder mit dem Spaten
    Geht zurück zu Eurem Herd!

    Großvater eins ließ Bauern leben
    Großvater zwei zog seinen Ring
    Hat ihm als Geschenk gegeben:
    Hier nimm, und später bring,

    ihn unseren Enkeln, unseren beiden
    als Frieden und des Schicksals Glück!
    Auch wenn wir aus dem Leben scheiden,
    er bleibt, er schaut auf uns zurück.

    Spricht Enkel eins zu Enkel zwei:
    da ist, Großvater eins und zwei, der Ring.
    Sind beide tot, die Zeit vorbei.
    Jetzt feiern wir, hier, iss und trink!

     

    Copyright Prof. Dr. Dr. Klaus Kayser

     

  • Ein nahezu rhythmisches Stöhnen schwang in dem sauber geweißten, mit dicht an dicht gestellten Betten gefüllten Saal: drei lange Reihen quer gestellter Pritschen, von denen jeweils zwei direkt aneinander stießen und dann einen kleinen Gang freiließen. In jedem Bett lagen junge Männer, teilweise nahezu regungslos und am Verdämmern. Einige wenige versuchten sich mit Lesen oder einer leisen Unterhaltung mit dem Nachbarn Abwechslung zu verschaffen.

    Die Bettdecken lagen lose und achtlos hingeworfen über den Verletzten. Viele trugen neu angelegte, blutdurchtränkte Binden um Stirn, Arm oder Brust. Bei einigen waren die Augen abgedeckt mit schwarzen Klappen, manchem war der Unterarm durch eine stumpfe Bandage ersetzt.

    Einem etwa 25-jährigen hageren Mann mit Stoppelbart und kurz geschorenem, ein wenig lockigen Haar fehlten beide Beine oberhalb der Knie. Er stöhnte und versuchte sich von der Rückenlage auf die rechte Seite zu drehen. Eine Schwester, gekleidet in schwarzer Ordenskleidung und mit einer weißen Haube, sah seine vergeblichen Bemühungen.

    „Nun bleiben Sie ruhig auf dem Rücken liegen, dann heilen die Wunden schneller. Sie werden schon sehen, in wenigen Tagen ist das Schlimmste überstanden: Die Schmerzen werden weniger werden, bald werden Sie aufstehen können. Dann wird man Sie richtig versorgen“, meinte sie mit einer gütigen, freundlich hell klingenden Stimme.

    „Ach Schwester, was ist schon das Schlimmste?“, fragte der Verwundete und fuhr wie bei einem Selbstgespräch leise klagend fort: „Ich habe ihn gesehen, den bösen und Unheil bringenden Kaltenblick. Ich habe ihn deutlich und klar gesehen und weiß nun, wie der Teufel aussieht, der Deibel, das lächelnde Drachenungeheuer, der Diplomatendämon. Ich habe ihn klar und deutlich gesehen, in seine Augen geschaut, seine Stimme gehört, seine Hand gespürt, seinen fauligen Atem gerochen, seine fadenwurmartige Schrift gelesen.“

    Er machte eine kleine Pause vor Anstrengung, stöhnte leise und versuchte sich nach der Schwester umzudrehen. Sie aber hatte sich sacht abgewandt und war zu einem anderen Bett gegangen, auf dem ein Kranker nach ihr gewinkt hatte.

    Der so allein gelassene beinlose Soldat fuhr fort: „Wie war noch alles in Ordnung vor drei Tagen, an der Front bei Sedan. Wie konnte das alles nur mit mir geschehen? Die Schützengraben waren tief ausgehoben, mit Dreck und Schlamm gefüllt, aber sicher. Seit zwei – oder waren es drei? – Tagen wurde nicht geschossen, weder bei den Franzosen, noch bei uns. Endlich konnte man in Ruhe ohne erschreckende Geräusche schlafen. Warum muss es an der Front immer so laut sein, Knall auf Knall, Schreie, Stöhnen, Kommandos, Motorengeräusche, knallige Musik.

    Diese unerwartet ruhigen Tage waren die angenehmsten in meiner Zeit dort in Frankreich. Warum traf es gerade mich in diesem verrückten Schützengrabenkrieg, der mit dem Blut tausender von Soldaten unverrückbar mit der uns umgebenden Erde verbacken war und gehalten wurde.

    Wie waren wir, ich denke auch die Franzosen, froh über diese Tage der geschenkten Stille, des ruhigen Atmens, der befreienden Besinnung auf sich. Aber, wie so häufig im Leben, diese lebenserhaltende Ruhe wurde jäh beendet und bezahlt mit einem eigentlich völlig unnötigem Gegenwert wie mit meinen Beinen.

    Auch wenn ihr es nicht glaubt, wenn Ihr meint, ich phantasiere im Wundfieber: Kurz vor dem Zerreißen der Stille habe ich den unheilvollen Kaltenblick gesehen. Es war am Morgen des dritten Tages. Kein Regen. Ein schmaler Nebelsaum lag zwischen den beiden Schützengräben, dem, in dem die französischen Feindkameraden, und dem, in dem meine Kriegskameraden Wache hielten und sich belauerten.

    Eigentlich müssten die Franzosen ihn auch gesichtet haben, den Unheil bringenden Kaltenblick. Warum haben sie eigentlich nicht auf ihn geschossen – und warum nicht auch wir, als sich der dickliche, weißhaarige Kaltenblick mitten zwischen den Schützengräben mit Anzug und Krawatte auf einen aufklappbaren Jagdstuhl setzte. Mit dem Rücken nach Süden und dem Gesicht nach Norden, den Franzosen die linke, uns die rechte Seite zugewandt. Er hatte ein rundes, gar nicht so unfreundliches, glatt rasiertes Gesicht, schütteres, grauweißes Haar, rötliche, wahrscheinlich von Bluthochdruck gefärbte Backen.

    Nein, der Teufel muss nicht hässlich und abscheulich aussehen: attraktiv, freundlich und zuvorkommend saß er zwischen den feindlichen Reihen, ruhig und wie unbeteiligt säte er seine Saat.

    Wie war ich damals noch gesund und munter, froh der unerwarteten Stille, nur beschäftigt mit ruhigem Wacheschieben.

    Wenn doch nicht der Nebel gekommen wäre, der sich als schmales Band um Kaltenblick schob und ihn fast unsichtbar machte. Dieser verfluchte Nebel, er war Schuld an all dem Fürchterlichen, was jetzt geschah.

