Tag: 15. November 2018

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    Sprecher ist Clemens Kerz.

     

    Aus dem Leben einer Kirchenmaus

    Das Leben ist wunderbar. Selbst für mich, der ich eine arme, graue Kirchenmaus, männlich, ein Mäuserich bin. Ich lebe versteckt in einem großen zum Himmel reichenden Haus mit wunderlichen Bildern unter dem Dach und bunten Fenstern, durch die morgens und abends die Sonne tanzende rot – blaue Schattenbilder malt. Das Haus ist so lang, dass ich den Weg vom Kopf zum Fußende selten wage. Er ist gefährlich. Eigentlich lebe ich nur nachts sicher, wenn die Menschen das Haus verlassen haben, der Besitzer den goldenen Becher, die goldene Schale und das Kreuz auf dem Tisch abgeräumt, das Licht ausgeschaltet, die Türen verschlossen und sich schlafen gelegt hat.

    Vor ihm und den Menschen, die mit Wassereimern, Besen und Wischtüchern nicht einmal einem kleinen Staubkorn erlauben, sich auszuruhen, muss ich mich verbergen und in Acht nehmen. Ich darf keine Spuren hinterlassen, die auf meine Existenz deuten könnten. Ich habe da meine Erfahrung.

    Es ist gar nicht so lange her und der Schrecken dringt mir immer noch in meine Träume, als ich aus einem Wasserrest getrunken hatte, der von den Reinigungsmenschen übersehen worden war. Einen Tag danach bekam ich fürchterliche Bauchkrämpfe und einen so heftigen Durchfall, dass ich meine Toilette nicht mehr erreichen konnte. Wie es das Schicksal will, wurden meine Hinterlassenschaften sofort entdeckt. Die Menschen suchten nach mir in den dunkelsten Verstecken, stellten Käsefallen auf, ja, beauftragten sogar eine Katze mich zu fangen und zu töten.

    Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Ich musste hungern und darben. Ich flüchtete mich in die Einsamkeit hinter einem großen Bild im ersten Stock. Es zeigt einen abgemagerten Mann, der schwer an einem Kreuz trägt. Ich weiß nicht, ob er es war, der mir half, die verlockenden Käseversuchungen, den Hunger, Durst und all die Angst zu überstehen. Aber ich glaube es. Heute, da ich nach Tagen vorsichtig und voller Furcht in mein Zuhause zurückkehre, lächelt er mir zu.

    Zu meiner Überraschung begrüßt mich eine mir unbekannte, weiße, wahrscheinlich Einstein – intelligente Maus Madame. ‚Sie werde Madame Curie genannt. Sie sei eine Labormaus. Mit List und Verstand dem Verderben entronnen. Die Flucht sei extrem schwierig gewesen, da sie von der Welt außerhalb ihres Laborkäfigs nichts gewusst habe. Sie sei durch mehrere Abwasserkanäle geschwommen, habe sich erschöpft auf den stinkenden Abfällen der Menschen ausruhen können, und sei schließlich durch die offene Tür in die Kirche geschlüpft – denn das sei hier doch, so wie sie es auf ihrer langen Reise erfahren habe, ein Gotteshaus. Sie bitte um Aufnahme und Schutz. Um sorgfältige Betreuung. Hungrig sei sie und durstig dazu.‘

    Ich bin mit mir uneins. Da bittet um Aufnahme und Schutz eine Madame Curie, die wahrscheinlich welterfahren und intelligenter ist, als ich es bin. Ich habe von der Welt nichts, aber auch gar nichts, sie aber hat alles gesehen. Sie weiß sogar, dass mein großes Haus eine Kirche ist. Zweifelsfrei, sie ist schön, sexy, attraktiv. Aber ich? Bleibe ich Herr im Haus? Hat sie vielleicht einen Pakt mit der Katze oder mit dem Käsefallensteller geschlossen? Sagt ihnen, wann ich mein Versteck verlasse und zur leichten Beute werde?

    Kann ich ihr vertrauen? Wie kann Ich sie auf die Probe stellen? Vielleicht mit meinen Erinnerungen an die Vorträge über Wissen, Glauben, ferne Länder, die ich aus meinem Versteck verfolgen konnte?‘

    Ich bitte sie, sich zu mir an den Tisch zu setzen, mit mir zu essen und zu trinken. Ich nenne sie ‚Liebes‘ – ja, ich bin schon in der Stimmung sie ‚Liebes‘ zu nennen und sage zu ihr:

    „In der großen, weiten Welt war ich noch nie. Ich kenne nur die Menschen, die hier in das Gotteshaus kommen. Entweder sie fotografieren sich mit ihrem Smartphone, oder setzen sich andachtsvoll auf die Stühle.

