Monat: Juli 2018

  • Ein kleines Beispiel für einseitige Betrachtungsweisen

     

    Eigentlich weiß der moderne Mensch, dass er sich dem Bösen stellen muss, für seine eigene – nicht nur spirituelle – Entwicklung, wie auch für die Entwicklung der Menschheit ist es erforderlich. Er weiß auch, dass er seinen Egoismus überwinden muss. Überwinden, wandeln, nicht abspalten…  Doch dazu muss er es wahrnehmen, sehen, erkennen … in sich und in der Welt. Doch was geschieht? Täuschung und Illusionierung werden aktiviert! Es entsteht die Tendenz, schnell (vorschnell) zu pathologisieren… natürlich vor allem seinen Mitmenschen (dass er sich vielleicht täuscht, kommt ihm nicht in den Sinn) und weil er seinen eigenen Anteil bagatellisiert, fehlinterpretiert, erliegt er Illusionen, die die Selbsterkenntnis schließlich stören beziehungsweise verunmöglichen. Die Fehlinterpretation, die an Verleumdung grenzt beziehungsweise die einseitige Übertreibung eines Aspektes des schönen Narziss-Mythos sind ein Beispiel für diese Haltung.

    Mir ist jetzt ein kleines Beispiel eingefallen, das es verdeutlicht. Eine Erklärung zum besseren Verständnis: Ich beschäftige mich mit der Rose in all ihren Facetten, symbolischen Aspekt, ihre Bedeutung in der Menschheitsgeschichte, mit dem Namen der Rose, dem Wort, das in unzähligen Zusammenhängen existiert (Rosenwunder, Rosengarten, Rosarium, Rosenkreuz, Rosenkranz, Rosalien, Rosenmontag, die rosenfingrige Göttin).  Ich habe die Rose in der Osterglocke verborgen entdeckt … alles Themen, mit denen ich mich beschäftige und über die ich – hoffentlich – noch schreiben werde. Heute früh dachte ich, die Verleumdung – oder objektiver gesagt: die einseitige Betrachtungsweise des Narziss betrifft z. T. auch seine Blume (die doch wunderschöne Sternenblume, Becherblume, Frühlingsbote, die an vielen Orten die Böschungen der großen Strassen verschönt). Die Rose ist – zum Glück – davon verschont geblieben. Da fiel mir ein Spruch ein, der in meiner frühen Schulzeit mir ins Poesiealbum geschrieben wurde:

    Sei wie das Veilchen im Moose
    bescheiden und still
    und nicht wie die stolze Rose
    die immer bewundert sein will

    Mir tat die Rose leid, ich fand es ungerecht. Ich vermute, ich sah in ihrer entfalteten Blüte die sichtbare Hingabe an die Welt und die Freude, die sie durch ihr Blühen uns schenkt. Über das Veilchen dachte ich nicht nach, es war wie das Schneeglöckchen ein stiller Frühlingsbote, ich liebte seine Farbe, seinen Duft. In der Pubertät sah ich in diesem Poesiealbumspruch die Reste einer kleinbürgerlichen Erziehung.

    Und heute? Bescheidenheit ist keine erstrebenswerte Tugend mehr – zumindest nicht im virtuellen Chatroom. Zum Glück hat noch keiner gesagt: das Veilchen sei feige und ein Duckmäuser!

     

    Helga Thomas

    25.7.2018

     

     

     

  •                                                                               HEAVEN                    

     

     

                                                       

    The Chinese pictogram (Tiān) means the heaven. It consists of the line above a simplified drawing of a man with his arms stretched. The line directly above represents the horizon.

    The heaven is ever greater than humanity. The sign puts human beings between heaven and earth, and reminds one ,that human beings are just a minute part of everything under the heaven.

    The heaven is infinite, vast, omnipresent and ever-changing.

    However, the heaven has no beginning, because if it had, it would have had an end. It is a circle that at each point starts and ends infinitely.

    Heaven is not an abstract philosophical concept but an every – daily presence. The wind blows through its blue expanse. Clouds gather and vanish in its vastness.

    The human spirit of a genius is very possibly as extensive like a heaven.                                                           

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Himmel

    Das chinesische Piktogramm Tian bedeutet Himmel. Es besteht aus der Linie über einer vereinfachten Zeichnung eines Menschen mit seinen ausgestreckten Armen. Die Linie direkt darüber versinnbildlicht den Horizont.

    Der Himmel ist sogar größer als die Menschlichkeit. Das Zeichen stellt menschliche Wesen zwischen Himmel und Erde dar  und erinnert uns, dass menschliche Wesen gerade mal ein winziger Teil von allem unter dem Himmel sind.

    Der Himmel ist unbegrenzt, riesig, überall und ändert sich ständig.

    Aber der Himmel hat keinen Beginn, denn wenn er einen hätte, hätte er auch ein Ende. Es ist ein Kreis, der an jedem Punkt beginnt und im Unendlichen endet.

    Der Himmel ist kein abstraktes philosophisches Konzept, sondern eine all-tägliche Gegenwart.

    Der Wind bläst durch seine blaue Ausdehnung. Wolken sammeln sich und verschwinden in seiner unendlichen Weite.

    Der menschliche Geist eines Genies ist sehr wahrscheinlich so umfassend wie der Himmel.

