Tag: 30. Mai 2017

  • Ein Beitrag zur Lesung Gehen oder Bleiben beim BDSÄ-Kongress in Gummersbach 2017

     

    Ein Blütentraum 

    Immer, wenn ich durch Schönhagen fuhr, der an dem verzweigten See gelegenen Stadt mit einer doppeltürmigen Kirche, stieg in mir die Erinnerung an Dich auf.

    Bevor der Zug hielt, blickte ich in die Bahnhofstraße, eine Allee mit japanischen Zierkirschen, die zur Blütezeit im Mai mit ihrem strahlenden Weiß-Rosa die Seele heller leuchten ließ.

    Und wenn der Zug hielt, schaute ich auf den Bahnsteig hinaus. Aber ich sah Dich nie.

    Hätte ich aussteigen sollen, um Dich zu suchen? Nein. Das Leben war anders gelaufen. Ich hatte schließlich Familie, Kinder, eine interessante Arbeit.

    Und doch. Ich musste an Dich denken.

    Warum bin ich nicht bei Dir geblieben? Du warst so großartig. Dir vor allem verdanke ich  so wunderbare Erlebnisse und Gefühle. Wir konnten so herrlich miteinander lachen. Was haben wir nicht alles gemeinsam unternommen!

    Du warst nicht nur schön, sondern auch klug. Das in einer Person, sagte mein Vater, finde sich selten.

    Du spieltest Flöte und machtest mich mit Musik vertraut, die ich nicht kannte. Ich war fasziniert davon, wie Du die richtigen Finger im richtigen Moment auf die richtigen Öffnungen setzen konntest, damit der richtige Ton entstand. Ich durfte auch probieren, aber es kam nur ein Quietschen zustande.

    Als wir in Berlin waren und Du mich in die Staatsoper zum Violinkonzert von Mendelssohn-Bartholdy führtest, lernte ich eine ganz andere Welt kennen. Aber als Du mir die Schallplatte mit diesem Konzert, Du hattest sie unter Schwierigkeiten gerade erst erworben, eine Woche  später vorspieltest, kam mir die Musik nur „irgendwie bekannt“ vor.

    Du warst mir in dieser Beziehung über, ebenso beim Anhören von Balladen, die Peter Anders sang. Und Du verfolgtest sogar alles auf der Partitur.

    Ich besitze diese Schallplatten noch und höre sie zuweilen.

    Weißt Du noch, als wir zelteten? Nachts kamen Wildschweine. Ohne Dich hätte ich mich nicht getraut, sie zu vertreiben. Wir gingen dann noch am See entlang. So schön hat der Mond – ganz nahe, groß und orangefarben leuchtete er – nie wieder geschienen. Über dem Wasser zogen zarte Nebelschwaden dahin. Beim Fangen von Glühwürmchen glitten wir ins schon etwas feuchte Gras, was wir erst später bemerkten. So laue Nächte gab es niemals mehr.

    Als wir einmal an den FKK-Strand gelangten, bedeutetest Du mir, dass das noch nichts für mich sei.

    Nun ja, von zu Hause kannte ich Nacktbaden nicht. Aber Du warst doch ohne Badeanzug noch viel schöner als mit. Deine ebenmäßigen Beine waren an den Waden mit kleinen schwarzen Fusselhaaren bedeckt. Du hattest es gerne, wenn ich sie Dir streichelte. Heute rasieren sich die Mädchen diese Haare ab und erinnern mich an Nacktschnecken.

    Oh, und die Leberflecke auf Deinem Rücken sahen aus wie das Sternbild der Waage. Du hattest gescherzt: „Wer waagt, gewinnt.“

    Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass Du die Gans zum Mittag im Backofen braten musstest. Deine Mutter wollte mir wohl zeigen, dass Du auch kochen konntest.

    Und ich durfte die braun gebratene Gans zerlegen. Vermutlich wollte Deine Mutter sehen, ob ich das Tranchieren beherrsche.

    Als ich den ersten Flügel abtrennte, kam noch Blut aus dem Gelenk. Die Gans war nicht gar geworden. Ein Schreck für Deine Mutter und vor allem wohl für Dich. Und sofort erklärtest Du, dass wir Chinesisch essen würden. In China würde, jedenfalls bei Ente, nur die Oberschicht mit der Haut in Oblatenstärke abgetrennt und verspeist. Das hattest Du gelesen, wie Du mit später verraten hast. Wir aßen also Chinesisch und die Situation war gerettet.