    Kaltenblick schien sich mit Geistern, die sich schemenhaft aus dem Nebel zu ihm hinabbeugten, zu bereden. Er wandte sich zunächst den Franzosen, dann uns zu. Laut rief er mir die Aufforderung zu: „Hei du, Soldat, Hierher! Aber plötzlich! Komm sofort! Das ist ein Befehl!“

    Ich wusste, das ist ein Befehl aus der Hölle.

    Das verfluchte Vaterland ruft! Und dieser Kaltenblick ist ein treuer Diener des Vaterlandes. Wenn der Teufel dem Vaterland dient, dann muss man etwas dagegen unternehmen!, sagte ich mir.

    Ich konnte diesen Gedanken nicht widerstehen. Da saß der so schöne diplomatische Dämon mit seinen vaterländischen Befehlen! Ist seine Hölle so leer, dass er neue Bewohner braucht? Oder will er neue Quälereien für die ungläubigen Ketzer ausprobieren? Nein, lieber Herr Teufel, nicht mit mir! Gott mit uns, aber nicht mit dir! Dem muss man an den Kragen!“

    Ich sprang mit lautem Geschrei aus dem Schützengraben, rannte auf Kaltenblick zu. Nein, nicht auf Kaltenblick, auf die Franzosen, die mich sichtlich überrascht mit ihren Gewehrkugeln empfingen.

    Ich hörte kein Geräusch, keinen Knall, fühlte nur einen schmerzhaften Schlag in den Beinen, fiel hin und verlor das Bewusstsein.

    Als ich wieder aufwachte, kam ein wütend blickender Unteroffizier zu mir, beugte sich über mich und schrie mich an: „Sie Narr, Sie Blödheini! Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?Was fiel Ihnen ein, so wahnhaft aus dem sicheren Graben auf die Franzosen zuzulaufen! Wollten Sie diesen verdammten Krieg ganz allein gewinnen? Das haben Sie nun davon: keine Beine, keine Zukunft! Was meinen Sie, was nach Ihrem Wahnsinnslauf hier los war! Die Hölle, wissen Sie, die wahre Hölle! Besser kann sie der Teufel auch nicht ausrichten! Es hat uns die himmlische Ruhe und mich danach zehn meiner besten Männer gekostet, Sie aus dem Niemandsland zu bergen! Es muss Sie der Teufel geritten haben!“

    „Sehen Sie, Schwester, das ist mein Schicksal! So hat man mich behandelt. Ich wollte kein Held sein, wollte keinen Feind überraschen oder gar töten. Die himmlische Stille hat mich verrückt und einen Teufel aus mir gemacht.“

    Der junge Mann stöhnte, wälzte sich unter einem leisen Aufschrei auf die linke Seite und suchte mit halboffenen Augen die seines Nachbarn.

    „Kamerad, lass es gut sein“, flüsterte dieser. „Kamerad, du bist ein Held. Wer allein unter Angriffsgeschrei aus dem Schützengraben springt, der ist ein Held. Ich hätte so etwas nie fertig gebracht. Freu dich über deine Tat, auch wenn du auf den Teufel hereingefallen bist! Im Krieg gehört alles Gute und Tapfere dem Teufel. Das Böse, Feige und Ungerechte natürlich aus. Es ist wie in der Hölle: Hier herrscht nur der Teufel, Gott hat sich zurückgezogen. Der Teufel ist der Sieger! Bald aber wirst du auch das überstanden haben“, sagte sein kenntnisreicher Blick.

    Der junge Mann stöhnte noch einmal laut auf, legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und fiel in einen nicht endenden Schlaf.

    Verschwommen erkannte er im Einschlafen den Jägerstuhl mit dem alten weißhaarigen Mann zwischen den beiden Schützengräben. Er lächelte ihm milde und wohlwollend zu, so, als habe er für ihn in der Hölle ein stilles Ruhebett reserviert. Dann kam seine Mutter, nahm ihn an die Hand und führte ihn schwerelos in das Bett mit dem gleißenden Dunkel.

    Nach einer Stunde schaute die Schwester mit der weißen Haube vorbei. Sie schob das Bett mit dem jungen Mann aus dem Saal. Es wurde dringend für die neu eingelieferten jungen Männer gebraucht.

    Kaltenblick aber saß noch mehrere Jahre zwischen den Schützengräben, erfreute sich seiner Taten und übte für zukünftige.

    War es Zufall, dass er sich so nah an den Teufel und die himmlischen Gefilde wagte? War es Zufall, dass er sich den deutschen Frontlinien zuwandte und nicht den französischen?

    Ich vermag es nicht zu sagen.


     Copyright Prof. Dr. Dr. Klaus Kayser.

    Dieses Kapitel stammt aus dem Buch „Terror im T-Team“ von Klaus Kayser.  Dieser Link führt zu dem Buch Terror im T-Team.

    Weitere Links zu Büchern von Klaus Kayser: Restrisiko und Körperspender.

    Diese Geschichte wurde beim Jahreskongress des BDSÄ 2013 in Münster vorgetragen zum Thema Konflikt und Chance.

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    Siegmund Kraft wurde 1945 in Bremen geboren. Sein Vater fiel kurz vor Siegmunds Geburt in Russland. Die Mutter, eine Lehrerin, zog den Jungen liebevoll auf. Siegmund entdeckte früh seine Liebe zum Langlauf und lief ein Jahr vor dem Abitur den ersten Marathon. Auch dadurch lernte er, mit Disziplin schwierige Momente zu bewältigen und gegen innere Widerstände bis zum selbst gesetzten Ziel auszuhalten. Seine Mutter erzog ihn im ehrenden Gedanken an den Vater, der ihr immer wie starker Baum erschienen war, an dem sie sich anlehnen konnte.

    Den ersten schweren Schicksalsschlag musste Siegmund verarbeiten, als die Mutter während seines Jurastudiums verstarb. Er beendete sein Studium trotzdem in kürzest möglicher Zeit als Jahrgangsbester. Eine wesentliche Hilfe für seinen Erfolg war sein fotografisches Gedächtnis.

