Monat: Mai 2015

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    Vom Alter im Altertum.
    Mit Texten und Bildern auf den Spuren einer „unheilbaren Krankheit“

     

    Zur Einstimmung seien ein paar Zeilen aus Elisabeth Herrmann-Otto, Die Ambivalenz des Alters[1], referiert:

    Während in Sparta, einem oligarchischen Staatswesen, den mächtigen Alten uneingeschränkte Anerkennung zuteil wurde, hing in Rom, sowohl unter republikanischer als auch monarchischer Führung, alles von der sozialen Schicht ab. Für den geistig gesunden Angehörigen der Oberschicht gab es gleitenden Ruhestand, private Altersversorgung und hohe Wertschätzung. Die Mitglieder der Unterschicht dagegen hatten weder Ruhestand noch Altersversorgung zu erwarten. Ihnen drohten Armut und Verachtung.

    Im demokratischen Athen dominiert der Kult der Jugend und der Männlichkeit, der die politische, soziale und ökonomische Marginalisierung der Alten, insbesondere der alten Frauen, zur Folge hat. Die unnützen Alten werden mit unzureichender Versorgung schutz- und fast rechtlos auf ihr nahendes Ende verwiesen. Zitat Ende.

    Es ist Seneca, der feststellt: Senectus enim insanabilis morbus est, das Alter nämlich ist eine unheilbare Krankheit[2]. Aristoteles sieht darin eine natürliche Krankheit – νόσος φυσική[3], eine Art Austrocknungsprozess, ähnlich dem Verwelken der Pflanzen.

     

    „Mir furchte bereits hier, da und dort
    tief meine Haut das Alter
    … weiß wurde das Haar,…
    …nicht tragen mich mehr die Knie
    …und tanzen so leicht wie Rehe.“

    klagt Sappho[4], die doch der Schönheit so leidenschaftlich zugetan ist, denn
    „…euch, ihr Schönen, wird sich mein Sinn und Fühlen niemals entfremden.“

    Wamser-Krasznai-Vom Alter -Bild 1 Die Greisin

     

    Bild 1. Die Baseler Greisin
    Antikenmuseum und Sammlung Ludwig (Photo Verf.[5])

     

    Auch der Spartaner Tyrtaios ruft aus: die Älteren, die schon keine flinken Knie mehr haben, lasst sie nicht im Stich….[6]                                

    Und noch einmal die Knie, die nicht nur den beiden lyrischen Poeten, sondern auch dem Epiker Homer als Sitz und Sinnbild der jugendlich-raschen Fortbewegung gelten; Agamemnon spricht zum greisen Nestor die geflügelten Worte:
    „Alter, würden doch so, wie dir der Mut in der Brust ist,
    Deine Knie auch folgen, und wäre die Kraft dir beständig!“[7]

    Wir bleiben bei der Ilias und hören die Klage des Priamos:
    „Dem Jüngling gereicht noch alles zur Zierde,

    jedoch das graue Haupt und das Kinn das ergraute,

    … das ist wohl das kläglichste Bild für die elenden Menschen.“[8]

     

    Nicht alle antiken Autoren äußern sich so negativ über das Alter. Für Salomo sind „Graue Haare … eine Krone der Ehre; auf dem Weg der Gerechtigkeit wird sie gefunden“[9]. Ebenfalls ermutigend klingt es bei Solon: „Wird auch silbern mein Haar, lern‘ ich doch immer noch vieles“[10].

    Sehen wir einmal, wem graue Haare zur Ehre gereichen. Da ist Nestor mit seinem vielfältig klugen Rat, der die Achäer, die im Zorn auf einander entbrennen, mit honigsüßer[11] Rede besänftigt.

     

    „Doch nicht alles zugleich gewähren die Götter den Menschen.

    War ich ein Jüngling vordem, so drückt mich heute das Alter.

    Aber auch so begleit‘ ich die Kämpfenden noch und ermahne

    Sie mit Worten und Rat, denn das ist das Vorrecht des Alters.“[12]

    Wamser-Krasznai - Vom Alter - Bild 2 - Die Greise Nestor und Phoinix

     

    Bild 2. Die Greise Nestor und Phoinix finden den toten Aias

    (nach Simon[13]1981, 51 f. Abb. 28)

     

    Auch der Gegner im troianischen Krieg, König Priamos, wird als würdiger Greis dargestellt. Gebeugt stützt er sich auf seinen Stab; das schüttere Haar ist grau.

    Wamser-Krasznai - Bild 3 - Kriegers Abschied

    Bild 3. Kriegers Abschied (nach Simon 1981, 101 Abb. 112)

     

    Seine Gemahlin Hekabe, die ihm gegenüber steht, prangt in jugendlicher Schönheit. Sie ist es auch, die ihrem Abschied nehmenden Sohn Hektor die Waffen reicht.

    Bekanntlich unterliegt Hektor im Zweikampf dem Griechen Achilleus.

    Zuvor jedoch war Patroklos im Kampf gegen Hektor gefallen. Maßlos in seiner Trauer um den geliebten Freund lässt Achill sich nicht damit genügen, den Feind getötet zu haben.

     

    Er „… ersann dem göttlichen Hektor schmähliche Dinge.

    Denn er durchbohrte ihm hinten an beiden Füßen die Sehnen

    Zwischen Knöchel und Ferse …

    Band am Wagen sie fest und ließ den Kopf dabei schleifen.…“[14]

     

    Zum unaussprechlichen Schmerz des Elternpaares Priamos und Hekabe, die von den Zinnen Trojas auf die unwürdige Szene blicken, schleift der Sieger den Toten von der Stadt bis zu den Zelten der Griechen. Dann liegt der Leichnam unter der Kline des zechenden und schmausenden Achilleus. Um den Sohn würdig bestatten zu können, erniedrigt sich der greise Priamos so weit, daß er sich, vom Götterboten  Hermes geleitet, mit Wagenladungen voll Lösegeld dem Feind demütig bittend naht. Wen wundert es, daß Christa Wolf ihre Kassandra stereotyp wiederholen lässt: „Achill das Vieh“[15]

    Wamser-Krasznai - Bild 4 - Priamos vor Achill

    Bild 4. Priamos vor Achill (nach Simon 1981, 112 f. 146)

     

    Doch endlich „sich des grauen Hauptes erbarmend und Kinnes, des grauen,“[16]

    gibt Achilleus den Leichnam frei, sodaß ihn der Vater bestatten kann.

     

    Ein Beispiel rührender Sohnesliebe gibt der Troianer Aenaeas[17], der seinen greisen Vater schulternd und den Sohn an der Hand führend die brennende Stadt verlässt.

    Wamser-Krasznai -Bild 5 - Terrakottagruppe aus Pompeji

    Bild 5.  Terrakottagruppe aus Pompeji

    (nach von Rohden 1880, 48 f. Taf. 37 a)

     

    Wir haben gesehen, dass Alterszüge einer hochgestellten Frau wie Hekabe, der Gemahlin des Priamos, nicht zukommen. Auch Heroen altern nicht. Während Homer wortreich schildert, wie die Göttin Athena den Odysseus aus taktischem Kalkül in einen alten Mann verwandelt,

     

    „Sprach‘s und berührte ihn mit dem Zauberstabe, Athene,

    Und ließ schrumpfen die schöne Haut der geschmeidigen Glieder,

    Tilgte am Haupte die braunen Haare und legte dann ringsum

    Ihm um all seine Glieder die runzlige Haut eines Greises.

    Und sie machte die Augen ihm trüb, die früher so schönen;

    dass du unansehnlich erscheinst“ …[18]

     

    behält der Heros in der bildlichen Darstellung sein jugendliches Aussehen.

    Wamser-Krasznai - Bild 6 -Eurykleia bei der Fußwaschung

                                    Bild 6. Eurykleia bei der Fußwaschung

    (nach Furtwängler – Reichhold 1904, Taf. 142; Pfisterer-Haas 2009, Abb. 25)

    Die Amme Eurykleia ist seit der Abreise des Odysseus ebenfalls um 20 Jahre gealtert. Graues Haar und ein faltiger Hals legen Zeugnis davon ab. Darstellungen von Alterszügen, die man bei Heroen möglichst vermeidet, sind bei Dienerinnen statthaft. Während der Fußwaschung erkennt Eurykleia ihren Herrn an einer alten Narbe. Odysseus kann sie gerade noch daran hindern, in ihrer Begeisterung sein Inkognito zu verraten.

     

    „Mütterchen, willst du mich denn verderben? Du hast mich an deiner

    Brust doch selber gestillt; nach viel überstandenen Mühen

    Kam ich im zwanzigsten Jahr zurück ins Land meiner Väter.“[19]

     

    Frauen, die von ihrer Hände oder anderer Körperteile Arbeit leben, wurden ohne Weiteres realistisch, als hässlich, alt, verkommen, dargestellt. Unter den negativ konnotierten Eigenschaften, die man alten Frauen – und zwar nicht nur Hetären und Dienerinnen, sondern auch alten Bürgerinnen[20] – zuschrieb, war am häufigsten die übermäßige Liebe zum Wein, ein beliebter Topos seit  spätarchaischer Zeit bis in die Spätantike, sowohl in der Literatur als auch in der darstellenden Kunst[21]. Schilderungen weiblicher Trunksucht erregten gleichermaßen Heiterkeit und Verachtung.