    Die Menschen, die in den Vorträgen gezeigt werden, verhalten sich anders. Die tragen rote Schwimmwesten und sitzen eng aneinander gepresst auf kleinen Gummibooten, die über das Wasser schaukeln. Manchmal tobt das Meer. Dann fallen die Menschen hinein und ertrinken. Manchmal findet sie ein großes Schiff. Dann klettern die Menschen von dem kleinen Boot auf das Schiff.

    „Weißt du, warum die Menschen das tun? Haben sie keine Angst?“, frage ich sie. „Ich habe große Angst vor dem Wasser. Das Meer ist ein Teufel.“

    „Das Meer, sage ich dir, ist kein Teufel. Es folgt wie ein Mensch seinen Gefühlen. Mit Liebe und Hass, Mordlust und Mitleid, Neid und Gier. Das Gefühl des Wassers ist der Wind. Du musst den Wind begreifen, wenn du das Meer verstehen willst“, erwidert sie.

    „Und die Menschen? Hier in dem Gotteshaus sind sie friedlich. Reichen sich die Hände. Singen andachtsvolle Lieder. Knien und beten. Spenden sogar Geld“, erkläre ich.

    „In den Vorträgen aber erzählen die Menschen, „dass da draußen Kinder, Männer und Frauen gemartert und ermordet würden. Kinder und Frauen würden in einer Reihe aufgestellt. Ihnen dann die Köpfe abgeschlagen. Kleine Kinder würden auf alte Frauen schießen. Kampfjets Bomben abwerfen und ehrfurchtsvolle Häuser zertrümmern. Die Menschen würden hungern, sich hassen und Krieg führen. Die bösen Menschen würden die guten Menschen martern und vertreiben. Deshalb seien fliehende Menschen immer gute Menschen. Und guten Menschen müsse man helfen.“

    Sind diese Berichte Fake News? Besitzen böse Menschen kein Herz, keinen Verstand? Wissen böse Menschen, dass sie böse sind? Oder glauben sie, dass sie Gutes tun? Du kommst aus der Wissenschaft. Hast die weite Welt durchwandert. Bitte sage mir. Sagen die Vorträge die Wahrheit? Wenn ja, warum sind die Menschen dort so böse und hier so gut?“, frage ich sie.

    Sie lächelt mich an: „Wie der Wind die Stimmung des Meeres regelt, so bestimmt die Landschaft die Gefühle der Menschen. Ich war eine Versuchsmaus. Ich lag schon mit gespreizten Beinen auf dem Rücken. Eine weiß gekleidete Menschenfrau hielt mich fest und wollte mich töten, als sie einen Anruf erhielt. „Ich muss es dir sagen: Es ist aus mit uns. Endgültig!“, hörte ich die Telefonstimme. Die Menschenfrau wurde kreidebleich und ließ mich fallen. Ich benutzte ihre Verzweiflung. Floh sofort. Flitzte durch den Türspalt hinunter auf die Straße.  Suchte nach Schutz.

    Wenn du auf der Flucht bist, sind Katzen sehr gefährlich. Aber sie meiden Wasser wie die Pest. So rannte ich durch die Abwasserkanäle zum Flusshafen, schlich mich auf ein Containerschiff und fuhr als blinder Passagier um die Welt. Ich erlebte übersatte, aber auch magere Tage. An manchen fraß ich Menschenfleisch, das ich den Ratten stahl. Es schmeckt gar nicht so schlecht, sage ich dir.

    Ich verbarg mich in Kameltaschen und Schilfrohrhütten, klaute den hungernden Bauern das letzte Maiskorn. Dabei hatte ich kein schlechtes Gewissen, denn sie wurden sowieso erschossen. Auf weiße Mäuse aber schießt niemand. Zumindest nicht in Afrika. Schließlich brachte mich ein Kohleschiff wieder in den Hafen. Dort floh ich vor einer lauernden Katze in diese Kirche, zu dir.“

    „Du hast viel erlebt in deinem aufregenden Leben. Sind die Menschen wirklich so böse? So böse wie Katzen, die mit uns Mäusen Stierkampf spielen. Uns quälen, bevor sie uns ermorden?“

    „Ich kann dir nicht sagen, was bei den Menschen gut und böse ist. In der Mauswelt kann ich keinen Unterschied erkennen oder gar erklären. Bei den Menschen?