    Später haben wir noch oft darüber gelacht, vor allem über das Gesicht Deiner Mutter.

    Du konntest auch so unbeschwert tanzen. Unvergesslich, Dich in den Armen zu halten.

    Als Du auf dem Betriebsfest, wohin ich Dich mitgenommen hatte, in Deinem weißen Kleid mit dem wehenden Rock allein weiter tanztest, weil Du nicht bemerktest, dass die Musik gar nicht mehr spielte, bildeten die Anwesenden einen Kreis und klatschten im Takt. Und mein Chef, verheiratet, drei Kinder, sagte zu mir: „Schauen Sie sich das an! Da bekommt man doch gleich Lust auf was Neues.“

    Ach, Deiner Mutter hattest Du auf eindringliche Nachfrage erzählt, ich hätte versucht, Dich zu küssen. Dabei hatten wir uns längst geküsst. Und wie!

    Deine Mutter stellte mich zur Rede: ob denn das jetzt schon sein müsse? Brav und etwas eingeschüchtert hatte ich verneint, wurde aber rot bei dieser Lüge.

    Ich musste an den Tag denken, den wir bei meinen Eltern, als sie im Urlaub waren, im wesentlichen im Bett verbrachten, so wie Klärchen und Wolfgang in Kopenhagen. Du hattest lächelnd aus dem Fenster in den blauen Himmel geschaut und festgestellt: „Ihr habt aber eine hübsche Stadt hier.“

    Und haben wir nicht herrlich verspielt mit Deiner kleinen Schwester herum getollt? Sie hing an mir wie an einem großen Bruder. Oder – ich war ganz erschrocken bei dem Gedanken – wie an einem Vater?

    Einmal hatte sie Schluckauf, schon seit Stunden. Tiefes Einatmen und Luftanhalten hatte nicht geholfen. Da nahmst Du die Sache in die Hand:

    „Leg Dich mal hin“, sagtest Du. „Die Augen schließen. Tief einatmen. Die Luft anhalten. Und an den Schluckauf denken. Wie sieht er aus? Welchen Mund hat er? Wie groß ist seine Nase? Siehst Du ihn? Ganz dunkelgrün ist er.“

    Deine Schwester nickte.

    „Nun fliegt er in den Himmel, an den Kuschelwolken vorbei, wird immer kleiner. Weg ist er.“

    Und tatsächlich, der Schluckauf war verschwunden.

    Deine Schwester fragte ungläubig: „Woher hast Du gewusst, wie er aussieht?“

    Du hattest Deine langen Wimpern bedeutsam auf und zu geklappt und geantwortet: „Ich wusste es nicht, ich habe es nur geahnt.“

    Warum war unsere Liebe eigentlich verschwunden?

    Manchmal dachte ich, sie ist gar nicht zu Ende gegangen.

    Warum geht eine Liebe überhaupt vorbei? Und warum beginnt sie? Wieso verliert am Beginn alles bisher Gewesene seine Bedeutung?

    Als Du mir in einer dunklen Nacht ins Ohr flüstertest, Du wünschtest Dir ein Kind von mir, hattest Du mich damit erschreckt. Du dachtest ans Heiraten. Und ich wollte nicht, jedenfalls noch nicht. Bindungsangst nennt man das wohl.

    Ich verhielt mich zögerlich bis ablehnend, wollte plötzlich nach Hause.

    Du hast mich zum Bahnhof begleitet und geweint. Der Zug fuhr erst in einer Stunde. Die ganze Zeit hast Du geweint.

    Dann sah ich Dich nie wieder.

    Aber immer, wenn ich durch Schönhagen fuhr, warst Du mir wieder nah.

    Dein Lachen erinnerte mich an unsere glücklichen Zeiten. Dein Weinen weckte Schuldgefühle in mir.

    Ich bin Dir unendlich dankbar.

    Du hast mir die Augen geöffnet für Donizettis „Liebestrank“, für die Musik von Mendelssohn-Bartholdy im „Sommernachtstraum“ und für den großen Geiger und Dirigenten Yehudi Menuhin. Für Kurt Masur – noch in Berlin – mit „Le Sacre du Printemps“ von  Strawinsky und Manfred Krug in „Porgy and Bess“, für die Felsenstein-Inszenierungen an der Komischen Oper insgesamt. Für Wolf Kaiser als Mackie Messer und Helene Weigel als Mutter Courage im Berliner Ensemble. Für die ganze Kulturszene überhaupt. Und für viele andere Dinge des Lebens und Liebens, deren ich mir erst nach Dir bewusst wurde.