    „Von jenem Myron, der als Bronzebildner berühmt ist, steht eine alte Betrunkene (anus ebria) in Smyrna“[22]. Das hellenistische Werk des 3. Jhs. v. Chr. ist in römischen Kopien des 1. und 2. Jhs. n. Chr. überliefert.

    Wamser-KRasznai - Bild 7 - Trunkene Alte Rom                   Wamser -Krasznai - Vom Alter -Bild 8 -Trunkene Alte München                                                                                                                                                                                                              

    Bild 7. Trunkene Alte, Rom                            Bild 8. Trunkene Alte, München

    Kapitolinische Museen                                              Glyptothek

    (Photos Verf.)

    Die alte Frau hockt auf der Erde, eine bauchige Weinflasche (Lagynos) liebevoll, als wäre sie ein Kind, in den Armen haltend. Der angehobene Kopf ist haltlos zur Seite gesunken, der Mund – lallend vermutlich – geöffnet. Tiefe Furchen durchziehen die schlaffen Wangen. Mit unbarmherzigem Verismus[23] hat der Bildhauer Muskelstränge, Schlüsselbeine und Rippen unter der papierdünnen Haut des abgezehrten Körpers wiedergegeben. Die umfangreiche Flasche und das Niedersitzen am Boden deuten möglicherweise auf eine Teilnehmerin an den Lagynophorien hin[24]. Eine Efeuranke, die als plastisches Relief die Schulter des Gefäßes schmückt, weist in den Bereich des Weingottes. War die alte Säuferin in ihren besseren Jahren eine Priesterin des Dionysos[25] oder eine betagte Nymphe, „das heißt eine dionysische Amme“[26]? Im Haltungsmotiv einen Rückgriff auf den Typus des spreizbeinig hockenden Satyrn zu sehen[27] kann im Hinblick auf die beiden großplastischen Marmorfiguren nicht befriedigen, denn die Sitzende hält trotz der verlorenen Kontrolle über Mimik und Halsmuskulatur ihre Beine schicklich gekreuzt (Bild 7). Anders als die zahlreichen Terrakottastatuetten und figürlichen Gefäße, die lediglich das beliebte Thema der trunksüchtigen Vettel reflektieren, lassen die Marmorstatuen weitere bedeutsame Details erkennen: das sorgfältig geknüpfte Kopftuch und die elegante Drapierung der fein gefältelten stoffreichen Gewänder. Der herabgeglittene Träger, ein aphrodisisches Entblößungsmotiv[28], legt jedoch statt einer wohlgeformten, die Sinne stimulierenden Rundung von Schulter und Busen den kachektischen Oberkörper einer völlig heruntergekommenen Alten frei (Bild 8).

    Für Dichter und Philosophen sind Zeichen des Alters und der Hässlichkeit kein Manko. Sie treten bereits in klassischer Zeit in Form von Stirnglatze, Runzeln und schlaffen Hautpartien auf. Wir begnügen uns mit dem Beispiel des sog. Hesiod und seinem faltigen Hals.

    Wamser-Krasznai - Vom Alter -Bild 9 - Hesiod

    Bild 9. „Hesiod“,  Neues Museum Berlin

    (Photo Verf.)

    Welches Kraut ist gegen das Alter gewachsen? Medea, die Zauberin aus Kolchis, weiß Rat. Sie demonstriert die Verjüngung eines Widders und verführt damit die Töchter des Pelias, ihren Vater zu zerstückeln und zu kochen, damit er mit Hilfe ihrer magischen Kräuter dem Kessel als ein Jüngerer entsteige. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.

    Wamser-Krasznai - Bild 10 - Vom Alter- Marmorrelief

    Bild 10.  Marmorrelief um 100 v. Chr. Berlin (Photo Verf.)

     

    Aristoteles betrachtet, wie wir gehört haben, das Phänomen des Alterns als eine Art Austrocknungsprozess. Folgerichtig behandelt später Galen mit befeuchtenden und wärmenden Mitteln. Dazu gehöre der Wein, der für alte Menschen das Beste sei (V 5). Wichtig sind diätetische Maßnahmen und die Ausfuhr (V 9), auch körperliche Übungen und sogar Stimmübungen (V 10). In den hippokratischen Schriften wird, wenn die Menschen die 50 überschritten hätten, vor plötzlicher Sonneneinstrahlung oder Abkühlung gewarnt. Dies alles sind prophylaktische Ratschläge. Als Therapie taugen sie wenig, allenfalls tragen sie ein wenig zur Linderung bei. Gegen den Tod und das Alter ist nicht anzukommen. So wie heute versucht man auch damals, die Jugend mit Hilfe der Kosmetik festzuhalten. Aus dem Orient stammen Duftstoffe. Falten werden mit Bleiweiß und  Schminke abgedeckt[29].

    Es ist bereits angeklungen, dass man die unnützen Alten auf ihr nahendes Ende verwies. Dazu gab es gelegentlich sehr direkte Beihilfe, zu allen Zeiten und an allen Orten. Der Zoologe Ilja Ilijitsch Metschnikoff, der 1865 in Gießen die intrazelluläre Verdauung, später die Phagozytose entdeckte, zählt 1908 in seinen Beiträgen über das Altern[30] verschiedene ersprießliche Lösungen auf: In Melanesien ist es gebräuchlich, unnütze alte Menschen lebendig zu begraben. In Feuerland würden bei Hungersnot zuerst die alten Frauen getötet und verspeist, danach die Hunde, denn diese fangen Robben, die alten Weiber aber nicht. Er verweist auch auf Dostojewskis Roman Schuld und Sühne, in dem ein altes dummes, böses Weib, das keinem Menschen das Geringste bedeute, ohne irgendwelche Gewissensbisse ermordet und beraubt werden dürfe.

    Greise laufen nicht nur Gefahr, ermordet zu werden; sie entschließen sich auch leichter, ihr Leben vorzeitig zu beenden. Wie eine Statistik aus Kopenhagen ausweise, seien die Alten mit mehr als 63% an der Zahl der Suicide beteiligt[31]. Seneca, dem mit etwa 65 Jahren von seinem Kaiser und früheren Schüler Nero der Selbstmord befohlen wurde, hatte sich rechtzeitig mit diesem Thema auseinandergesetzt. Er begrüßt die Möglichkeit, das Ende selbst herbeizuführen: und “danken wir dem Gott, dass niemand im Leben festgehalten werden kann“[32].

    Wamser-Krasznai - Bild 11 - Vom Alter - Seneca

    Bild 11.  Büste des Seneca, Neues Museum Berlin

    (Photo Verf.)

     

    Eine Doppelbüste zeigt ihn zusammen mit Sokrates, der ebenfalls von Staats wegen, im demokratischen Athen, den Schierlingsbecher leeren musste.

    Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf Kindheit und Jugend, den frühen Stufen des Alters.

    Wamser-Krasznai -Vom Alter- Bild 12- Herakles                                      Wamser-Krasznai- Vom Alter -Bild 13 - Der Ganswürger

    Bild 12. Der kleine Herakles als Schlangentöter          Bild 13. Ganswürger

    Rom, Kapitolinische Museen                                             München, Glyptothek                                                                                                                                                                                                                                                           (Photos Verf.)

    Berechtigen diese kleinen Lieblinge nicht zu den schönsten Hoffnungen?

    Abgekürzt zitierte Literatur und Bildnachweis:

    Alter in der Antike 2009: Alter in der Antike. Die Blüte des Alters aber ist die Weisheit. Katalog zur Ausstellung  im LVR-LandesMuseum Bonn 25.2.2009-7.6.2009

    De Beauvoir 1978: S. de Beauvoir, Das Alter  (Reinbek bei Hamburg  1978)

    Brandt 2002: H. Brandt, Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in der Antike (München 2002)

    Furtwängler – Reichhold 1904: A. Furtwängler – K. Reichhold, Griechische Vasenmalerei. Auswahl hervorragender Vasenbilder (München 1904)

    Gutsfeld – Schmitz 2009: A. Gutsfeld – W. Schmitz (Hrsg.), Altersbilder in der Antike. Am schlimmen Rand des Lebens? (Göttingen 2009)

    Herrmann-Otto 2004: E. Herrmann-Otto (Hrsg.), Die Kultur des Alterns (St. Ingbert 2004)

    Kunze 1999: Chr. Kunze, Verkannte Götterfreunde, Römische Mitteilungen 106, 1999, 69-77

    Lippold 1950: G. Lippold, Die griechische Plastik. Hellenistische Periode, Hochblüte des 3. Jahrhunderts, Handbuch III 1(München 1950) 322

    Neugebauer 1951: K. A. Neugebauer, Die griechischen Bronzen der Klassischen Zeit und des Hellenismus (Berlin 1951)

    Pfisterer-Haas 2009: S. Pfisterer-Haas, Ammen und Pädagogen, in: Alter in der Antike, Bonn 25.2.2009-7.6.2009, 69-80  Bild 6