    Nach der Gründung einer Anwaltskanzlei in Bremen heiratete er seine Jugendfreundin Helen. Sie kauften eine Jugendstilvilla, die er mit Helens stilsicherer Hilfe renovieren ließ. Er war als Wirtschaftsanwalt bald weit über die bremischen Grenzen hinaus gefragt. Als der Sohn Felix geboren wurde, strahlten Helen und Siegmund das Bild der perfekten Familie aus.

    Siegmunds Sekretärin Frau Harmsen organisierte den Arbeitsablauf in der Kanzlei ebenso perfekt wie Helen die Familie und den Haushalt. Siegmund arbeitete nach seinem morgendlichen 10-km-Lauf in der Kanzlei oder bei Gericht. Nachmittag und Abend waren dem Aktenstudium und Prozessvorbereitungen gewidmet. Samstag war für Siegmund ein normaler Arbeitstag. Am Sonntagvormittag absolvierte er einen längeren Lauf, der manchmal über die Marathondistanz ging. Die Nachmittage verbrachte er mit Helen und Felix.

    Als Felix zwölf Jahre alt war, wurde er auf dem Gehweg von einem betrunkenen Autofahrer so schwer verletzt, dass er noch im Rettungswagen starb. Siegmund reagierte nach einer kurzen Schockphase äußerlich routiniert, setzte aber seine Wut, Trauer und Verbitterung ein, um den Autofahrer in dem Prozess als gewissenlosen alkoholkranken Menschen darzustellen. Er trug als Nebenkläger dazu bei, dass der Fahrer für die fahrlässige Tötung in Tateinheit mit Trunkenheit am Steuer zur Höchststrafe von vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Die weiter schwelende Trauer betäubte er mit noch mehr Arbeit und Lauftraining.

    Helen dagegen vergrub sich fast den ganzen Tag im Schlafzimmer und vernachlässigte sich und ihre häuslichen Aufgaben. Das Ergebnis einer zuerst ambulanten und später stationären Psychotherapie war aber nur eine funktionierende Frau, die mit ruhiggestellter Mimik und scheinbar gleichgültigem Gemüt die Hausarbeit erledigte. Ein halbes Jahr nach Felix´ Tod fand Siegmund Helen abends totenstarr im Bett. Neben ihr lagen zwei leere Röhrchen Schlaftabletten und eine leere Flasche Rotwein. Der Brief auf dem Nachttisch war kurz: „Liebster, es tut mir leid, ich kann nicht mehr! Ich muss zu Felix. Ich liebe dich. Helen.“

    Siegmund rief erst nach einer halben Stunde den Hausarzt und bat ihn, den Totenschein auszustellen. Er arbeitete weiter verbittert in seiner Kanzlei, hielt die Fassade eines in sich ruhenden Anwalts aufrecht und kam spät nachts in das kalte Haus, wo er nur kurz schlief. Er vermied private Kontakte: Frau Harmsen besorgte für ihn aus einem kleinen Restaurant nebenan Essen und machte ihm in der Kanzlei Frühstück. Die immer frischen Blumen auf seinem Schreibtisch nahm er nicht wahr. So vergingen zwei Jahre.

    Eines Tags nahm Siegmunds bester Freund und Kollege ihn zwischen zwei Gerichtsterminen auf die Seite und sagte: „Siegmund, ich sehe, wie du nach außen hin diese Schicksalsschläge wegsteckst. Du wirkst für viele Bekannte wie eine große Eiche, die bei jedem Tornado steht. Aber ich weiß, wie sehr dich der Verlust von Felix und Helen immer noch plagt. Hast du nicht Lust, am Samstagabend bei uns zu essen?“

    Zu diesem Abendessen kam auch Sofia, Helens beste Freundin, die vor zwei Jahren ihren Mann verloren hatte. Sofia und Siegmund unterhielten sich angeregt, sodass der Abend für beide erholsam und entspannend war. In den folgenden Monaten kamen sich Sofia und Siegmund immer näher. Siegmund konnte sich aus seiner seelischen Erstarrung und verbissenen Arbeit in Sofias Gegenwart lösen und freute sich auf die Treffen. Die Beziehung zwischen Siegmund und Sofia wurde innig und vertraut. Nach einem Jahr heirateten sie.

    Sofia gab der Villa mit einigen ihrer Möbelstücke und Bilder eine persönliche Note. Ihre Liebe zum Garten war an den herrlichen Büschen, Beeten und dem prächtigen Blumenschmuck sichtbar. Sofia begleitete Siegmund am Wochenende bei langen Wanderungen. Sie genossen ihr gemeinsames Leben fünf Jahre harmonisch und dankbar.

    Da Siegmund mehr Zeit für sich und Sofia haben wollte, nahm er Eric Knudsen als Juniorpartner in die Kanzlei auf, der sich rasch einarbeitete.

    Die Katastrophe schlich sich unerbittlich ein. Zuerst fiel Sofia auf, dass Siegmund sich an einem Sonntagmorgen nicht erinnerte, mit ihr eine Wanderung vereinbart zu haben. Auch Frau Harmsen war verblüfft, als Siegmund bei einer Verhandlung in seiner Kanzlei aufstand, eine Tür öffnete und mit der Bemerkung „Das war die falsche Tür!“ wieder schloss und durch die andere Tür zur Toilette ging. Die Vergesslichkeiten und alltäglichen Fehler bei banalen Handlungen häuften sich. Die Krankheit schritt mit zerstörerischer Wucht voran.

    Er blieb oft mitten im Satz stecken, verlor den Faden und verwendete Wörter, die nicht in den Zusammenhang passten. In der Gerichtsverhandlung meldete er sich mehrfach zu Wort, stand auf und – wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Er gab immer mehr Gegenständen die Bezeichnung „das Ding da“. Diese Sprachunsicherheit und die Abflachung des Wortschatzes fielen umso dramatischer auf, weil Siegmund als hervorragender Redner mit druckreifer Sprache und unfehlbarem Gedächtnis bekannt war. Er verlor sogar einen Prozess, weil ihm im richtigen Moment sein bewusst vorbereitetes und entscheidendes Argument nicht einfiel.

    Als Siegmund eine Kreuzung bei roter Ampel überfuhr und von der Polizei gestoppt wurde, stand er wie ein kleiner schuldbewusster Junge da und ließ sich von dem Polizisten zurechtweisen.