    Heute fuhr ich wieder durch Schönhagen.

    Zu Füßen der japanischen Kirschbäume war ein Meer von Blütenblättern zu rosafarbenen Schneehaufen aufgetürmt. Die Äste wirkten noch ein wenig kahl, denn erst jetzt, nach der Blüte, begannen die ersten Blätter zu sprossen.

    Wie gewohnt, sah ich auf den Bahnsteig, um nach Dir zu schauen.

    Ein heißer Schauer durchfuhr mich. Da standest Du. Schlank wie eh und je. Die dunklen Haare immer noch sportlich kurz. Deine Augen wie Kohlen. Dein Lachen  dunkler als früher.

    Ich stürzte aus dem Zug, als zum Einsteigen aufgerufen wurde, und eilte auf Dich zu.

    Fast, aber eben nur fast, hätte ich Dich umarmt.

    Ich sah Deinen Mund mit den senkrechten Falten in der Oberlippe. Es war der Mund meiner Mutter. Hab ich Dich deshalb geliebt? Gibt es tatsächlich so eine Prägung?

    „Hallo, erkennst Du mich nicht?“

    Du gucktest verständnislos.

    „Ich bin es. Georg Falkenstein!“

    Erkanntest Du mich wirklich nicht? Na ja, 50 Jahre sind eine lange Zeit. Ich war fülliger geworden, eben älter, hatte keine Haare mehr auf dem Kopf und trug eine Brille.

    Du sagtest: „Falkenstein? Georg Falkenstein? Irgendwo muss ich den Namen schon einmal gehört haben.“ Dabei schütteltest Du leicht den Kopf.

    Und Du gingst davon, erst langsam, dann immer schneller.

     

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    Beitrag zur Lesung Gehen oder Bleiben auf dem BDSÄ-Kongress 2017 in Gummersbach

     

    Zähne, die fehlen

    Ein Zahn, der beißt, der tut nicht weh,
    ein Zahn, der nicht mehr beißt, tut doppelt weh.
    Ist es mit Zähnen wie mit Partnern?
    Sie machen Schmerzen, bis man sie bekommen hat,
    sie machen Schmerzen, seit man sie bekommen hat,
    und machen Schmerzen, wenn sie hassen
    und schließlich uns verlassen.
    Der Zahnbruch, subjektiv genommen,
    ist ohne Zweifel immer unwillkommen.

    Mitunter sitzt die ganze Seele
    In eines Zahnes dunkler Höhle.
    Ein hohler Zahn ist ein Asket,
    der allen Lüsten widersteht,
    weil Mundgeruch dem hohle Zahn entweht.
    Auch können Zahnspanggürtel
    fungieren wie ein Keuschheitsgürtel.
    Doch hat’s die gute Eigenschaft,
    dass sich dabei die Lebenskraft,
    die oft man außenhin verschwendet,
    auf einen Innenpunkt hinwendet.
    Es ist und bleibt ein weher Zahn
    ein schlechter Schlafkumpan.

    Ein Zahn, er macht mitunter
    die faulsten Leute munter.
    Besonders an den Zähnen nagt
    der Zahn der Zeit und plagt.
    Die Lust aufs allerbeste Beafsteak
    wächst, wenn der letzte Zahn fällt weg.
    Es ist und bleibt der wehe Zahn
    ein schlechter Fresskumpan.

    Wird der Betäubungsstich gesetzt,
    und fühlst du das bekannte Bohren,
    das Zucken, Rucken und Rumoren,
    ist sie beendet, deine Weltgeschichte,
    vergessen sind die Kursberichte,
    die Steuern und das Einmaleins,
    kurz, jede Form gewohnten Seins.
    Was sonst real erscheint und wichtig,
    wird plötzlich wesenlos und nichtig.
    Es ist und bleibt der wehe Zahn
    ein schadenfroher Wegkumpan.

    Warum bohrt bloß
    der Zahnarzt früh am Morgen los?
    Ach ja: die Morgenstund
    hat Gold im Mund!

    Ja, selbst die alte Liebe rostet,
    man weiß nicht, was der Zahn im Urlaub kostet,
    denn einzig in der engen Höhle
    des wehen Zahnes weilt die Seele,
    und unter Toben und Gesaus
    entschließt du dich: Er muss heraus!