    Von Rohden 1880: H. von Rohden, Die Terrakotten von Pompeji (Stuttgart 1880)  Bild 5

    Salomonson 1980: J. W. Salomonson, Der Trunkenbold und die Trunkene Alte, BaBesch 55, 1980, 65-106 Taf. 107-135

    Simon 1981: E. Simon, Die griechischen Vasen (München 1981)  Bild 2-4

    Simon 2004: Kourotrophoi, in: S. Bergmann – S. Kästner – E.-M. Mertens (Hrsg.), Göttinnen, Gräberinnen und gelehrte Frauen (Münster – New York – München – Berlin 2004)

    Wrede 1991: H. Wrede, Matronen im Kult des Dionysos, Römische Mitteilungen 98, 1991, 163-188

    Zanker 1989: P. Zanker, Die Trunkene Alte. Das Lachen der Verhöhnten (Frankfurt am Main 1989)

     

    Antike Literatur:

    Il.: Homer, Ilias. Übers. R. Hampe (Stuttgart 22007)

    Od.: Homer, Odyssee. Übers. R. Hampe (Stuttgart 22007)

    Plin. nat.: C. Plinius secundus d. Ä. Naturkunde Buch 26, 1-5. Lateinisch-deutsch (München 1979)

    Sappho: Sappho, Lieder, griechisch und deutsch (M. Treu Hrsg. München 1958)

    Verg. Aen.: Vergil, Aeneis. Übersetzt und herausgegeben von W. Plankl, unter Verwendung der Übertragung Ludwig Neuffers (Stuttgart 32005)

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    [1] Herrmann-Otto  2004, 14.

    [2] Seneca, Brief 108, an Lucilius 28; den Hinweis verdanke ich Prof. Dr. K. D. Fischer, Mainz.

    [3] De generatione animalium V 4.784 b 32-34, zit. nach G. Wöhrle, Der alte Mensch im Spiegel der antiken Medizin, in: Herrmann-Otto 2004, 19-31.

    [4] Sappho 4, 65 a D. 13-15; 1, 12 D.

    [5] Abbildung mit freundlicher Erlaubnis von Frau Dr. E. van der Meijden Zanoni, Basel.

    [6] Zit. nach Brandt 2002, 33.

    [7] Il. 4, 313.

     

    [8] Il. 22, 71-75.

    [9] Sprüche Salomonis Kap. 16 Vers 31, nach dem Hinweis bei S. de Beauvoir 1978, 79 und 95.

    [10] Solon Frgm. 22,7,  Diehl, zit. bei Brandt 2002, 37.

    [11] Il. I, 249.

    [12] Il. 4, 320-323.

    [13] Für wiederholt erteilte Abbildungserlaubnis bin ich Frau Prof. Dr. Erika Simon, Würzburg, von Herzen dankbar.

    [14] Il. 22, 395 f.

    [15] Christa Wolf, Kassandra (Frankfurt am Main 2008) 33. 51. 69. 86. 87. 88. 93. 97. 117.124.125.127.129.142.

    [16] Il. 24, 515.

    [17] Verg. Aen. 2, 705-725.

    [18] Od. 13, 429-433.

     

    [19] Od. 19, 482-484.

    [20] Pfisterer-Haas 1989, 78.

    [21] Pfisterer-Haas 1989, 78; Salomonson 1980, 94-97; s. sprechende Namen wie οινοϕίλη für das Bild einer Alten mit Weinschlauch auf einem attischen Gefäß in London, Pfisterer-Haas 78, oder „Silenis“ in einem Spott-Epigramm, Salomonson 96, bekunden die Nähe zu Trunk und dionysischem Gefolge.

    [22] Plin. nat. 36, 33; zu Myron, möglicherweise ein hellenistischer Meister, der denselben Namen trägt wie der berühmte Skulpteur des 5. Jhs. v. Chr.: Zanker 1989, 82; zur etl. fehlerhaften Überlieferung des Künstlernamens Salomonson 1980, 96 Anm. 171.

    [23] Neugebauer 1951, 71.

    [24] Ein Fest, das von Ptolemaios IV in Alexandria eingerichtet worden war, Kunze 1999, 72 f; Pfisterer-Haas 1989, 83..

    [25] Lippold 1950, 322; Salomonson 1980, 96 Anm. 170; Wrede 1991, 173.

    [26] Simon 2004, 72 f. Abb. 1-2.

    [27] Kunze 1999, 77.

    [28] Zanker 1989, 61.

    [29] Alter in der Antike 2009, 173 f.

    [30] E. Metschnikoff, Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung (München 1908) 9-12.

    [31] Metschnikoff a. O.

    [32] Seneca, De senectute 12, 10, zit. nach Brandt 2002, 195.

    Der Aufsatz ist erschienen in dem Buch Wamser-Krasznai: Fließende Grenzen – Zwischen Medizin, Literatur und (antiker) Kunst), Minerva Verlag, Budapest, 2015. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

     

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    Gestern saß ich im Zug von Berlin nach Basel. Ich kehrte von einem Kongress zurück, der für mich sehr wichtig war – sicher nicht nur für mich – und eine Mitgliedsversammlung hatte stattgefunden, die – vielleicht – noch wichtiger war als der ganze Kongress (objektiv und für mich). Ich schaute aus dem Fenster, trank Kaffee, Tee oder Wasser und erinnerte mich,  liess alles noch einmal Revue passieren. An dem Morgen war mir ein kleines Missgeschick passiert, dass mich an ein ähnliches Jahrzehnte zurückliegendes Missgeschick erinnerte. Ich verspürte den Impuls, darüber zu schreiben. Mein Mac Air war schon vor mir auf dem Tischchen. Ich schrieb und schrieb, die Gedanken flogen mir nur so zu, fast eine Seite war schon voll, da passierte es: Ich kann es nicht genau diagnostizieren, Absturz oder Aufhängen (Überlebenschancen in beiden Fällen gleich null). Ich hatte gehofft, dass mein etwas  kapriziöses Wordprogramm sich mit mir oder meinem Mac versöhnt hatte…

    Ich tröste mich damit, dass ich nicht Korrektur lesen muss, denn aus den Augenwickeln hatte ich gesehen, dass es viel rote Unterstreichungen gab! Noch mal beginnen? Wieder einen Absturz oder Erhängen riskieren? Nein, danke! Vielleicht morgen oder irgendwann. Eigentlich war der Text ja schon geschrieben, wenigstens in mir. Wie das nun mal meine berufsbedingte Art als Psychotherapeutin ist, fragte ich mich heute Morgen auf dem Spaziergang mit meiner Hündin, ob sich dahinter vielleicht irgendein Grund verstecke? Ich kam auf einen anderen Fehler, der mir am Anfang des Kongresses passiert war. War der nicht viel wichtiger, sollte ich vielleicht von ihm erzählen?

    Wie soll ich die nötige Information kurz und knapp vorausschicken? Es war im Vorfeld einiges Ungute geschehen. Auf objektiver Ebene, mehr noch auf persönlicher Ebene. Ich hielt mich im Vorfeld für besser informiert als die Mehrheit. Eine kleine Info per E-Mail, hatte in der darauffolgenden Nacht unangenehme Ängste ausgelöst, ein nicht näher zu definierendes Gefühl von Beklemmung. Ich hatte bei der Informantin vorsichtig nachgefragt und … die Antwort: „Ich bin im Weltuntergang“, tat ein Übriges, dass ich mich von der emphatischen Kollegin über die klar analysierende Therapeutin zur kämpfenden Mutter entwickelte. Ich setzte meine kriminalistische Begabung ein, versuchte hier und dort Informationen aus dem Nähkästchen zu erhalten und schließlich war auch ich in Sorge, bzw. schäumte ich vor Wut und entwarf – das war psychohygienisch absolut nötig, sozusagen psychotherapeutische Prophylaxe – einen Schlachtplan. Den galt es nun, wenn nötig, in die Tat umzusetzen. Möglichst so, dass Nähkästchenplauderer nicht erkannt wurden.

    Vor der MV fand unsere Großgruppe statt (der Ort, gleichermaßen geliebt und gefürchtet, wo jeder über seine Gefühle, Ängste, Träume und Visionen sprechen kann, ohne zu befürchten, be- und verurteilt zu werden). Ich war erstaunt, dass einige erwähnten, dass der Vorstand zurück treten wolle. Moment mal, war das nicht ein angesteuertes Ziel? War mein ,,Schlachtplan‘‘ nicht Teil davon, dies Ziel zu erreichen? Auch dort sprach einer ganz offen davon und da, die mir unbekannte Kollegin links in der Ecke… woher wussten denn so viele davon? Und Anwesende des noch nicht zurückgetretenen Vorstandes… hörten schweigend zu, mit verschiedenen Gesichtsausdrücken. Ich möchte auch nicht urteilen, weder be- noch ver-. Meine Irritation wuchs ins Unermessliche! Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich ergriff das Wort und sagte klipp und klar und unmissverständlich: „Ich verstehe kein Wort! Kann mich vielleicht einer mal informieren?“

    Ein Sturm brach los. Ich verstand nicht unbedingt mehr, aber die Stimmung wurde besser. Ich war nicht mehr allein. Der klärende Prozess (mehr bei mir als bei den anderen) setzte ein, als eine neue, mir noch unbekannte Kollegin meinte, dass ich ihr aus dem Herzen gesprochen hätte. Erst habe sie sich eigentlich ganz unvoreingenommen auf den Kongress gefreut, aber als sie im Mitgliederrundschreiben las, dass der Vorstand zurück treten wolle, habe sie nichts mehr verstanden. Ich muss sagen, meine Irritation nahm darauf doch wieder zu. Von was sprach sie?