    Ich meine, dass viele Menschen gut sind und Böses tun. Andere sind böse und tun Gutes. Die Menschen glauben oft, sie täten Gutes und wissen selten, dass sie Böses tun. Umgekehrt gilt das aber nicht. Denn die Menschen glauben niemals, dass sie Böses tun und wissen selten, ob sie Gutes tun.

    Wir Mäuse haben wenige Probleme. Die Wichtigsten sind Katzen, Fressen, Trinken, Kinder aufziehen. Menschen haben viele Probleme. Zusammenleben, Eigentum, Arbeit, Freizeit,  Macht, Unterscheidung in Gut und Böse. Diese Aufgaben können sie heftig erzürnen. Dann demonstrieren sie. Fühlen sich stark. Werden gewalttätig. Legen Feuer. Vergewaltigen und Morden.

    Sie gründen eine ‚Heiligen Katze’, tanzen um sie herum. Verlangen von jedem Menschen, dass er sie anbetet. Tut er das nicht, dann töten sie ihn wie ein Schwein. Wie die Katze uns Mäuse. Sie sagen, dass nur die Katzenanbeter Gottes würdige Menschen seien. Die anderen höchstens Affen, Hunde, zumeist Schweine. Deshalb würden sie allenfalls Hunde, Affen oder Schweine, niemals Menschen morden. Weißt du, wenn sie Katzen töten würden, hätte ich eine gewisse Sympathie für sie.

    Wissen verachten die Katzenanbeter. Es interessiert sie nicht. Nur ihr Katzenglaube zählt. Deshalb könnten sie mit ihrem Glauben Berge versetzen. Mit Wissen wäre das weniger als ein Staubkorn.

    Ich bin eine Maus. Ich kenne keinen Glauben. Ich stelle mir vor, dass ein Glaube auf inneren Wunsch, Vorstellung und Gefühl beruht. Er Ist an die Seele gebunden und führt sie bis hin zum Tod. Bei Katzenanbetern möglichst mit Mord an fremden Affen, Hunden oder Schweinen.

    Wissen habe ich nur im Labor gesehen. Dort wird begründet und beobachtet. Katzenanbeter können das nicht verstehen.

    Dort habe ich beobachtet, wie sich die Menschen erregten, heftig stritten. Über Dinge, die sie weder verstanden noch selbst erfahren hatten. Sie glaubten an Demokratie, nur wenige an Katzen. Sie wussten auch, dass ihre Demokratie eine Fata Morgana ist. Ein falsches Spiel. Deshalb verstehe ich nicht, warum die Menschen nicht das tun, was sie wissen, sondern nur das, woran sie glauben.

    Die Menschen hier wollen Demokratie nach Afrika exportieren und wundern sich, dass die Afrika-Menschen von dieser heiligen Katze nichts wissen, sie nicht einmal als Gastgeschenk empfangen wollen. Für Essen, Trinken, oben schwimmen, den Tod vermeiden kämpfen sie dort, wo das Leben am Abgrund steht. Dummheit ist tödlich. Die intelligenten Menschen führen die Dummen zur Schlachtbank. Manchmal überlassen sie uns Mäusen das Menschenfleisch als Dessert.“

    Ich höre ihr gespannt zu. Blicke ihr tief in die Augen. Sie zwinkert. Ich fühle eine tiefe Zuneigung zu ihr. Schon möchte ich sie in meinen Arm nehmen, ihr einen Kuss geben, als eine tiefe Männerstimme ‚um Aufmerksamkeit’ bittet. ‚Er heiße die Anwesenden herzlich willkommen und freue sich, ihnen seine Erlebnisse aus dem Sudan und Jemen berichten und erklären zu können’.

    „Komm mit mir. Es gibt einen Vortrag über das Elend der Menschen. Vielleicht auch über die Katzenanbeter. Komm bitte! Lass uns zuhören!“, bitte ich sie spontan. Wir verlassen vorsichtig unser Versteck und schleichen entlang der Bodenspalten in meine dunkle Zuhörerecke. Ein schlanker hochgewachsener Mann mit ausschweifendem Bart und zerzausten Haaren steht am Rednerpult. Er spricht laut und zeigt erschreckend bunte Bilder.