    Du kommst zum Schluss:
    Dich reizt das Apfel-Essen nicht.
    O, lass uns schauen!
    Du hast bloß Implantate nicht
    genug zum Apfel-Kauen!

  • Beitrag zur Lesung über das Thema Gehen oder bleiben

    BDSÄ-Kongress Mai 2017

    Vorbemerkung: Mein Freund Ronald hat mir ausdrücklich erlaubt, diese Geschichte hier vorzutragen.

    Die emotionale Hürde

    Ronald rief mich an:

    „Du hast doch Erfahrung mit Patientenverfügungen. Ich brauche Deinen Rat.

    Meine Mutter lebt in Kanada mit ihrem zweiten Mann. Vor ein paar Tagen ist sie in der Küche gefallen und hat sich eine Kopfplatzwunde zugezogen. Ihr Mann rief den Krankenwagen, man brachte sie in die Klinik, dort wurde die Wunde genäht. Dann haben sie meine Mutter wieder entlassen. Ein paar Stunden später stürzte sie noch einmal und verletzte sich wieder. Als sie jetzt in das Krankenhaus kam, hatte einer der Ärzte die Idee, ein Computertomogramm vom Schädel zu machen. Dabei stellten sie eine große Hirnblutung fest, und Mutter wurde stationär aufgenommen.

    In den folgenden Stunden verschlechterte sich ihr Zustand rapide, und sie starb.

    Mein Stiefvater war natürlich völlig entsetzt, er fuhr aber schließlich nach Hause. Am nächsten Morgen wollte er beim Bestattungsinstitut die Beerdigungsformalitäten regeln. Der Bestatter sagte nach einem Blick in seinen Computer:,Ihre Frau ist nicht als tot gemeldet. Sie lebt noch.`

    ,Nein, nein, sie ist tot! Ich war dabei, als sie starb!`

    Der Bestatter blieb bei seiner Meinung: ,Sie würde hier auf meiner Liste stehen, wenn sie tot wäre. Bitte gehen Sie noch einmal zur Klinik, und vergewissern Sie sich!`

    Mein völlig verunsicherter Stiefvater fuhr zur Klinik. Dort traf er auf die Krankenschwester, die beim Sterben meiner Mutter anwesend gewesen war.

    Sie erschrak beim Anblick meines Stiefvaters und berichtete stockend:

    ,Ich habe Ihre Frau nach ihrem Tod zugedeckt in den Raum für Verstorbene geschoben. Als ich eine Weile später kam, um sie zu waschen, hörte ich ein Röcheln unter der Decke. Ihre Frau war tief bewusstlos und atmete ganz flach. Ich schlug sofort Alarm, und wir brachten sie auf Station. Dort liegt sie jetzt.‘

    Ein Arzt erklärte meinem Stiefvater, es sei ihm völlig unklar, wie es nach dem festgestellten Tod noch einmal zur Spontanatmung hatte kommen können. Dieser jetzige Zustand könne noch lange anhalten. Vielleicht sogar Wochen und Monate. Eine Hoffnung auf Heilung habe er nicht, die Hirnblutung sei viel zu ausgedehnt. Wenn Mutter überleben würde, dann nur schwerst hirngeschädigt.“

    Ronald machte eine kurze Pause, dann fragte er: „Wie sollen wir uns verhalten, was soll ich meinem Stiefvater raten? Soll die Ernährung fortgeführt werden? Sollen Medikamente gegeben werden?“

    „Zuerst will ich dir sagen, wie leid mir diese Situation tut. Das ist eine echte Schock- und Horrorgeschichte. Gibt es eine Patientenverfügung?“

    „Ja, die gibt es, und meine Mutter hat ganz klar verfügt, dass sie in einem hoffnungslosen Krankheitszustand keine lebens- und leidensverlängernden Maßnahmen will.“

    „Dann ist nach deutschem Recht die Situation ganz klar. Ernährung anzuordnen, zum Beispiel intravenös oder mit Magensonde, und Medikamente zu geben, sind ärztlich anzuordnende Leistungen. In dem vorliegenden Fall würden Ernährung und Medikamente das Leben und vielleicht sogar das Leiden verlängern. Die Ärzte dürfen also gar keine Ernährung und Medikamente geben, da dies gegen den erklärten Willen deiner Mutter geschieht.