    Ich muss etwas einschieben. Wir hatten vorher alle einen sehr schön gestalten Rundbrief bekommen, der aussah wie eine tolle Zeitschrift, ich hatte mehr oder minder alles mehr oder minder gründlich gelesen, auf jeden Fall wusste ich, was drin stand. Aber dann bekamen wir noch einen speziellen Mitgliederbrief als Vorbereitung auf die Mitgliederversammlung per E-Mail, den liess ich mir von meinem Copyladen ausdrucken um Platz und Papier zu sparen: beidseitig. Ich hatte ihn mal flüchtig durchgeblättert und stellte fest, dass ich die letzten Seiten vor Ort lesen könne, das andere las ich sehr gründlich. Und nun das! Nach einiger Zeit klärte sich das Missgeschick: genau auf der Rückseite von dem Blatt, wo ich aufhörte zu lesen, war dieser Brief des Vorstands! Warum hatte ich das nicht auf der Zugfahrt gelesen, wie ich es mir doch eigentlich vorgenommen hatte? Ich weiß es nicht, ich weiß jetzt nur, dass, auch wenn ich es gewollt hätte, nicht gekonnt hätte, dieser Mitgliederbrief ist schlichtweg verschwunden. Vielleicht habe ich ihn konstruktiv recycelt und als Konzeptpapier verwendet.

    Nach der Großgruppe kam meine Hauptinformantin und Hauptbetroffene (die, die im Weltuntergang war) auf mich zu und sagte bewundernd: ,,Du kannst ja vielleicht schauspielern! Es wirkte so echt! Man hätte meinen können, du hast von Tuten und Blasen keine Ahnung.‘‘ Ich kam erst nicht dazu ihr zu sagen, dass ich weder von Tuten noch von Blasen irgendeine Ahnung hatte! Dieses ihrer Meinung nach absolute (von mir geschauspielerte) Nichtswissen habe den Boden dafür bereitet, dass nun endlich alle Informationen gesagt werden konnten!

    Irgendwann werde ich jetzt heimgekehrt sie per Telefon darüber aufklären. Ich weiß nicht, ob sie meinen Fehler genauso bewundern wird wie meine angebliche schauspielerische Begabung, also warte ich noch etwas mit der Aufklärung, um es mir noch in der Bewunderung gut gehen zu lassen.

    Ich hoffe, dass ich dieses Erlebnis nicht so schnell vergesse, dass ich mich erinnere: Manchmal werden im Drama des Lebens vom Regisseur Schicksal korrigierende Regieanweisungen in Gestalt vermeintlicher Fehler eingesetzt:

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

     

    Dieser Text wurde vorgetragen auf dem Jahreskongress de BDSÄ 2105 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Diese Gedichte wurden vorgetragen bei der BDSÄ-Jahrestagung 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

     

    Hymne an den Stacheldraht 

    Stacheltier, du ausgerolltes
    Borstenvieh, du ungewolltes,
    von Tyrannen festgenagelt,
    dir sei jetzt ein Lied spektakelt!

    Von dem Volk, das du umfasst,
    von dem Volke, das dich hasst,
    von dem Land, das du umringst
    und in deinen Kerker zwingst.

    Wer kann deine Stachel zählen,
    die Millionen Menschen quälen,
    die Millionen tiefe Wunden
    in das Menschenherz geschunden?

    Magst du wie ein Tiger beißen
    und die Welt in Stücke reißen.
    Magst du deine Zähne wetzen
    und uns das Gedärm zerfetzen.

    Wie bestialisch du auch bist!
    Wie der Rost dein Eisen frisst,
    frisst der Freiheitshunger auch
    dich in seinen großen Bauch.

    Blumen um die Stirn der Braut,
    Schellen um die Hand, die klaut,
    und um den Tyrannenstaat
    Stacheldraht, Stacheldraht. –

    Copyright Prof. Dr. Paul Rother,  1970

     

    Heinrich Heine Herbst 1989 in Leipzig

    1. Der 9. Oktober

    Im traurigen Monat Oktober war’s,
    die Tage wurden trüber,
    Paris hört’ grad mit Feiern auf,
    da fuhr ich nach Leipzig hinüber.

    Was dort zweihundert Jahr’ vorbei,
    hier war es aktueller.
    Der eingelullte Weltenlauf
    ging plötzlich wieder schneller.

    Zwar Tyrannei, vergreist und stur,
    sprach noch mit schriller Stimme
    von 40 Jahren DDR
    voll Stolz, und auch im Grimme

    Über ein zweites deutsches Land,
    durch das ich grad gereiset,
    und wo ich mich sehr wohl befand
    und auch recht gut gespeiset.

    Da spielten Siebzigtausend dann
    am Abend Ringelreihn
    und schlossen, wie im Kinderspiel,
    die alte Staatsmacht ein.

    Viel schöne Sprüche hört’ ich sie
    im Chore laut zitieren.
    Auch auf Bettlaken standen sie.
    Ich werde sie notieren

    Und wenn ich wieder in Paris,
    daraus ein Epos machen,
    worüber hoffentlich sodann
    allhier die Leute lachen.

     

    1. Stasi

    Ja, sie sind unverkennbar froh,
    auch wenn sie noch im Drecke,
    doch ihre Fröhlichkeit verfliegt
    an jener „runden Ecke“,

    An Leipzigs Reichskanzlei, in der
    sich jene tief verschanzten,
    die als Staatssicherheit  frech auf
    des Volkes Nase tanzten.

    Hier, schwer bewaffnet, lagen sie
    der Freiheit auf der Lauer,
    rund vierzig Jahre war ihr Bau
    ein Monument der Trauer.

    Dann kam das Wunder: Tausendfach
    Kerzen in bloßen Händen
    räucherten  die Tschekisten aus,
    konnten den Spuk beenden.

     

    1. Die Elster

    Die Weiße Elster ist ein Fluss,
    einst Leipzigs Wasserstraße.
    Ihr Wasser ist jedoch ganz schwarz
    und fährt mir in die Nase.

    Hätte sie 1813 schon
    so mörderisch gestunken,
    Napoleons Heer wär’ schnell gefloh’n
    und nicht in ihr ertrunken.

    Aus Schaum war Venus einst gebor’n,
    die Muse meiner Lieder.
    In diesem Chemikalienflaum,
    ich glaub, da stirbt sie wieder.

    Im Munde knirscht’s, ich spucke aus,
    die Spucke schwimmt zur Elbe
    und schwimmt durch Ost- und Westdeutschland,
    als wär’ es schon dasselbe.

    Ja, sicher wird es das, sie zanken
    nicht mehr um eine Grenze
    im Elbelauf  bei Magdeburg,
    nein, sie wird deutsch zur Gänze.

     

    4. St. Nikolai

    Den Spott über den Kölner Dom,
    den muss ich schnell vergessen,
    seit ich am Montagabend in
    Sankt Nikolai gesessen.

    Was mir zu Köln noch Zwingburg schien,
    des Geists Bastille und Kerker –
    hier macht die Kirche Menschen frei,
    gewitzt, furchtlos und stärker.

    Nach dem Gebet begann sie hier,
    die große Prozession,
    und nahm von hier den Siegeslauf,
    die Revolution.

    Dank unsern Glaubensbrüdern, die
    Sowjetbürger beglückten,
    indem sie Bibeln tonnenweis’
    ins Erbreich Stalins schickten!

    Ihr ließet euern Opfermut
    im Westen nie erkalten
    und habet auch den Menschen hier
    manch Kirchenbau erhalten.

    Erschreckt nicht vor der neuen Pflicht,
    sie noch zu unterstützen.
    Die Leute hier bedanken sich
    mit Kommunistenwitzen.

     

    Copyright Prof. Dr. Paul Rother

     

     

     

  • Dieser Text wurde vorgetragen beim Jahreskongress des BDSÄ 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Bremer Stadtmusikanten“

     

    Eine wichtige Botschaft aus dem Märchen „Bremen Stadtmusikanten“ ist für mich, dass wir uns durch unvorhergesehene, abwegige, verrückte, unpassende, vielleicht auch laute Ereignisse und Anforderungen nicht aus dem Gleichgewicht bringen oder gar in die Flucht schlagen lassen dürfen.

    Ein Beispiel dafür habe ich neulich erlebt mit zwei Begegnungen der besonderen Art in einer Nacht.