    Erst als der Vorsitzende der Anwaltskammer Siegmund eindringlich die möglichen Folgen von Schadensersatzklagen aufgrund von falschen Beratungen schilderte, gab Siegmund nach und verkaufte seinen Anteil der Kanzlei an Eric Knudsen.

    Zuhause füllte Siegmund das Kaffeepulver in den Wasserbehälter und stopfte den Kaffeefilter in die Kanne. Im Bad putzte er sich mit dem Kamm die Zähne und kämmte sich mit der Zahnbürste. Er verirrte sich sogar nachts in seinem eigenen Haus.

    Als er mit dem Messer die Suppe löffeln wollte und nicht mehr wusste, wohin die Suppe geführt werden musste, ging Sofia dazu über, Siegmund zu füttern.

    Bei einer neurologischen Untersuchung zeigte Siegmund eine schwere Störung beim Benennen von Gegenständen und beim Rechnen im Zehnerbereich. Als er eine Uhr mit Zeigern zeichnen oder ein Quadrat und ein Dreieck nachmalen sollte, saß er ratlos mit zitterndem Stift vor dem Blatt und krakelte nur zusammenhanglose Striche aufs Blatt. Der Arzt bat ihn, möglichst rasch viele Gegenstände aufzuzählen, die man in einem Supermarkt kaufen könne. Siegmund dachte lange nach, schließlich fielen ihm Kartoffeln ein, mehr nicht. Die Untersuchungen und die Vorgeschichte sicherten die Diagnose Rasch fortschreitende Alzheimer-Demenz.

    Siegmund konnte dem einfühlsamen Gespräch des Arztes nicht folgen. Als sie die Klinik verließen, fragte er: „Was hat er gesagt? Bin ich krank?“

    Eines Morgens wollte er sich im Schlafzimmer anziehen und wurde wütend, als sie ihm helfen wollte. „Das kann ich allein!“, brauste er auf, „geh ins Wohnzimmer!“ Sie beobachtete ihn durch den offenen Türschlitz und kämpfte mit den Tränen, als sie sah, wie lange er brauchte, um das Hemd so hinzuhalten, dass er es anziehen konnte. Als er nach einer langen Weile erschöpft ins Wohnzimmer kam, hatte er das Unterhemd auf das Hemd angezogen, die Knopfreihe falsch geknöpft, und das Hemd hing teilweise aus der Hose. Einen Socken hatte er vergessen, und die Schuh-bändel waren nicht gebunden. So kam jeden Tag ein neues Vergessen dazu, der Wortschatz wurde kleiner, die Sprache lückenhaft.

    Im Sommer stand Siegmund einmal lange im Garten vor den blühenden Rosen. Sofia fragte: „Woran denkst du?“ Nach einigem Überlegen fragte er: „Ist heute Dienstag oder Dezember?“

    In einem unbeobachteten Moment verließ Siegmund bei strömendem Regen auf Socken das Haus, nur mit Hemd und Hose bekleidet. Sofia fand ihn durchnässt an einer Bushaltestelle. Sie gewöhnte sich deshalb an, die Haustür abzuschließen.

    Eines Nachts wachte Sofia auf, das Bett neben ihr war leer. Sie fand Siegmund innen vor der Haustür stehen. Er war nackt. Sie fragte: „Was machst du hier?“ – „Warte auf den Bus, muss zur Arbeit!“

    Am nächsten Tag sah Sofia, wie Siegmund im Arbeitszimmer mit heruntergelassener Hose auf dem Papierkorb saß. Sofia stieß einen entsetzten Schrei aus. Siegmund fragte ruhig: „Warum schreist du, Mama? Bin auf der Toilette!“ – Sofia hatte er vergessen.

    Sie sah ein, dass sie Siegmund nicht mehr zu Hause pflegen konnte und brachte ihn in einem Pflegeheim in der Nähe unter. Jeder Besuch Sofias war ein neues Erlebnis für ihn, aber es tat ihr weh, jeden Tag zu hören: „Schön, Mama, dass Du endlich kommst!“

    Sie blieb eines Abends wie immer an seinem Bett sitzen und wartete darauf, dass er einschlief. Da atmete er leise ein und aus und ein und aus. – –

    Die Eiche war gefällt.

     

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Diese Geschichte wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2013 in Münster vorgetragen bei der öffentlichen Lesung, zu dem Thema „Als wär´s mein bester Text“

     

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    Schon als Kind litt Peter unter den gnadenlosen Hänseleien seiner Mitschüler. Bei jeder Gelegenheit verspotteten sie ihn wegen seines Übergewichts. Er versuchte, seine Vorliebe für Marzipan zu verbergen. Aber einmal, als er kurzatmig hinter dem Fußball herlief, rief ein Klassenkamerad: „Du brauchst noch ein paar Marzipankugeln, dann wirst du schneller!“ – So hatte Peter seinen Spitznamen weg. Und als dann auch noch einer der Kameraden mit ihm in die Hotelfachschule ging und Peters empfindlichsten Punkt preisgab, wurde Peter dort oft nur Marzipankugel oder in der Hektik des täglichen Betriebs Marzipan gerufen. Peter aß Marzipan in allen Variationen, um sich nach den Kränkungen wohler zu fühlen. Dieser weich schmelzende Geschmack verschaffte ihm wenigstens vorübergehend ein wonnevolles Gefühl der Zärtlichkeit und inneren Ruhe, wenn die geifernden Kollegen und die jungen Mädchen ihn mit abschätzigen Blicken und provozierenden Bemerkungen beleidigten.

    Deshalb hatte er sich eine besonders freundliche, ja fast unterwürfige Art des Umgangs angewöhnt, nicht nur die Höflichkeit, die zum alltäglichen Geschäftsgebaren in der Gastronomie gehört. Er spürte jeden Tag, wie er sich mit der frisch gestärkten Kellnerjacke die dringend nötige Sicherheit anzog und mit der gebügelten weißen Schürze seine Beleibtheit bedeckte, um mehr Beliebtheit zu gewinnen. Er versteckte den angegessenen Schutzpanzer, der ihn vor den Schlägen der Mitmenschen bewahren sollte, so gut es ging. Mit dieser hohen Empfindsamkeit für Schwächen und Verletzlichkeit betreute er auch die Gäste in dem vorzüglichen Lokal, zu dessen Oberkellner er mittlerweile aufgestiegen war.