    Die entscheidenden Fragen bei jedem neuen Medikament oder jedem neuen Ernährungsbeutel sind:

    • Darf ich diesen nächsten Beutel, dieses nächste Medikament geben?
    • Nützt es dem Patienten?
    • Würde der Patient das jetzt wollen?

    Es geht nicht darum, ob das Medikament oder die Ernährung objektiv wirkt, sondern ob sie subjektiv nützen. Und über den Nutzen entscheidet allein der Patient.

    Nach deutschem Recht sind Ernährung und Medikamentengabe gegen den erklärten Willen des Patienten vorsätzliche Körperverletzung nach §223 StGb. Ich vermute, das ist nach kanadischem Recht auch so. Aber das kann man ja fragen.“

    Ronald sagte erleichtert: „Diese Antwort habe ich erwartet. Danke, dass du das so klar formulierst. Was soll ich tun?“

    „Schlage deinem Stiefvater vor, mit der Patientenverfügung zu den behandelnden Ärzten zu gehen und sie auf die Vorschriften deiner Mutter zur Therapie in dieser Lebensphase aufmerksam machen. Er sollte sie bitten, die Ernährung und die Gabe von Medikamenten einzustellen. Wichtig ist eine sorgfältige palliative Versorgung, die für Beschwerdefreiheit sorgt. Dann wird sie in den nächsten Tagen, vielleicht sogar innerhalb eines Tages sterben. Das ist meiner Meinung nach das Gnädigste, was Ihr für sie noch tun könnt. Sie hat es so verfügt, deshalb müsst Ihr es so machen.

    Das Therapieziel ist nicht mehr, die Frau am Leben zu halten und zu heilen, sondern es hat sich durch die sehr schlechte Prognose verändert. Jetzt besteht das Therapieziel darin, der Patientin zu helfen, damit sie möglichst beschwerdefrei sterben kann.“

    Wir wechselten noch herzliche Worte, und ich bat Ronald, mich über den weiteren Verlauf zu informieren. – Ein paar Tage später rief er mich wieder an:

    „Mein Stiefvater ging in die Klinik und wollte mit den Ärzten sprechen. Er war sich völlig klar darüber, dass es seine Aufgabe war, jetzt den vor Jahren gemeinsam verfassten Beschluss umzusetzen und die Ärzte um eine Beendigung der Therapie zu bitten. Aber er brachte es nicht über´s Herz, den Ärzten diese Entscheidung zu vermitteln. Denn er sah plötzlich den Konflikt, dass er dann entscheiden müsste, dass JETZT die Flüssigkeitszufuhr abgestellt wird. Er hatte das Gefühl, damit den Todeszeitpunkt durch Verhungern zu bestimmen. Und dies, obwohl er wusste, dass der natürliche Verlauf diesen Zeitpunkt bestimmen würde.

    Also verließ er die Klinik, ohne den Ärzten den Beschluss in der Patientenverfügung mitzuteilen. Er sagte zu mir: ,Lass mich noch ein paar Tage warten. Ich hoffe, dass die Natur einen gnädigen Abschluss findet.`“

    Die Mutter starb einen Tag später bei laufenden Infusionen.

     

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    Mein Beitrag zur Lesung  „Plötzlich war alles ganz anders“

    Moderation Hans Brockmann

    Samstag, 27. Mai 2017

    BDSÄ-Jahreskongress Gummersbach

     

     

    Der Bläuling

    An diesem Nachmittag lag meine Stimmung etwas unter der Mittellinie. Ich war müde und wusste, dass mir noch eine Nachtsprechstunde in der Notfallpraxis bevorstand. Nach einem Schläfchen auf dem Sofa saß ich wieder am Schreibtisch, um einen Beitrag über Donald Trump zu überarbeiten, den ich zu der Lesung von Hans Brockmann zum Thema Plötzlich war alles anders geplant hatte. Ich spürte, dass ich nicht richtig vorwärts kam. Die schlechte Laune, die ich bei meinen Gedanken an diesen malignen Narzissten Trump verspürte, bremste mich. Ich überlegte, ob ich einfach aufstehen und etwas anders tun oder über etwas ganz anderes schreiben sollte. Aber worüber? Mir fiel nichts ein. Das ist der typische Moment, in dem ich auf eine Eingebung zur rechten Zeit hoffe und bereit bin, einfach abzuwarten. Ich stand auf und wollte mir in der Küche eine Tasse Kaffee machen, da zeigte eine Meldung am PC, dass mein Freund Giovanni eine E-Mail geschickt hatte. Ich las die kurze Nachricht. Dann erkannte ich, dass die Post einen Anhang trug.