    Ich war gerade in meinem Dienstzimmer eingeschlafen, wo wir Ärzte uns ausruhen können, wenn wir Nachtdienst in der Notfallpraxis haben. Da rief mich die Arzthelferin in die Praxis zurück. Auf dem Weg über den Flur machte ich mir zum soundsovielten Mal klar, dass ich jetzt trotz meiner Müdigkeit freundlich und aufmerksam sein musste.

    Es gibt ja tatsächlich Patienten, die nachts in die Notfallpraxis kommen und wirklich ein Notfall sind. Ich meine mit Notfall, was ein Arzt darunter versteht: eine frisch aufgetretene Notsituation, die den Patient akut bedroht und in der er sofort Hilfe benötigt. Oft habe ich den Eindruck, dass die Notfallpraxis für manche Menschen eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt ist, zu der sie gehen, wenn sie gerade Zeit haben, ein schon längeres Bedürfnis zu stillen oder eine unangenehme Sache zu klären. Außerdem muss man in unserer Notfallpraxis auch selten lang warten, jedenfalls nicht länger als in so mancher Arztpraxis. Die Patienten wissen das genau und nützen es aus. Ich komme mir manchmal vor wie ein Angestellter bei McDonald´s oder an der Tankstelle. Aber jetzt, heute Nacht, bin ich der Verantwortliche in einer richtigen Arztpraxis.

    Auf der Rezeption steht eine halb volle Sprudelflasche. Die junge Frau weint, als wir einander begrüßen. Eine Begleitperson sitzt still im Eck.

    „Was gibt´s denn?“, frage ich.

    Die Patientin schaut mich durch ihre Tränen an und fragt mit weinerlicher Stimme:

    „Können Sie mir sagen, warum mein Mund seit heute Abend keine Spucke mehr produziert?“

    Ich bin verblüfft und versuche, meinen Ärger zu besänftigen.

    „Und das fragen Sie mich jetzt um halb zwei morgens?“

    „Ja, das möchte ich jetzt wissen, ich werde fast verrückt. Ich trinke und trinke, und ich habe trotzdem einen furztrockenen Mund.“

    Da greift die Arzthelferin ein: „Sie müssen dem Herrn Doktor aber schon die ganze Geschichte erzählen!“

    „Und was ist die ganze Geschichte?“

    „Ja, wissen Sie, ich habe mir Anfang der Woche ein Zungenpiercing-Loch erweitern lassen, da schwillt die Zunge an, das ist ja in Ordnung, und das ist auch schon wieder vorbei, aber jetzt habe ich keine Spucke mehr! Es macht mich wahnsinnig!“

    Ich bin drauf und dran, der Frau zu empfehlen, jetzt sofort mitten in der Nacht ihren Piercer anzurufen und um Rat zu fragen. Aber ich halte mich zurück und sage: „Na, über Piercing habe ich sicher eine andere Meinung als Sie! Kommen Sie ins Sprechzimmer, ich schau mir das mal an.“

    Ich untersuche die Mundhöhle und sehe kein Piercingloch, keinen Zungenstecker und einen auch sonst völlig gesunden Mund.

    Dann zucke ich mit den Schultern: „Ich weiß nicht, warum Sie keine Spucke haben. Haben Sie denn Medikamente genommen, die als Nebenwirkung einen trockenen Mund machen können?“

    „Nein, ich nehme gar keine Medikamente!“ –

    Die Frau wird etwas ruhiger, wahrscheinlich, weil sie merkt, dass ich sie doch wenigstens ernst nehme.

    „Dann erzählen Sie mir mal genau, was Sie heute Abend gemacht haben. Vielleicht komme ich dann drauf, was Ihr Problem verursacht hat.“

    Sie schildert einen unauffälligen Verlauf des Abends, dann kommt der entscheidende Satz:

    „Nach dem Zähneputzen habe ich noch eine Mundspülung gemacht, richtig lang und gründlich, damit es ja keine Infektion in dem Piercingloch gibt!“

    Ich bin erleichtert:

    „Ja, dann ist doch alles klar. Kennen Sie den Begriff adstringierende Wirkung?“

    „Nein.“

    „Das Mundspülmittel zieht die Schleimhaut zusammen und schließt damit auch die Ausführungsgänge der Speicheldrüsen. Das ist sehr lästig und völlig harmlos!“

    Die Frau schaut mich verblüfft an. „Und jetzt? Was mach ich jetzt?“

    Ich lächle sie an: „Ruhig bleiben, weiter trinken, bis die Wirkung nachlässt. Dann machen die Speicheldrüsen wieder auf. Im Lauf des Vormittags ist wieder alles in Ordnung!“

    Die junge Frau kann es kaum glauben, verlässt aber dann einigermaßen beruhigt die Praxis.

    Ich gehe zurück in mein Dienstzimmer und lege mich wieder hin. Nach einer weiteren Stunde im Halbschlaf werde ich erneut in die Praxis gerufen.

    Das steht ein Mann etwa Mitte vierzig und sagt: „Ich habe seit sechs Wochen Schmerzen an der linken Fußsohle. Können Sie da was machen?“

    Ich bemühe mich, nicht zu explodieren. Diese Situation habe ich oft erlebt: Ein völlig unangemessener Wunsch zur Unzeit und dann noch mit einer ebenso unpassenden Anspruchshaltung auf Sofort-Wunderheilung. Ich weiß, dass ich ruhig bleiben muss. Also sage ich nur mit gebremster Freundlichkeit und so, dass der Patient merkt, wie er bei mir auf ein roten Knopf gedrückt hat:

    „Also, seit sechs Wochen haben Sie das, und da kommen Sie mitten in der Nacht? Was sagt der Hausarzt?“

    Der Patient erwidert ganz ruhig: „Ich war bei keinem Arzt!“

    Ich bleibe auch ruhig – äußerlich wenigstens: „Da fühle ich mich aber ganz schön verschaukelt von Ihnen und ausgenützt! Haben Sie gelesen, dass da draußen auf dem Schild Notfallpraxis steht? Sie sind ganz bestimmt, ganz sicher nie und nimmer ein Notfall. Ist Ihnen das bewusst?“

    Der Patient zuckt mit der Schulter: „Nein, aber heute Abend hat´s weh getan. Und jetzt bin ich da. Was machen wir jetzt?“

    Ich weiß ja, dass ich den Patient versorgen muss, also schlucke ich meinen Ärger runter und sage: „Zeigen Sie mir mal den Fuß.“

    Ich untersuche den Fuß gründlich, denn auch ein nächtlicher Nicht-Notfall-Patient kann ja mal krank sein. Die Fußsohle zeigt keine Entzündung, keine Verletzung, keine Druckschmerzen, keine Bewegungsschmerzen, keine Hautauffälligkeiten, es ist wirklich eine völlig normale Fußsohle.

    Mit ernster Miene sage ich: „Das ist ein eindrucksvoller Befund!“

    „So, was ist das?“

    „Eine völlig normale Fußsohle!“

    Nach dieser Verblüffung überlegt der Patient: „Ja, können Sie die Glasscherbe jetzt rausmachen?“

    Jetzt bin ich überrascht: „Glasscherbe? Wie kommen Sie denn auf Glasscherbe?“

    „Ja wissen Sie, vor sechs Wochen habe ich im Urlaub am Strand Volleyball gespielt, und da habe ich mir wahrscheinlich eine Glasscherbe reingetreten. Die können Sie doch jetzt rausoperieren!“

    Ich hole Luft: „In so eine gesunde Fußsohle wird kein vernünftiger Chirurg reinschneiden, schon gar nicht, wenn er nicht sieht und tastet und Sie nicht wissen, wo die Glasscherbe ist!“

    „Aber Sie können doch jetzt ein Röntgenbild machen!“

    „Ich mache jetzt ganz sicher mitten in der Nacht kein Röntgenbild, auch deshalb nicht, weil man eine normale Glasscherbe im Röntgenbild nicht sieht. Nur wenn Sie schwören, dass es ein Bleiglas war, – und das können Sie nicht -, dann kann man die Scherbe im Röntgen sehen.“

    Der Patient lässt nicht locker.

    „Aber Sie können doch jetzt eine Computertomografie machen!“

    „Wenn es ein lebensbedrohlicher Notfall wäre, zum Beispiel ein Schlaganfall, könnte man jetzt ein CT machen, da haben Sie Recht. Aber die Sache hatte jetzt sechs Wochen Zeit. Dann muss ich nicht notfallmäßig auch noch die Röntgenassistentin aus dem Bett holen. Ich denke, das sollten Sie mal in Ruhe in der ganz normalen Sprechstunde mit Ihrem Hausarzt besprechen. Der kann Sie dann immer noch, wenn er es für nötig hält, zum Röntgen oder zum Chirurgen überweisen.“

    „Ja, und was soll ich jetzt machen?“

    „Jetzt machen Sie es wie in den letzten sechs Wochen auch. Gehen Sie nach Hause. Und wenn Sie je wieder Schmerzen haben – jetzt haben Sie ja keine Schmerzen -, dann nehmen Sie ein Schmerzmittel. Gute Nacht!“

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • Freitagnacht. Sprechstunde in der Notfallpraxis im Marienhospital.