     

     

     

  • Eindrücke

    (21.7.2018)

     

    Auf beiden Seiten des Fahrradweges
    frisch gemähte Getreidefelder
    an kurz geschorene Köpfe erinnernd
    zum Streicheln einladend
    An einigen Stellen schon der neue Pflug
    Schimmernde Heuballen abholbereit
     dazwischen ein einsamer Streifen Sonnenblumen
    Eine Schar wilder Gänse emsig weidend
    Ein junges Reh hastig den Weg überquerend
    Kreisförmige Wellen im Baggersee
    auf beschäftigte Insekten hinweisend
    Großer Ratschlag der Vögel auf der Stromleitung
    Der Himmel farbenfroh von der Abendsonne
    Neben mir deine beglückende Anwesenheit
    Immer wieder Hand in Hand

  • Book                     

     

    The Chinese pictogram Shū describes a book presented in bamboo strips tied together with threads. This book type is far ahead of the books written on the rice paper.

    A legend has it, that once an earthquake caused the displacement of boulders and reopened a cave. The cave was hidden for centuries by rocks and vegetation. When the people of this time explored the cave, they found art designs on the walls. In the center of the cave they also found human bones and the remains of a “book” with the signs etched on bamboo strips. This partially legible book told an obvious message. Unlike the dominant thoughts of that era, it described a person who had reconsidered his whole life and imparted the lessons of a new way of seeing things.

    The writings in this book are deeply respected and allow people to read about forgotten knowledge and  to travel distances over time and space.                                                                                                               

    Books are the safest bridge over which the time flows and which connects the time.

    Authors note:
    The oldest book of the Chinese classics and divination text, written more than 3500 years ago. is known as “I Ching (易經)
    I Ching” has philosophical commentaries and provides inspiration to the world of psychoanalysis offering the life’ lessons. It was translated   by German sinologist and missionary Richard Wilhelm (1873-1930), who lived in China for 25 years and became fluent in spoken and written Chinese. The psychologist Carl G. Jung was his friend and took interest in the possible universal nature of the” I Ching”, and a possibility of access to the unconscious. He explained it in the introduction to the first translated edition of “I Ching” (1923).   Carl G. Jung used the term synchronistic principle publicly in 1930 in his obituary to the friend.  


    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Das chinesische Piktogramm Shū beschreibt ein Buch, das in Bambusstreifen vorliegt, die mit Fäden zusammengebunden sind. Diese Art von Buch stammt aus einer Zeit, die lange vor den Büchern liegt, die auf Reispapier geschrieben wurden.

    Eine Legende schildert, dass einmal ein Erdbeben Felsgestein verschob und eine Höhle wieder eröffnete. Die Höhle war Jahrhunderte lang von Felsen und Gewächs verdeckt. Als die Menschen jener Zeit die Höhe erforschten, fanden sie Kunstwerke an den Wänden. Im Höhlenzentrum fanden sie auch menschliche Knochen und die Überbleibsel eines „Buchs“, auf dem die Zeichen auf Bambusstreifen geätzt waren. Das teilweise lesbare Buch vermittelte eine offensichtliche Botschaft. Anders als die überwiegenden Gedanken jener Zeit, beschrieb es eine Person, die ihr ganzes Leben betrachtet hatte und die Lektionen einer neuen Sicht auf die Angelegenheiten des Lebens vermittelte.

    Die Schriften in diesem Buch werden tief respektiert und erlauben den Menschen, über vergessenes Wissen zu lesen und Entfernungen über Zeit und Raum zu überwinden.

    Bücher sind die sicherste Brücke, über die Zeit fließt und die Zeiten verbinden.

    Anmerkung des Autors:

    Das älteste Buch der chinesischen Klassiker und Prophezeihungstexte, geschrieben vor mehr als 3500 Jahren, ist als I Ching (易經) bekannt.

    Das „I Ching“ enthält philosophische Kommentare und vermittelt Einsichten in die Psychoanalyse, indem es Lebenslektionen anbietet. Es wurde von dem deutschen Sinologen und Missionar Richard Wilhelm (1873 – 1930) übersetzt, der 25 Jahre lang in China lebte und Chinesisch in Wort und Schrift fließend beherrschte.

    Der Psychologe Carl G. Jung war sein Freund und zeigte Interesse an der allumfassenden Natur des „I Ching“ und an der Möglichkeit eines Zugangs zum Unterbewusstsein. Er erklärte das in der Einleitung zu der ersten übersetzten Ausgabe des „I Ching!“ (1923).   Carl G. Jung benützte den Begriff „synchrone Prinzipien“ 1930 öffentlich in seinem Nachruf für den Freund.

     

     

     

     

  • Selbstüberwindung

    (19.7.2018)

     

    In durchlöcherten Schuhschachteln
    umgeben von Maulbeerblättern
    sah ich die Entwicklung der Seidenraupen
    ihr mehrfaches Häuten
    die Entstehung der Kokons
    das kurze Dasein der Schmetterlinge
    die Farbveränderungen der kleinen Eier 

    In ständiger Selbstüberwindung
    auf unterschiedlichen Ebenen
    nahm mein Leben seinen Lauf
    bei aller Versunkenheit und Glückseligkeit
    stets begleitet von der Sehnsucht
    einen Meißelschlag auszuführen
    an der werdenden Statue
    der Menschengesellschaft

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  • Die Kunst des Belanglosen

    (2.7.2018)

     

    in Erinnerung an Hans Paasche (1881-1920)

     

    Kapital und Macht wurden vermehrt
    durch Herstellung und Vermarktung allerlei Gifte
    und durch Behandlung der Folgekrankheiten
    mit allem, was dazu gehörte 

    Unter diesen tragischen Umständen wurde
    die Kunst des Belanglosen bewusst
    von den Machthabern gefördert
    unter schäbiger Mitwirkung
    von Wissenschaftlern und Künstlern
    So verdunkelten vielschichtig
    hitzige Wortgefechte und irrwitzige Beschäftigungen
    die Ursachen der gesellschaftlichen Misere

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