    Giovanni ist Künstler und erfreut Birgit und mich immer wieder mit seinen Bildern.

    Ich öffnete die Datei. Und plötzlich war alles ganz anders.

    Da flatterte ein Schmetterling auf eine Feige zu und füllte mit seinen blauen Flügelchen etwa ein Drittel des Blattes. Die Zartheit der Stimmung erfasste mich sofort, und ich spürte meine Begeisterung über diese unverhoffte Begegnung. Mein erster Gedanke war: So will ich das fotografieren! Giovanni hatte mit seinen Augen fotografiert und dann mit Wasserfarben diesen Schmetterling aufs Blatt gezaubert.

    Ja, richtig: Für mich ist seine Art zu malen eine Form von Zauber, vom dem eine Faszination ausgeht, die mich zum Hinschauen, zum Verweilen verführt.

    Giovanni weiß um meine Liebe zur Fotografie und zu Naturaufnahmen. Letztes Jahr hatte ich ihm von meinem Plan erzählt, ein Buch mit eigenen Schmetterlingsfotos zu gestalten. Da schenkte er mir ein Taschenbüchlein mit Gedichten und Prosatexten von Hermann Hesse über Schmetterlinge. So übernahm ich einige Texte in das Buch.

    Und jetzt dieser herrliche Bläuling! Es muss ein Bläuling sein, kein anderer Schmetterling hat solche hellblauen Ober- und Unterseiten. Obwohl die Konturen nur angedeutet sind, filigran umrissen und unvollständig ausgemalt, ergänzt mein Auge alles, was nicht in Einzelheiten gezeichnet ist. Die Flügel muten an wie bei den Glasflüglern, deren Flügel durchsichtig sind und wie Glasblättchen von einem feinen Rahmen gehalten werden. Die Beine und Fühler des Schmetterlings sind durch feinste Striche skizziert, der hellbraungrüne Leib mit zartester Struktur dem Insekt auf den Leib gepasst. Man sieht die Einkerbungen der Ringe, und doch sind sie nur hingetupft. Auch die geschlossene Feige mit ihrer dunkelvioletten Schale ist nicht voll ausgemalt. Da fehlt ein Stück Farbe, und genau das wirkt wie ein kleiner Lichtschimmer auf der Fruchthülle. Der Stängel der Pflanze ist nur mit einem Strich dargestellt, der aus einzelnen braungrünen Farbtupfen zusammengesetzt wird, und doch sehe ich die Rindenstruktur und die kleinen Abgänge der zarten Blätter. Auch die beiden Feigenblätter sind nur umrisshaft abgebildet und nur teilweise mit hellem Mattgrün gefüllt.

    Es gibt nur zwei Farben auf dem Blatt – blau mit zwei Schattierungen und grünbraun mit zwei Schattierungen, und doch wirkt es flügelleicht, sonnenhell, duftig.

    Vom fotografischen Standpunkt aus sehe ich: Das Objekt ist sehr gut freigestellt. Der Hintergrund verschwimmt völlig. Es gibt nur den Schmetterling im Vordergrund wie auf einer Nahaufnahme. Wenn ich aber genau hinschaue, gibt es gar keinen Hintergrund, denn Giovanni hat einfach ein hellbeiges Papier mit leicht grauem Unterton genommen, das perfekt als Hintergrund passt. Ich brauche nicht mehr Einzelheiten, um das Bild als vollständig zu empfinden. Das ist eine Eigenart von Giovannis Kunst: Er deutet nur das Wichtigste an und überlässt es dem Betrachter, den Rest der Wirklichkeit beizutragen.