    Seit einem Jahr kam regelmäßig samstags ein älterer Herr mit seiner jungen Frau zum Abendessen. So attraktiv sie war mit ihren schlicht-eleganten und eng anliegenden Kleidern auf der verführerischen Figur und den weich gewellten, schulterlangen braunen Haaren, die Peters Fantasie zu kühnen Tag- und Nachtträumen verleitete, so demütigend verhielt sich der Mann ihr gegenüber. Bei jeder Gelegenheit nörgelte er an ihr herum, wies sie beim Essen zurecht, kritisierte ihre Aussprache und machte sich über das kesse Lächeln lustig, das Peter verzaubert hatte. Diese groben Unhöflichkeiten waren für Peter schwer zu ertragen. Er tarnte seine Wut über den Mann und seine heimliche Zuneigung für dessen Frau hinter einer antrainierten Fassade von Höflichkeit und Dienstbereitschaft.

    Was er aber nicht verbergen konnte, war das Leuchten in seinen Augen, wenn die Dame ihn beim Kommen und Gehen mit einem geradezu herzlichen Blick grüßte. Peter musste darauf achten, dass seine Freude darüber nicht allzu offensichtlich und verräterisch wurde.

    Und war es Zufall, dass diese sonst so achtsame und wohl erzogene Dame die Serviette vom Schoß ihres elegant geschnittenen Kleides rutschen ließ? Sie berührte Peter im flüchtigen Vorbeigleiten mit ihren schlanken Fingern an der Hand, als er mit eiliger Geste die Serviette vom Boden aufhob und ihr mit leicht errötetem Gesicht reichte. War das ein Zeichen der zarten Annäherung? Täuschte er sich auch nicht? Es konnte doch gar nicht sein, dass diese vornehme Dame – und dazu noch in Gegenwart ihres Mannes! – ihm, dieser abstoßenden Marzipankugel, Sympathie zeigte! Und doch schwankte er zwischen bangem Hoffen und tief sitzendem Selbstzweifel. Er spürte ihre Zärtlichkeit, sah ihren kurzen und doch innigen Blick, der sofort kalt wurde, wenn er in die trägen Augen des Ehemannes traf.

    Immer wenn die Sekretärin des Mannes einen Tisch für das Paar reservierte, begann Peter auf den sanften Wolken der Vorfreude zu schweben, weil er dann wieder seinen weiblichen Lieblingsgast am angestammten Platz bedienen und ihre Nähe genießen durfte. Peter hatte mehrfach gehört, wie der Mann seine Frau mit Helene ansprach. Und Peter bemerkte, dass er in Gedanken längst nur von Helene sprach und sie nicht mehr mit ihrem Familienname in Verbindung brachte. Zu der offiziellen Anrede musste er sich im Restaurant ganz bewusst überwinden, um ja keine Indiskretion oder Unhöflichkeit zu begehen.

    Eines Tages, als Peter an der Kasse etwas buchte, hörte er einen leisen, aber unüberhörbar scharfen Wortwechsel zwischen dem Paar. Er spitzte seine Ohren, um zu lauschen, aber er hörte nur, wie Helene ihren Mann anzischte: „Na, dann eben nicht!“

    Der Ehemann verlangte kurz angebunden die Rechnung, bezahlte, und das Paar verließ rasch das Lokal. Dabei eilte der Mann achtlos voraus, sodass Peter Helene den Mantel reichen, galant die Tür öffnen und sich besonders freundlich verabschieden konnte: „Es war sehr schön, Sie wieder als Gast zu haben!“, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und war sich bewusst, dass er nur Helene und nicht ihren Mann meinte. Offensichtlich hatte sie das auch so verstanden, denn sie nickte, lächelte in ihrer unwiderstehlichen Art und flüsterte: „Ich komme auch gern zu Ihnen!“ Und ganz leise, sodass Peter es gerade noch hören konnte, fügte sie hinzu: „Tut mir leid wegen gerade!“ Dann drehte sie sich um und ging in der klirrenden Januar-Kälte zum Auto.

    Peter blieb etwas verwirrt zurück. Sie kommt gern zu mir! Sie hat meine Hand berührt! Und dieser Blick! Sogar mehrfach! Peter lag lange wach in dieser Nacht und wollte seiner Fantasie freien Lauf lassen, aber die anerzogene Disziplin hemmte ihn, sich Wunschbilder auszumalen oder hoffnungsvolle Gefühle zuzulassen.

    Dann geschah etwas Unerwartetes: Das Paar kam nicht wieder. Peter empfand Helenes Ausbleiben als schwer zu ertragende Trennung. Er schaute sogar in ruhigen Momenten das Telefon an und erwartete mit dem nächsten Anruf die Reservierung für Samstag. Peter versuchte immer, den Platz für Helene freizuhalten. So vergingen einige Monate, in denen Peter sich mit Erinnerungen an sie tröstete.

    Eines Tages, als er im warmen Frühsommer beim Einkaufen war, sah er sie auf dem Gehsteig entgegenkommen: Das lange Haar mit einem roten Stirnband gefasst, ein roter, eng anliegender Sommerpulli, ein weißer weiter Rock und die schlanken Beine in passend roten, halbhohen Schuhen, eine weiße Tasche hing locker über der Schulter. Sein Herz schlug schneller, seine Schritte beschleunigten sich. Er spürte, wie eine Welle der zärtlichen Freude seinen ganzen Körper überrollte und erwärmte. Dann ging er entschlossen auf Helene zu und sah ihren erfreuten Blick, als sie ihn wahrnahm. Sie blieben voreinander stehen. Nach einem kurzen Moment der Stille, in der nur die beiden Augenpaare ein Glückslied sangen, hörte Peter wie von fern seine eigene zärtliche Stimme: „Es ist wunderbar, dass ich Sie sehe. Ich habe Sie sehr vermisst.“ –

    Helene neigte den schlanken Kopf zur Seite und lächelte in ihrer charmanten Art, die Peter immer verzückt hatte: „Ich freue mich auch!“ Dann deutete sie auf ihren rechten Ringfinger, wo Peter keinen Ehering mehr sah und fragte: „Können Sie es so verstehen?“

    Peter holte etwas erschrocken Luft. Es klang wie ein erleichterter Seufzer: „Oh ja, das kann ich gut verstehen.“ Bevor er darüber nachdenken konnte, deutete er auf die freien kleinen Tische des Straßencafés neben sich: „Darf ich Sie zu einem Cappuccino einladen?“ – Sie strahlte ihn an: „Ja gern, warum eigentlich nicht!“

     

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Diese Geschichte wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2013 in Münster vorgetragen zum Thema „Besondere Charaktere“.