    Der ältere Herr ist einfach und sauber gekleidet, schlank, stellt einen kleinen Rucksack neben den Stuhl, auf den er sich setzt, und sagt: „Ich habe eine chronische Bronchitis.“

    Dann wartet er auf meine Reaktion.

    „Haben Sie sonst noch Beschwerden?“ –

    „Nein!“

    „Dann lassen Sie mich mal die Lunge abhören, bitte.“

    Er steht auf, ich ziehe sein Hemd hoch, höre Lunge und Herz ab:  „Alles normal, prima!“

    Dann messe ich mit dem Ohrthermometer seine Temperatur: „37,1° C, auch gut! – Haben Sie überhaupt irgendwelche Beschwerden?“

    „Nein!“

    „Warum sind Sie dann da?“

    „Ich habe meinen Hausschlüssel verloren! Und der Mann, der mir helfen kann, der Hausmeister, kommt erst am Montag.“

    „Das ist natürlich dumm. Wo schlafen Sie bis dahin?“

    „Ja, ich denke, hier im Krankenhaus!“

    Ich bleibe freundlich und sehr bestimmt.

    „Also ganz sicher werden Sie nicht hier übernachten! Das hier ist ja kein Hotel! Da müssen Sie eine andere Lösung finden!“

    Er entgegnet ganz ruhig: „ Aber das ist doch ein christliches Krankenhaus, die müssen mir helfen!“

    „Ja“, sage ich, „aber nur wenn Sie krank sind! Sie sind nicht krank, sondern Sie haben den Hausschlüssel verloren! Das ist etwas ganz anderes. Dafür sind wir hier nicht zuständig!“

    Die Medizinische Fachangestellte, die mir in der Sprechstunde hilft und den Dialog mitgehört hat, fragt: „Haben Sie den Schlüsseldienst angerufen?“

    Der Mann antwortet empört: „Ja klar, aber der will 83 Euro haben, und die will ich nicht zahlen!“

    Sie bleibt direkt: „Wollen Sie nicht zahlen, oder können Sie nicht zahlen?“

    „Ich will nicht bezahlen, weil ich dann am Wochenende gar nicht aus der Wohnung gehen kann, sonst muss ich jedes Mal wieder neu den Schlüsseldienst rufen und wieder 83 Euro zahlen!“

    „Könnten Sie das Geld zahlen?“

    Er zögert, dann etwas kleinlaut: „Ja, aber ich habe kaum Geld da.“

    „Und auf der Bank? Können Sie etwas abheben?“

    „Ja, aber da gibt es auch nicht wesentlich mehr!“

    Er macht eine Pause, dann setzt er nach und fixiert mich: „Sie müssen mir helfen, Sie sind doch Arzt!“

    „Ja, stimmt, wenn Sie krank sind, bemühe ich mich, Ihnen zu helfen. Aber Sie haben den Hausschlüssel verloren und wollen die Hilfe, die Sie haben und bezahlen könnten, nicht annehmen. Das ist etwas ganz anders. Ich bin der falsche Ansprechpartner für Sie. Und wenn ich die Internisten hier im Haus bitte, Sie stationär aufzunehmen, werden die sich strikt weigern. Es gibt keinen medizinischen Grund für eine stationäre Aufnahme. Sie erwarten selbstverständlich, dass die Krankenkasse sofort mehrere hundert Euro zahlt, wenn Sie übers Wochenende hier aufgenommen werden. So geht das nicht!“

    Er gibt nicht nach: „Aber ich brauche doch nur ein Bett und eine Toilette und eine Dusche!“

    „Das verstehe ich. Dann müssen Sie in ein Hotel gehen, nicht in ein Krankenhaus. Sie könnten sich aus Ihrer Lage leicht retten, wenn Sie die 83 Euro investieren, dann können Sie eben übers Wochenende nicht aus dem Haus gehen, oder Sie fragen Nachbarn um Hilfe.“

    „Ich habe kein gutes Verhältnis zu den Nachbarn“, ist seine etwas zerknirschte Antwort.

    Ich will der Situation einen Ausweg geben und den Patient in Gutem entlassen und nicht hinauswerfen. Deshalb bitte ich die MFA, mir den Ordner zu geben, in dem die Adressen für Notunterkünfte in Stuttgart verzeichnet sind. Wir überfliegen die Seite.

    Ich erkläre es dem Patienten: „Hier diese Adressen sind für Obdachlose, für Frauen und für Kinder in Not und für junge Drogenabhängige. Da passen Sie nicht hin, denn Sie haben ja ein Obdach, eine Adresse, nur eben keinen Schlüssel dazu.“

    Es entsteht eine Pause. Dann sagt er:

    „Ja, und jetzt?“

    Ich antworte: „Das Einzige, was ich jetzt noch tun kann: Ich rufe in dem Obdachlosenheim für Männer in der Nordbahnhofstraße an und frage um Rat.“

    Die Nummer ist rasch gewählt, ich stelle mich dem Diensthabenden im Obdachlosenheim für Männer vor, erkläre die Situation und frage, was er meinem Patienten rät.

    Die Antwort ist so klar wie knapp: „Wenn Ihr Patient den Schlüsseldienst nicht bezahlen will, schläft er auf der Straße. Wenn er den Schlüsseldienst nicht bezahlen kann, hat er ein Recht, sich im Obdachlosenheim in der Hauptstädterstraße 150 zu melden. Aber die werden ihn sehr genau fragen, warum er nicht zu Hause schläft! Ich glaube nicht, dass er da reinkommt. Aber versuchen kann er es ja.“

    Oje, denke ich, das ist auch die Adresse für jugendliche Drogensüchtige!

    Die MFA sagt: „Da werden Sie sich nicht wohlfühlen. Da ist es besser, Sie holen den Schlüsseldienst!“

    Ich erkläre dem Patienten noch einmal die Situation. Er akzeptiert widerwillig die Adresse und geht.

    Als er nach dem Rucksack greift, der da prallvoll steht, kommt mir der Gedanke: Wer verliert zufällig seinen Hausschlüssel und hat ebenso zufällig seinen vollen Rucksack dabei? Steckt da etwas ganz anderes dahinter? Hat der Patient mich angelogen oder nur die halbe Geschichte erzählt? Aber ich will nicht eine neue Diskussion anfangen und lasse den Patienten gehen. Ich weiß, dass ich ihm nicht mehr helfen kann, als ich es getan habe.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Der Text wurde vorgetragen beim BDSÄ-Jahreskongress 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

  • »Warum bin ich nur zu Fuß aus der Justizvollzuganstalt gegangen«, dachte Felix, »nachdem sie mir eine Fahrt vorgeschlagen hatten!«

    Er ging Richtung Stadtzentrum, bog in die parallel zur Marktstraße laufende Bahnhofstraße ein und traute seinen Augen nicht: Siegfried kam auf der andern Seite entgegen. Abgelegte Rachefeldzugspläne drangen Felix in den Sinn. Sein Ehegespons hatte dessentwegen die Scheidung eingereicht. Es warf ihm schwere Bedrohungen und Verletzungen vor, die Siegfried arglistig bezeugte.

    Boshaft querte jener die Straße, ohne direkt auf ihn zuzukommen, in tadelloser salopper Garderobe, die den Beruf zwar verbarg, nach Entlarvung jedoch bestätigte. Felix Frau zog mit Beginn der Trennungszeit zu ihm. Jeden Kontakt lehnte sie ab; alle Fragen regelten Anwälte. Unterhaltszahlungen entfielen für beide Seiten, da Felix einen Maßregelvollzug in der forensischen Psychiatrie anzutreten hatte.

    Siegfrieds Gürtelschnalle glänzte, der füllige Haarschopf federte mit jedem Schritt, der geöffnete Hemdkragen signalisierte den sorgenfreien Gockel. Reizte ihn das Gehabe, dass Felix der Gemahlin eine Ohrfeige verpasste, als sie das Verhältnis preisgab?

    »Da kommst du tatsächlich frei«, schienen die Mundwinkel unter den stahlblauen Augen zu rufen. Zynisch! Ein Ring am linken Kleinfinger blitzte in der Sonne. »Felix«, rief er, »es tut mir leid! Lass dir in die Freiheit helfen!«

    »Du scheinheiliger Hund«, zischte Felix, »von dir einen Dienst annehmen? Du als Kriminalpolizist wechselst die Seite. Strafmilderung macht ihr mir zum Geschenk, weil ihr mich nicht anschauen könnt.«

    »Felix, das siehst du -«

    »Den Gutachter habt ihr beeinflusst, der euch glaubte, mir aber kein Wort.«

    »Der Gutachter besitzt viel Erfahrung.«

    »Geringeres Geschick hat er, als du es hast. Jetzt geh weiter!«

    Felix rempelte Siegfried an, der sich auffing und hinterher schrie: »Das wirst du büßen!«

    Felix strebte einem Quartier entgegen, das er unerwartet bekam. Die Wohnung war aufgelöst, als Kriminalbeamter war er untragbar, bei Berufskameraden erwartete er keinen Funken Verständnis. Die Forensiker nennen ihn eine »emotional instabile Persönlichkeit vom impulsiven Typ«, eine, die leicht ausrastet, der die Hand urplötzlich ausrutscht. Verständlich, dass das Gericht ihn dem Maßregelvollzug zuführte! Die Entlassung hatte er nicht Kollegen oder der Exfrau zu verdanken, sondern einer Petition, die Aktivisten auf den Weg brachten. Sie besuchten ihn und halfen. Er nahm mit geringer Hoffnung an; die Rehabilitation als Kriminalpolizist werden sie kaum durchsetzen.