    Im vertrauten Zuhörerversteck höre ich den Redner sagen‚ er wisse, dass die Bilder, die er jetzt zeigen werde, schwer zu ertragen seien. Die Aufnahmen seien authentisch. Die Wahrheit. Er selbst habe sie geschossen. Es seien die Dokumente eines fürchterlichen Krieges. Verstümmelte Leichen, um die sich niemand außer Ratten und Mäusen kümmere.

    „Hier, bitte beachten Sie, unter den grauen Ratten frisst sogar eine weiße Maus! Auch in dieser von Gott verlassenen, schwer bestraften Welt zeigt die Natur, wie stark sie ist. Dass seltsam auffällige Tiere jedem Tod zum Trotz überleben können!“

    Auf den sorgfältig in Reihen aufgestellten Bänken sitzen die Zuhörer. Unter ihnen ein junges Paar. Beide schmiegen sich eng aneinander, halten sich an den Händen. Sie trägt lange, schwarz gefärbte Haare und ein buntes Sommerkleid. Er hat die Kopfhaare abrasiert. Ist ein kräftig gebauter muskelstarker Mann. Sie ist erschreckt. Ihm macht nichts und niemand etwas vor!

    „Du, Martin! Das ist doch eine Labormaus! Kein Albino! Eine gewöhnliche Labormaus!“, flüstert sie. So laut, dass einige Zuschauer sich erstaunt nach ihr umdrehen. So laut, dass meine Freundin Madame Curie und auch ich es hören.

    Sie wisse das genau! Die weiße Maus gleiche genau der frechen Labormaus, die ihr vor einigen Monaten, als sie noch mit Peter befreundet war, entwischt sei. Die habe ihr damals bei ihrem Chef eine Menge Ärger eingebrockt.

    Dann blickt sie in unsere Richtung. Ich bin besorgt, ob sie mich oder meine Freundin in ihrem weißen Fell entdecken kann.

    „Du Martin, ob es hier Mäuse gibt?“, fährt sie fort.

    ‚Er glaube es nicht. Die würden in der Kirche nichts zu fressen finden. Hier könnten sie nicht überleben und seien gezwungen, wie die Flüchtlinge auf den Fotos auswandern.

    Allerdings … Er erinnere sich an einen Vorfall im letzten Jahr. Da habe man voller Abscheu Mäusekotspuren direkt neben dem Altar entdeckt. Man habe versucht, die Maus mit Käsemausfallen zu fangen. Ja, sogar ein Katze in der Kirche übernachten lassen. Die Maus sei nicht erwischt worden. Ihr Kot aber sei seitdem verschwunden. Man glaube, dass die Maus gestorben oder verhungert sei, jedenfalls nicht mehr in der Kirche lebe. Die Mausaktion sei somit erfolgreich gewesen.’

    „Ja, das bin ich“, bestätigt mir meine Liebe Madame Curie. „Ich war im Jemen. Nach einem Bombenangriff wurde fotografiert. Wir alle aßen Menschenfleisch. Es gab nichts anderes. Es schmeckt übrigens nach Mais und Zucker. Gar nicht so schlecht. Ich könnte mich daran gewöhnen.“

    „Liebes“, sage ich ihr. „Menschenfleisch kann ich dir leider nicht anbieten. Aber Oblaten aus der goldenen Schüssel oben auf dem Altar. Manchmal auch einige Tropfen Wein aus dem goldenen Becher. Sie sagen, das sei das Blut und das Fleisch Gottes, des Jesus von Nazareth.

    Man überlege, die Kirche in eine Moschee um zu gestalten. Es gäbe nur noch wenige Kirchenbesucher, hörte ich vor einigen Tagen den Pfarrer sagen. Wenn das geschieht, versiegt meine Nahrungsquelle. Ich kann dich dann nicht mehr mit dem Blut und Fleisch des Jesus von Nazareth ernähren. Dann müssen wir flüchten. Vielleicht dorthin, wo wir Menschenfleisch finden können.“

    Sie schmiegt sich an mich.

    Das gehe in Ordnung. Dort kenne sie sich aus. Dort würde sie schon für mich sorgen können, tröstet sie mich. Ich umarme und küsse sie. Dann sage zu ihr: „Wie wunderbar wird unser Leben!“