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    Heinrich Klarsen wurde im August 1890 auf einem kleinen Gehöft in Holstein geboren. Die Frau des Gutsbesitzers half Heinrichs Mutter Klara bei der Geburt. Klara Klarsen war ein paar Monate vorher als Magd auf den Hof gekommen, nachdem ihr Arbeitgeber in Hamburg, ein junger und wohlhabender Bankier, ihre Dienste als Hausangestellte zu sehr in Anspruch genommen hatte und Klara schwanger geworden war. Da der Schein der untadeligen Familienverhältnisse gewahrt werden musste, sorgte die Bankiersfrau für den Umzug der Schwangeren und einen Abbruch der Beziehungen.

    Heinrich Klarsen wuchs in der dörflichen Gemeinschaft auf und musste immer wieder von seinen Kameraden spöttische Bemerkungen ertragen, da er keinen Vater habe. Seine Mutter erklärte ihm ebenso regelmäßig, der Vater sei schon vor Heinrichs Geburt bei einem Unfall gestorben. Heinrich war ein guter Schüler, besonders die naturwissenschaftlichen Fächer interessierten ihn sehr, sodass er im benachbarten Husum ins Gymnasium gehen durfte.

    Nach dem Abitur zog Heinrich nach Hamburg, um sich dort eine Ausbildungsstelle zu suchen, da die Mutter kein Studium bezahlen konnte. Er fand eine Privatbank, in der er einen Ausbildungsvertrag zum Bankkaufmann erhielt. Als er diesen Vertrag seiner Mutter zur Unterschrift vorlegte, denn Heinrich war noch nicht volljährig, sah er überrascht, wie ihr Gesicht plötzlich rot wurde, als sie den Briefkopf und die Unterschrift unter dem Vertrag sah.

    „Was ist mit dir?“, wollte er wissen. Sie drehte ihren Kopf weg und sagte nach einer kurzen Bedenkpause: „Ich freue mich sehr für dich, die Rosenzweig-Bank ist eine gute Bank!“

    Heinrich Klarsen erlebte eine erfolgreiche Ausbildung. Rosenzweig erteilte ihm oft schwierige Aufträge, die Klarsen stets zuverlässig erledigte. Manchmal stellte Rosenzweig sogar private Fragen, auch zu Klarsens Mutter. Als er hörte, dass es ihr gut gehe und sie in der Nähe von Husum lebe, fragte Rosenzweig auch einmal nach Klarsens Vater. Der sei schon ganz jung bei einem Unfall verstorben, antwortete Klarsen und wunderte sich, warum Rosenzweig sich plötzlich hustend abwandte.

    Da Klarsen wegen seiner Leistungen in der Bank bald einen guten Ruf besaß und seine Hilfsbereitschaft geschätzt wurde, gelang ihm der Aufstieg zum Abteilungsleiter. Er genoss das volle Vertrauen Rosenzweigs. Dieser erreichte sogar, dass Klarsen im 1. Weltkrieg wegen Unabkömmlichkeit nicht eingezogen wurde und weiter in der Bank arbeiten konnte.

    Klarsen gründete mit der Tochter eines reichen Hamburger Kaufmanns eine Familie, die mit zwei gesunden Kindern beschenkt wurde. Er unterstützte seine Mutter großzügig, hatte einige ehrenamtliche Posten inne und war Mitglied des Stadtrats. Er schuf sich als Vizedirektor der Bank einen angesehenen Platz in der Gesellschaft. In der Bank überließ Rosenzweig ihm immer mehr Entscheidungen und zog sich langsam vom täglichen Geschäft zurück. Es wurde angesichts des guten Vertrauensverhältnisses der beiden Herrn allgemein erwartet, dass Klarsen beim Ausscheiden des alten Rosenzweig dessen Platz als Direktor einnimmt.

    Als die braune Partei immer größer und mächtiger wurde, führte Heinrich Klarsen die Bank zielsicher parteikonform und machte sich bei den wichtigen Politikern unverzichtbar, indem er Gelder für Parteizwecke günstig zur Verfügung stellte und Politkonten gewinnbringend führte. Um seine Einstellung auch nach außen sichtbar zu machen, ließ er sich weiße Hemden mit braunem Rand am Kragen schneidern und trug eine Brille mit braunen Bügeln und brauner Glasumrandung. Zu allem Überfluss bevorzugte er braune Hüte und braune Anzüge in verschiedenen Schattierungen. Seine öffentlichen Reden waren linientreu und brillant, und man sprach an den Stammtischen darüber, er sei zu einem höheren Finanzposten bestimmt.

    Im Stillen aber machte es Klarsen zu schaffen, dass Rosenzweig, nur weil er Jude war, von der Vision des ewigen braunen Reichs ausgeschlossen werden sollte. Klarsen konnte nicht verstehen und es widerstrebte ihm zutiefst, dass dieser sympathische Bankier, der ihn so wohlwollend gefördert hatte, ein Volksschädling sein sollte. Klarsen litt unter dem Konflikt, denn er hätte Rosenzweig angreifen und aus der Bank drängen müssen, wenn er nach den offiziellen politischen Regeln und seinen eigenen Reden gehandelt hätte. Denn der Führer forderte die Vertreibung der Juden und eine rücksichtslose Endreinigung des Volkes. Hitler überzeugte mit hetzenden Reden die Massen davon, dass Unterdrückung und Ausrottung der Gegner den eigenen Wert hebt und sichert. Klarsen wusste: Das Endziel fordert Opfer, auf Einzelschicksale kann keine Rücksicht genommen werden. Er behandelte Rosenzweig aber weiterhin mit Hochachtung und Dankbarkeit wie vor der braunen Ära. Und beide waren klug genug, politischen Diskussionen in der Bank aus dem Weg zu gehen.