    Am nächsten Morgen fand man Simone tot auf.  Siegfried, der Berufskamerad, meldete den Fall sofort nach der Heimkehr vom Nachtdienst. Er habe eine muntere Partnerin verlassen. Einen begründeten Verdacht hege er; er weise darauf hin, dass der Exmann der Toten am Tag zuvor aus dem Maßregelvollzug entlassen worden sei. Zufällig sei er ihm über den Weg gelaufen. Jener habe ihn angepöbelt, umgerannt und sei ohne jede Entschuldigung weitergegangen.

    Wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ordnete der Amtsrichter bei der Anhörung umgehend die Untersuchungshaft mit erneutem psychiatrischen Gutachten an. Zur Verhandlung lud er Siegfried, den erfahrenen Altzeugen. Dem Antrag des Zeugen, wegen Voreingenommenheit das Nichterscheinen vor Gericht zu genehmigen, gab der Richter nicht statt.

    Der Staatsanwalt verlas die Anklage, dass Felix dringend verdächtig sei, die Scheidung mit der Tötung Simones zu rächen. Es bestehe Gefahr, dass er den Zeugen angreife. Denn er habe ihn am Tag der Entlassung aus der Forensik angegriffen. Simone sei, wie die rechtsmedizinische Untersuchung ergebe, erstickt worden, am ehesten mit dem Kopfkissen. Ein anderes als dieses besonders niederträchtige Motiv der Straftat sei in keiner Weise zu erkennen.

    Ein Schöffe fragte den Beamten der Spurensicherung, ob der Verdächtigte Spuren hinterlassen habe.

    »Nein«, anwortete der Staatsdiener, »wir finden ausschließlich Spuren der Toten und ihres Partners. Besuch scheint es in den Tagen zuvor nicht gegeben zu haben.«

    Der Richter fuhr fort: »Herr Staatsanwalt, wie begründen Sie jetzt Ihren Verdacht?«

    »Es gibt keine Spuren, weil der Verdächtigte, ein früherer Kriminalbeamter, sicher weiß, wie man Spuren vermeidet oder den Nachweis verhindert.«

    Zeugen für die Zeit vor Beginn des Maßregelvollzugs gab es nicht. Der Richter bat den Staatsanwalt um Aufschluss, ob er zusätzliche Zeugen gefunden habe: »Nein, Herr Richter.«

    Der Richter bat die Eltern der Getöteten herein: »Mit Simone redeten wir zuletzt telefonisch am Tag vor dem Tod. Sie wirkte wie immer. Von der Entlassung des Felix hat sie kein Wort gesagt. Wir sprachen das Thema nicht an.«

    »Sie wissen«, fragte der Richter, »dass Ihr ehemaliger Schwiegersohn unter Verdacht steht, Ihre Tochter Simone zwischen Mitternacht und vier Uhr umgebracht zu haben?«

    »Wir haben es gehört, Herr Richter. Der Verdacht überrascht uns.«

    »Überrascht Sie? Klären Sie auf!«

    »Wir halten es für unmöglich, dass er es getan hat.«

    »Warum ist es unmöglich?«

    »Felix kam aus dem Vollzug zu uns und blieb über Nacht, weil wir ihn eingeladen haben, bis er eine Wohnung findet. Wir unterhielten uns ausgiebig über die Anordnung des Maßregelvollzugs und die Scheidung. Er kannte nicht einmal die Adresse von Simone und Siegfried. Wir finden den Verdacht für ungeheuerlich. Wir redeten vom Nachmittag bis fünf Uhr morgens. Felix verließ das Haus keine Sekunde.«

    Der Richter wendete ein ernstes Gesicht zum Staatsanwalt hin: »Hat die Staatsanwaltschaft diese Aussage geprüft?«

    »Natürlich, doch: die Spurensicherung und der zuständige Kriminalbeamte halten die Aussage für falsch. Sie ergibt weder ein nachvollziehbares noch ein erkennbares Motiv.«

    »Der letzte Zeuge bitte«, ordnete der Richter an.

    Altzeuge Siegfried trat in den Saal.

    Der Verteidiger fragt ihn: »Sie treffen den Verdächtigten, just als er aus dem Vollzug entlassen wird. Woher wissen Sie, wann er entlassen wird?«

    »Der pure Zufall führte uns zusammen.«

    »Der pure Zufall? Warum ist in Ihrem Account-Kalender Tag mit Uhrzeit eingetragen?«

    »Die Frage beantworte ich nicht, Herr Richter. Es ist unzulässig, meinen Kalender zu hacken.«

    Der Richter fragt: »Herr Verteidiger, Sie kennen unzulässige Beweismittel. Wie kamen sie an den Kalender?«

    »Darf Ihnen mein Mandant antworten?«

    »Ich bitte darum.«

    Felix erhebt sich: »Die Eltern benutzen ein Mobiltelefon, das Simone bei ihnen hinterlegte, falls sie das andere verlieren würde. Der Kalender synchronisiert automatisch auf beiden Telefonen. Die Eltern sagten, dass zusätzlich der Kalender des Mobiltelefons von Siegfried synchronisiert sei.«

    Der Richter sieht den Altzeugen an: »Ich sehe, dass ihre Hemdtasche ein Mobiltelefon abzeichnet. Würden Sie es bitte Ihrem Anwalt übergeben?«

    Der Anwalt öffnet den Kalender und bestätigt überrascht den Eintrag. Der Richter gibt dem Antrag des Verteidigers statt, Siegfried nicht als Zeugen zuzulassen. Der Staatsanwalt beantragt, das Verfahren auszusetzen, bis die unerwarteten Erkenntnisse ausgewertet seien, und dem Zeugen aufzutragen, wegen Falschaussage zur Verfügung zu stehen.

    Die Ermittlungen führten zum Geständnis des Kriminalkollegen Siegfried. Er bezeugte für Felix eine emotionale Impulsivität, um Simones Falschaussage zu verbergen. Simone liebte es, wenn er in Eifersucht fiel. Sie gab mehrmals Anlass hierzu. Um die Trennung zu verhindern, habe er den Verstand verloren.

    Das Gericht erkannte keine schwere seelische Abartigkeit, sondern Schuldfähigkeit für eine nüchterne Vorsatzbildung aus niederen Motiven. Felix wurde beruflich rehabilitiert. Im ersten Verfahren enthielt man dem psychiatrischen Gutachter vor, dass Siegfried als Amtskollege heftig in die erotische Konkurrenz geriet.

     

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

    Der Text wurde vorgetragen bei der BDSÄ-Jahrestagung 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Titel „Fehler“

  •  

    Ein entfernter Onkel von mir plauderte gerne aus seiner Vergangenheit. Er hatte etliche Jahre als Arzt in einem Gefängniskrankenhaus gearbeitet.

    Einmal erzählte er folgende Begebenheit:

    Im Krankenhaus waren für jede Station einige Gefangene als Hilfskräfte ausgewählt, sie hatten eine Sonderstellung: Man nannte sie Kalfaktoren.

    Einer von ihnen, Walter Pingel, von Beruf Bäcker, war besonders geschickt und zuverlässig. Als er nach zwei Jahren entlassen wurde, bedauerten wir alle, dass seine Freiheitsstrafe nicht länger währte. Zum Abschied bedankte er sich sehr, denn er fühlte sich gut behandelt und er war froh, dass wir ihn im Krankenhaus behalten hatten und er nicht wieder in die Braunkohle zurück musste, wo er das erste Jahr verbüßt hatte.

    Walter Pingel, ein Mecklenburger, versprach, für unsere Station eine wunderschöne Torte zu backen und eigenhändig zum Krankenhaus zu bringen. Wir brachten unsere Freude darüber zum Ausdruck und nahmen das Versprechen als gutgemeinten Gedanken, nicht an die Verwirklichung glaubend. Aber, er war eben ein Mecklenburger. Versprochen ist versprochen.

    Drei Wochen später bekam ich telefonisch vom Wachgebäude Bescheid, dass ein Herr Pingel mit einer Torte im Karton gekommen sei und diese für unsere Abteilung abgeben wolle. Am liebsten würde er sie mir, dem Chefarzt, übergeben. Der Karton sei bereits geprüft, es sei wirklich eine Torte darin und geviertelt sei sie auch schon, um sicher zu gehen, dass in der Torte keine Feile und kein Messer versteckt seien.

    Ich gab Anweisung, Herrn Pingel in den Besucherraum zu führen und dort auf mich zu warten.

    Herr Pingel übergab mir dann mit Stolz die selbstgebackene Torte. Sie war mit Sahne ummantelt, deren Oberfläche mit Raspelschokolade bedeckt war und am Rand 16 Sahnerosetten trug, darauf jeweils eine kandierte Kirsche.