    Ich war fasziniert und begann, das Bild auch unter grafischen Gesichtspunkten anzuschauen. Die Blattaufteilung ist perfekt. Das Hochformat ist optisch in Dreiecke eingeteilt, die durch Linien entstehen, die das Bild dritteln. Die erste Linie läuft von rechten Drittelpunkt des unteren Bildrandes in die obere linke Ecke. Hier zieht der Stängel der Feigenpflanze mit der Feige oben drauf. Die zweite Linie verläuft von dem mittleren Drittel des linken Bildrandes in die obere rechte Ecke. Sie verbindet das linke Blatt mit der Feige und dem oberen Rand des Schmetterlings von dem Vorderbein über den Kopf und den ganzen langen Flügel entlang. Die Feige sitzt genau auf der linken Drittellinie, und der Kopf des Schmetterlings markiert die obere Drittellinie des Bildes. Interessant: Auch hier sind die Linien nicht vollständig gezeichnet oder ausgefüllt. Jeweils ein Drittel der Linien sind gar nicht da. Sie existieren nur in meiner Fantasie. Hier hat Giovanni wieder etwas weggelassen und dadurch Spannung erzeugt. Das obere linke Dreieck des Bildes ist leer, und doch fehlt nichts. Es wirkt gefüllt von Hintergrund, von meiner Fantasie, die dort eine Wiese sieht.

    Das ist kein zoologisch-botanisches Bild für das Lexikon oder Lehrbuch. Das ist Naturkunst – Kunst in der Natur – Malerei mit ihrer Kunst, die Natur fantasievoll zu beschreiben, so dass dem Betrachter fast alle Fantasie überlassen bleibt.

    Wie gesagt: Plötzlich war alles ganz anders. Ich saß hellwach vor dem Blatt, voll Freude und Begeisterung. Ich vergaß die Zeit. Erst ein Blick auf die Uhr mahnte mich, in die Klinik zu fahren. Der Schmetterling begleitete mich den Abend hindurch. Ich schlief mit seinem Bild ein, und am Morgen flog er als erster Gedanke durch mein aufwachendes Bewusstsein und flügelte mich langsam wach, lange bevor ich die Augen öffnete. Dann versuchte ich, den Schmetterling mit Worten zu zeichnen.

    Später rief ich Giovanni an und bat ihn, mir das Originalbild zu verkaufen. Als er es mir brachte, erzählte er, dass es tatsächlich mit mir zu tun habe. Denn als er im letzten Jahr an der italienischen Blumenriviera malen wollte, fielen ihm die herrlich reifen Feigen vor seiner Terrasse auf. Dann blätterte er in meinem Schmetterlings-Fotobuch, das er von mir bekommen und in den Urlaub mitgenommen hatte, und fand dort einen Falter, der wunderbar auf die Feige passte. Also prägte er sich diesen ein und setzte ihn kunstvoll stilisiert in Wasserfarben auf die Feige. Jetzt hängt das Bild neben meinem Schreibtisch, und ich freue mich jeden Tag daran.

    Diese Geschichte soll zeigen, dass auch kleine Erlebnisse wichtig sind und ganz viel verändern können.

     

    Dietrich Weller

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    Sonne, schenk uns wieder deine Kraft,
    Leuchte uns in diesen finstern Zeiten.
    Sollst uns aus der tiefen, schwarzen Nacht
    In ein neues helles Land geleiten.

     

  • Panta rhei

    Wenn plötzlich alles anders ist,
    Was ist besonderes daran?
    Wir wissen doch, dass alles fließt,
    Der Zeiten Lauf hält niemals an.

    Aus Sternenstaub zur Erde schwebend
    Erblicken wir das Licht der Welt.
    Behaucht von Odem, sind wir lebend
    Aus den Atomen auf die Erd` gestellt.

    Und plötzlich stehst im Leben drin
    Du armer Tor.
    Wer gibt dir Ziel und Sinn,
    Und wer die Richtung vor?

    Der Weg, den du beschreitest –
    Ist`s Geschick?
    Der Kampf, den du bestreitest –
    Fallen oder Glück?

    Die Zeit verrinnt. Nun ist`s an dir
    Das nächste Glied der Kette neu zu schmieden.
    Was jetzt beginnt, das wissen wir:
    Das ew`ge Räderwerk kennt keinen Frieden.

    Versuch du nur,
    Die Kette zu durchbrechen.
    Es wird verwehen deine Spur,
    Das Fehlen wird sich einstmals rächen.

    Und weiter, weiter, Wand`rer durch die Zeit.
    Was dir begegnet, hat bestimmt dein Los.
    Glück, Unglück, Krankheit, Tod hält es bereit;
    Wer steuert auf dem Strome unser Floß?

    Der Strom wird breiter,
    mündet in das Meer der Ferne.
    Und silbrig-glänzend steigen immer weiter
    Tautropfen auf und werden Staub der Sterne

     

    Diese Gedicht wurde bei dem BDSÄ-Kongress 2017 in Gummersbach vorgetragen.