    Als die zunehmende antijüdische Hetze nicht mehr zu überspielen war, versammelte Rosenzweig an seinem 70. Geburtstag die Belegschaft der Bank in seinem Arbeitszimmer und hielt eine kleine Ansprache, in der er sein Leben als Bankier kurz zusammenfasste. Er endete mit dem Satz: „Da meine Frau und ich …“, da stockte seine Stimme, und er fuhr nach kurzem Schlucken fort, „leider keine Kinder haben, übereigne ich mein Lebenswerk voll Vertrauen an unseren verdienten langjährigen Mitarbeiter und Vizedirektor Heinrich Klarsen und wünsche ihm und uns, dass er auch in den kommenden Jahren dieses Haus erfolgreich führt, das ab jetzt den Namen Klarsen-Bank tragen wird.“ –

    Im allgemeinen Beifall klangen die Sektgläser hell. Viele der Anwesenden wunderten sich über die kampflose Resignation des sonst so durchsetzungskräftigen Bankiers, andere schätzten ihn wegen der würdevollen Haltung, die er angesichts der hoffnungslosen Lage für Juden und für jüdische Bankiers im Besonderen bewahrte. Zur Erleichterung der Angestellten blieb die friedliche Fassade der Enteignung gewahrt, und Rosenzweig machte im Überschwang seiner Gefühle einen zaghaften Versuch, seinen Nachfolger zu umarmen. Dann verabschiedete sich Rosenzweig feierlich und in aller Ruhe von jedem einzelnen Angestellten, denen die Tränen in den Augen standen. Ab diesem Tag erschien er nicht mehr in der Bank.

    Nach einigen Monaten erhielt Klarsen einen Anruf von Frau Rosenzweig, die er auch nach all den Jahren nicht kannte. Er hatte sie nie in der Bank gesehen, nie mit ihr gesprochen und immer gewürdigt, wie strikt sein Chef Geschäftliches von Privatem trennte. Klarsen war auch nie im Hause Rosenzweig eingeladen gewesen. Frau Rosenzweig sagte freundlich und kurz: „Herr Klarsen, mein Mann bittet Sie, so rasch wie möglich zu uns nach Hause zu kommen. Es geht ihm nicht gut.“

    Heinrich Klarsen spürte die Dringlichkeit der Bitte wie einen Befehl und reagierte spontan: „Ich komme sofort!“ Er ließ den Chauffeur vorfahren und war nach wenigen Minuten an der Villa Rosenzweig. Frau Rosenzweig begrüßte ihn: „Es ist gut, dass ich Sie nach so vielen Jahren jetzt kennenlerne. Mein Mann möchte mit Ihnen reden!“ Sie führte Heinrich Klarsen ins Schlafzimmer. Dort saß Shlomo Rosenzweig blass im Sessel an einem kleinen Tisch, atmete schwer mit schmalen blauen Lippen und streckte Klarsen die knochige Hand zum Gruß hin. Klarsen erschrak, wie abgemagert Rosenzweig aussah. Aber er ließ sich nichts anmerken und grüßte zackig: „Heil Hitler!“ –

    Shlomo Rosenzweig lächelte verzwungen und sagte leise: „Lassen Sie das hier in diesem Haus! Vergessen Sie einen Moment die Politik. Ich will mit Heinrich Klarsen reden, nicht mit dem braunen Politiker! Setzen Sie sich zu mir!“

    Klarsen ließ sich in den Sessel sinken.

    Rosenzweig schaute ihn ruhig an, dann sagte er: „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Ich habe Lungenkrebs und nicht mehr lange zu leben. Ich will mein Leben aufräumen, und dazu gehört dieses Gespräch. Ist Ihnen in all den Jahren aufgefallen, dass ich Sie besonders geschätzt und gefördert habe?“

    „Ja natürlich, dafür bin ich sehr dankbar.“ Klarsen lächelte seinen Mentor herzlich an, der weitersprach: „Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass Sie ein tüchtiger Bankier und in der Tiefe Ihres Herzens ein guter Mann sind! Es hat noch einen anderen Grund.“

    Klarsen beugte sich überrascht vor: „Welchen?“

    Rosenzweig holte tief Luft, und Klarsen sah Tränen in den Augen des alten Herrn. Mit brüchiger Stimme sagte Rosenzweig: „Heinrich, du bist mein Sohn!“

    Der Widerspruch kam sofort und mit entschiedener Stimme: „Sie wissen, das kann gar nicht sein, mein Vater ist vor meiner Geburt gestorben!“

    Rosenzweig bekräftigte sanft: „Doch, ich bin dein Vater. Und jetzt erzähle ich dir die Geschichte. Erst dann kann ich ruhig sterben!“ –

    Klarsen sah, wie im Hintergrund Frau Rosenzweig leise eintrat, am Türrahmen stehen bleib und aufmerksam beobachtete, wie ihr Mann ruhig und gefasst, weil innerlich seit langem auf dieses Gespräch vorbereitet, seinem Sohn beichtete.

    Rosenzweig schloss mit den Sätzen: „In all den Jahren hat meine Frau zu mir gehalten, weil sie mich wirklich liebt, und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Ich bin glücklich, dass du zu mir geführt wurdest und ich erleben durfte, wie mein Sohn zielstrebig seinen beruflichen Weg macht. Auch deshalb habe ich dir gern unsere Bank überlassen, nachdem ich alt bin und die antijüdische Polemik mir den Boden zum Leben entzieht. Ich weiß, dass du mein Lebenswerk gut weiterführst, wenn auch unter anderen Gesichtspunkten, als ich es bis jetzt getan habe. Ich habe nie über unsere Verwandtschaft gesprochen, weil ich dich nicht mit meiner Vergangenheit belasten wollte. Ich hoffe, Du kannst mir das verzeihen.“

    Er machte eine Pause, um wieder ruhig durchzuatmen und seine Stimme fester werden zu lassen. Das Gespräch strengte ihn sehr an. Klarsen war so betroffen von dem Geständnis seines Vaters, dass er, der sonst so schlagfertige Diskussionsredner, noch kein Wort sagen konnte. Dann begann Rosenzweig noch einmal:

    „Aber jetzt an meinem Lebensende und in der momentanen politischen Situation muss ich dir sagen, dass du Halbjude bist. Wie du das mit deinem politischen Engagement in Zukunft vereinbarst, musst du selbst klären. Du bist mit deiner Familie in großer Gefahr, wenn unsere Geschichte entdeckt wird.“