    Herr Pingel wollte sicher sehen, wie mir die Torte schmeckte und bat mich, gleich ein Stückchen zu probieren. Das wollte ich nur tun, wenn er ein Stückchen mitessen würde. Er willigte ein. Der Wachmann lehnte ab. Die Torte schmeckte fantastisch. Herr Pingel war voller Freude. Er erklärte mir, dass er sechs Eier verwendet hatte, deren Eiweiß zu Schnee geschlagen worden war. Das Eigelb hatte er mit Zucker schaumig gerührt und unter die im warmen Wasserbad geschmolzene Kuvertüre mit Butter gezogen. Die weiteren Schritte der Herstellung konnte ich mir nicht merken.

    Jedenfalls wurde der gebackene und erkaltete Biskuit waagerecht zweimal durchschnitten und mit Kirschsaft und Kirschwasser getränkt. Die Zwischenräume wurden mit Sahne ausgelegt. Verwendung fanden auch Zucker, Mehl, Speisestärke und Backpulver. Er wolle mir gerne das Rezept zusenden.

    Ich erkundigte mich nach Frau und Kindern und der Wiederaufnahme der Tätigkeit als Bäcker. Alles erschien positiv. Herr Pingel verabschiedete sich und ich ging mit den 14 Stücken  Torte zu meiner Krankenstation, wo ich ein gemeinsames Kaffeetrinken mit Torte für den Nachmittag plante.

    Als ich mein Zimmer betrat, sagte mir die Sekretärin, ich solle sofort zum ärztlichen Direktor kommen. Warum, dass wusste sie nicht.

    Der Direktor hatte inzwischen durch den Diensthabenden der Wache von der Tortenübergabe erfahren und machte mir heftige Vorwürfe, dass ich die Torte überhaupt angenommen hatte. Und das von einem ehemaligen Gefangenen! Die Torte dürfe doch auf keinen Fall gegessen werden, sie könnte doch vergiftet sein. Ich möge mir doch nur einmal vorstellen, was es bedeute, wenn das gesamte Personal meiner Abteilung, ich eingeschlossen, wegen Krankheit ausfiele oder wegen Todes ersetzt werden müsse.

    Auf meinen Einwand, dass wir die Torte ja auch den Kalfaktoren geben könnten, erwiderte er, dass es mindestens genau so schlimm sei, keine Hilfskräfte mehr zu haben. Dann müssten Pfleger und Schwestern ja alle Arbeiten allein verrichten.

    Ich wurde langsam wütend und sagte: “Dann geben Sie die Torte doch den Hunden in der Laufzone”. Der Direktor erregte sich ebenfalls: “Das wäre ja noch furchtbarer. Wissen Sie, was so ein Tier kostet und wie viel Zeit es braucht, um es abzurichten?”

    Daraufhin habe ich meinen Dienstvertrag nicht verlängert.

    Die Torte wurde in einem chemischen Labor auf Gifte untersucht und, da sie kein Gift enthielt, von den dortigen Mitarbeitern verzehrt, was ich neidvoll zur Kenntnis nehmen musste.

     

    Copyright Dr. Jürgen Rogge

    Der Text wurde vorgetragen bei der BDSÄ-Jahrestagung 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Titel „Fehler“

     

  •                                               SPRINGTIME

    (deutsche Übersetzung von Dietrich Weller am Ende des Textes)

    Simon-Springtime-Bild -neu

     

    The painting on the silk shows birds, a budding apple tree and flourishing roses. The painter is familiar with the old saying, “One showing is worth a hundred sayings”.
Above the drawings are Chinese pictograms .成熟 味 鸣 which appear to the foreigners as a “secret message”. 
However, these show  the perfection of the artist. The inscriptions when translated mean: flower’ fragrances are delightful and birdsongs are beautiful.

    Not only can one see the drawings, one hears marvelous birdsongs and enjoys the scent and smell of the heady perfume of the flowers wafting in the breeze. 
Thanks to the birdsongs and thanks to the flower’s aroma our lives are made more pleasant.

    Furthermore, birds’ songs are important for all life on Earth. There is a magical reason for this little known phenomenon.

    The singing of birds create a particular sound vibration that promotes the growth of the new and fresh young leaves of trees, plants and flowers.
 So, the birdsongs are heard all day long in the Spring, while the new growth is occurring.

    During the summer months, the birdsongs cease except at dawn and dusk. At dawn and in the early morning, the trees and plants stimulated by birdsong, absorb carbon dioxid  from the air and give off pure oxygen.

    In the winter the birds fly south and with their songs promote the growth of the plants there.

    Without the birds’ songs, there is no sound vibration and therefore no growth of all plant life. Without plant growth there is a lack of food for animals and humans.

    The artist is not only a painter, but a teacher. Admire the paintings, but with a profound gratitude listen to the birds singing. 
The birds’ song assures continuous growth of all plant life and theexistence of Earth’s inhabitants.

     

    All birds know where and when to build their nests. If bird know how and where to build their nests, then they know the purpose-of- life. It is paradoxical that the wisest creature, man, does not know what life’s purpose is. It is not possible to embrace the real meaning of life,
if one regards life as a universal meaning. However, to consider it as an individual is simple.

    The purpose-of-life is by cultivating the habits of kindness and goodness, and to pursue exclusively kind thoughts and deeds.
 Kindness exists in the spiritual life, although one may not see a clear indication or reward in return.Nevertheless one feels compensated with our conscience

    Alas, kind deeds are like beautiful flowers they sadly fade through time.

     

    Copyright by Dr. med. André Simon, andre.simon@hin.ch                                                                                             

     

    Frühlingszeit

    (übersetzt von Dr. Dietrich Weller)

    Das Gemälde auf der Seide zeigt Vögel, einen knospenden Apfelbaum und blühende Rosen. Der Maler ist bekannt durch das Zitat: „Ein Bild sagt so viel wie hundert Worte.“ Über der Zeichnung stehen chinesische Piktogramme, die für den Fremden wie eine geheime Nachricht anmuten. Sie zeigen jedoch die Vollkommenheit des Künstlers. Wenn man die Inschriften übersetzt, bedeuten sie: „Blütendüfte sind genussvoll und Vogelgesänge sind schön.“

    Man kann nicht nur die Zeichnungen sehen, man hört wunderbare Vogelgesänge und genießt den Duft und Geruch der Kopfnote der Blumen, die in der Brise heranwehen. Dank der Vogelgesänge und dank der Blumenaromen werden unsere Leben angenehmer gemacht.

    Außerdem sind die Lieder der Vögel wichtig für alles Leben auf Erden. Es gibt eine magische Begründung für dieses nur gering bekannte Phänomen.

    Die Gesänge der Vögel schaffen eine besondere Tonschwingung, die das Wachstum der neuen und frischen jungen Blätter von Bäumen, Pflanzen und Blumen fördern. Deshalb hören wir im Frühling den ganzen Tag über die Vogelgesänge, während das neue Wachstum gedeiht.

    Während der Sommermonate lassen die Vogelgesänge außer in der Morgen- und Abenddämmerung nach. Angeregt vom Vogelgesang nehmen die Bäume und Pflanzen in der Morgendämmerung und am frühen Morgen Kohlendioxid auf und geben reinen Sauerstoff ab.

    Im Winter fliegen die Vögel nach Süden und fördern dort das Wachstum der Pflanzen. Ohne die Vogelgesänge gibt es keine Tonschwingungen und deshalb kein Wachstum des Pflanzenlebens. Ohne Pflanzenwachstum entsteht ein Nahrungsmangel für Tiere und Menschen.

    Der Künstler ist nicht nur ein Maler, sondern ein Lehrer. Bewundern Sie die Gemälde, aber hören Sie mit tiefer Dankbarkeit den Vögeln beim Singen zu. Der Vogelgesang sichert dauerhaftes Wachstum allen Pflanzenlebens und die Existenz der Erdbewohner.

    Alle Vögel wissen, wo und wann sie ihre Nester bauen müssen. Wenn Vögel wissen[1], wie und wo die Nester zu bauen sind, kennen sie den Sinn des Lebens. Es ist paradox, dass das weiseste Lebewesen, der Mensch, nicht weiß, was der Sinn des Lebens ist. Es ist nicht möglich, die wirkliche Bedeutung des Lebens zu umfassen. Wenn man Leben als eine allgemeingültige Bedeutung betrachtet. Es jedoch als individuell aufzufassen ist einfach.

    Der Sinn des Lebens besteht darin, die Verhaltensweise der Freundlichkeit und Güte zu pflegen und ausschließlich gute Gedanken und Taten zu verfolgen. Freundlichkeit existiert im spirituellen Leben, obwohl man kein klares Anzeichen oder keine Anerkennung als Antwort erkennen mag. Nichtsdestotrotz fühlt man einen Ausgleich in unserem Bewusstsein.

    Also: Freundliche Taten sind wie schöne Blumen, sie schwinden traurigerweise im Laufe der Zeit.

     

    Copyright für die Übersetzung Dr. Dietrich Weller