    Rosenzweig legte seine bleiche, warme Hand auf Klarsens Hand: „Bitte schütze deine Familie und meine Enkel! Und grüße deine Mutter von mir. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie dich so gut erzogen hat. Ich verspreche dir, dass von uns beiden“, er deutete auf seine Frau und sich, „keiner etwas über deine Abstammung erfährt. Aber in meinem Herzen bleibst du mein Sohn!“

    Rosenzweig breitete seine Arme aus. Klarsen hatte bewegungslos und stumm zugehört, aber jetzt löste er sich langsam aus seiner Starre, kniete vor den Sessel und nahm seinen Vater herzlich in die Arme. Nach einer sehr langen Weile lösten sich die beiden Männer von einander, und Rosenzweig sagte: „Ich bin sehr erschöpft, aber auch sehr froh, dass ich dir mein Geheimnis anvertrauen konnte, das jetzt auch deines ist. Bitte lass mich jetzt allein. Aber bitte komm bald wieder. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Du und deine Frau Erika und meine Enkel sind immer sehr herzlich hier willkommen. Shalom!“

    Klarsen zuckte zusammen, denn Shalom hatte er noch nie aus dem Mund seines Vaters gehört, und gerade in dieser Situation spürte er das Wort Friede als sehr zwiespältig, so aufgewühlt fühlte er sich und so fremd klang diese Provokation aus jüdischem Mund in seinen Ohren, die nur Naziparolen gewohnt waren. Er beherrschte sich aber, schaute seinem Vater direkt in die Augen, nickte mit einem leisen „Alles Gute!“, lächelte wie in Trance im Vorbeigehen auch einen freundlichen Gruß zu Frau Rosenzweig und verließ nachdenklich das Haus.

    Erst als er im anfahrenden Auto die Augen schloss und tief durchatmete, spürte er seinen rasenden Puls, und Fragen, Gedanken und Bilder explodierten in seinem Kopf: „Ich gehöre zu denen, die ich immer öffentlich verdammt habe! Wie bringe ich das Erika und den Kindern bei? Wie kann ich sie vor Nachstellungen schützen? Können sie das Geheimnis für sich behalten? Die Kinder sind in der Hitlerjugend völlig auf Linie gebracht, sie werden sich verplappern oder mich vielleicht sogar verraten! Soll ich es überhaupt erzählen? Ich muss es irgendwie erklären, wenn ich Konsequenzen ziehe, die sie betreffen. Auf jeden Fall muss Erika wissen, was Rosenzweig mir gestanden hat! Erika schätzt Rosenzweig als Bankier und Mensch, aber dass er mein Vater ist, ändert die Situation in der Familie total! Was geschieht, wenn ich das Geheimnis für mich behalte und auch Erika nichts sage? Kann ich das durchhalten mit allen Konsequenzen? Ich kann doch Erika so etwas Wichtiges nicht verschweigen! Aber wenn es uns doch vielleicht rettet?!“

    Klarsen spürte das Hemd schweißnass an seinem Rücken kleben und wischte sich die feuchte Stirn ab.

    „Was sagt Erikas Vater? Ich sehe und höre ihn schon toben! Ich kann meine Glaubwürdigkeit in der Partei nicht retten, wenn herauskommt, dass ich Halbjude bin! Ich muss alle meine Ämter niederlegen und werde mit Schimpf und Schande verjagt! Noch schlimmer: Was ist mit den Judentransporten, von denen immer wieder gemunkelt wird? Betrifft uns das auch? Wie kann ich unsere Leben retten? Wie kann ich unser Vermögen in Sicherheit bringen? Fliehen oder dableiben und kämpfen? Familie oder Partei? Kann ich weiter eine Beziehung zu meinem Vater pflegen? Wie lange lebt er noch? Sollen wir zu sechst gemeinsam fliehen? Geld hätte ich genug. Was mache ich mit Mutter? Sollen wir sie mitnehmen? Wohin sollen wir fliehen? Wie viel Zeit habe ich, um Pläne zu machen und unsere Rettung vorzubereiten?“

    Er sah schon die Schlagzeilen und sein Bild in den Zeitungen: „Klarsen ist ein verlogener Halbjude!“, „Klarsen als Bastard entlarvt!“, „Bankier mit unterschlagenem Vermögen auf der Flucht!“, „Unverschämter jüdischer Komplott in der Klarsen–Bank!“

    Kurz bevor Klarsen an der Bank ankam und völlig verwirrt war von dem Gedankengewitter in seinem Kopf, sagte er gefasst zum Fahrer: „Ich bin etwas durcheinander. Bitte bringen Sie mich an die Alster, wo ich möglichst niemandem begegne. Ich muss bei einem Spaziergang nachdenken und dann eine wichtige Entscheidung fällen!“

     

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Diese Geschichte wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2013 in Münster vorgetragen zum Thema „Konflikt als Chance“.

     

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    Hartmut Haller fährt zu seinem Postfach. Da er heute 65. Geburtstag hat, findet er sogar mehrere Briefe und Karten in dem Fach. Er schaut sie rasch durch. Da steht auf einem Brief seine Anschrift mit grüner Tinte geschrieben, kein Absender. Aber sofort erkennt er diese charakteristische Schrift! ELISABETH!

    Er spürt eine Welle der Freude und gleichzeitig einen Schauer, der wie ein eiskalter Wasserguss die auflodernde Begeisterung löscht. Das Zittern in seinen Händen wird stärker. Während er mit dem Aufzug in die fünfte Etage des Seniorenheims fährt, sind seine Augen geschlossen. Bilder fliegen vorbei: Elisabeth vor 40 Jahren bei dem Hauskonzert von Professor Weise, als sie einander kennen lernten. Elisabeth, die bildhübsche Studentin, schlank mit lockenden Rundungen und eleganten Bewegungen; die schwarzen langen Haare, das bezaubernde Lächeln und die Grübchen in den Wangen! Damals war er schüchtern und unsicher. Doch dann hörte der Professor ihn Violine spielen und ermunterte ihn, sein Jurastudium aufzugeben und Musiker zu werden. Der Professor und Elisabeth entschieden über sein Leben! Haller wurde Musiker und überwand viele Selbstzweifel.

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  • Einmal nur

    Einmal nur durch Frühlingslüfte fliegen,
    einmal nur ganz kampflos siegen,
    grundlos alle Nächsten lieben,
    gold´ne Worte mit den Sinnen sieben,
    Sätze mit dem Herzen führen,
    Frieden ohne Hader spüren.
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