Monat: August 2019

  • Ich spreche vom Licht

    Fereydoun Moshiri ( 1926-2000 )

     

    Jeden Morgen,
    sobald das Sonnenlicht über den fernen Bergen emporsteigt,
    breite ich die Flügel aus,
    flinker als die Brise;
    lasse die Botschaft der Morgendämmerung fliegen
    mit hellen, klaren Gedichten.
    Die Menge der Schlafenden
    rufe ich
    mit süßen, lieblichen Liedern. 

    Ich erzähle vom Licht, vom Licht,
    von lebendigem Leben,
    von frischem Atem, von neuem Dasein,
    vom Stolz. 

    Aber im Gedränge der Straße
    verlieren sich meine Stimme und meine Lieder. 

    Dieser und jener sagt:
    „Befreie dich von diesem sinnlosen Bemühen!
    All dieses Schreien ist fruchtlos
    in den tauben Ohren!
    Der Verrückte spricht übers Licht
    mit den Maulwürfen!“ 

    Fremd mit diesem ganzen kalten Gerede
    rufe ich weiterhin geduldig
    die Menge der Schlafenden
    mit Liebe, Freude, Leidenschaft.
    Die Botschaft der Morgendämmerung
    lasse ich fliegen.
    Wohin ich auch gehe,
    spreche ich diesem und jenem ins Ohr,
    sogar im Gedränge der Straße,
    vom Licht,
    vom Licht.

    ֎֎֎

  • Und eine Botschaft unterwegs

    Sohrab Sepehri ( 1928-1980 )

     

    Eines Tages
    werde ich kommen und eine Botschaft mitbringen.
    Das Licht werde ich in die Adern gießen.
    Und werde ausrufen: „Ihr mit Körben voller Träume!
    Ich habe Äpfel gebracht, den roten Apfel der Sonne!“
    Ich werde kommen, dem Bettler werde ich einen Jasminzweig geben.
    Der schönen leprakranken Frau
    werde ich einen weiteren Ohrring schenken.
    Dem Blinden werde ich erzählen, wie sehenswürdig der Garten ist.
    Ich werde ein fliegender Händler sein,
    werde durch die Gassen gehen,
    werde ausrufen: „Tau, Tau, Tau“.
    Ein Passant wird sagen:
    „Der Aufrichtigkeit halber, es ist eine dunkle Nacht“,
    ihm werde ich die Milchstraße geben.
    Auf der Brücke ist ein Mädchen ohne Bein,
    ihr werde ich den Großen Bären am Himmelzelt um den Hals hängen.
    Sämtliche Beschimpfungen werde ich auf den Lippen beseitigen.
    Sämtliche Mauern werde ich abreißen.
    Den Räubern werde ich sagen:
    Eine Karawane kam, beladen mit Lächeln!
    Die Wolke werde ich zerreißen.
    Ich werde zusammenknoten
    die Augen mit der Sonne,
    die Herzen mit der Liebe,
    die Schatten mit dem Wasser,
    die Äste mit dem Wind.
    Und ich werde miteinander verbinden
    den Traum des Kindes mit dem Summen der Grillen.
    Drachen werde ich in die Luft steigen lassen.
    Blumentöpfe werde ich gießen.
    Ich werde kommen,
    den Pferden, den Rindernwerde ich das grüne Gras der Zärtlichkeit hinlegen.
    Einer durstigen Stute
    werde ich den Eimer mit Tauwasser hinstellen.
    Einem alten Esel unterwegs
    werde ich die Fliegen wegschlagen.
    Ich werde kommen und auf jede Mauer
    eine Nelke pflanzen. 

    Unter jedem Fenster werde ich ein Gedicht singen.
    Jeder Krähe werde ich eine Tanne geben.
    Der Schlange werde ich sagen,
    welche Pracht der Frosch hat.
    Ich werde versöhnen.
    Ich werde bekannt machen.
    Ich werde schreiten.
    Das Licht werde ich aufnehmen.
    Ich werde lieben.

  • Farbenfrohe Momente

    Jaleh Esfahani ( 1921-2007 )

     

    Ich brauche die Farben des Frühlings,
    die Farbe der Blumen,
    dieser reinen Geschenke des Paradieses,
    die Farbe der blauen Hyazinthe,
    die Farbe der gelben Narzisse,
    die rote Farbe der Anemone,
    die auf dem Feld gewachsen ist.
    die goldenen Tulpen,
    die violetten Jasminpflanzen,
    die Schattierungen der Wiesen mit ihren hundert Farben,
    die Farbe jener zärtlichen,
    an den Blumenblättern einen Saum tragenden Rose,
    die glänzenden, geliebten Farben des Frühlings.
    Ich brauche sogar jene Steinblume,
    die seit Jahrhunderten im Schoß des Gebirges blüht.
    Ich brauche den Farbkasten der Natur,
    die magische Farbe der Liebe,
    die Farbe des Fleißes und der Hoffnung,
    damit ich jedem Moment eine neue Farbe verleihe,
    die Nacht und den Tag nicht der Farblosigkeit überlasse,
    denn außer Schwarz und Weiß es gibt noch viele Farben.

  • Wesensart

    (25.8.2019)

     

    Tausend Sonnen trägst du in dir
    So verhalte dich wie die Sonne
    Sie fragt nicht
    wann oder wo sie scheinen soll
    Sie fragt nicht
    wen oder was sie wärmen soll
    Tausend Sonnen trägst du in dir
    So verhalte dich wie die Sonne

    ֎֎֎

     

  • Versöhnliches.

    Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Mein Vater war wieder im Amt, hielt Schule, gab Nachhilfe-Unterricht und saß in einer Menge Gremien. Die emigrierten Klassen- und Studienkameraden hatten ihn nicht vergessen; auch seine ausgewanderten Schülerinnen hielten ihm die Treue und besuchten ihn, wenn sie der Weg wieder einmal in dieses Deutschland führte. Aus Amsterdam kamen Päckchen mit Dingen, die es bei uns noch nicht so ohne Weiteres gab, Sonnenbrillen, Taschenschirme, Lederhandschuhe. Aus Brasilien trafen nahrhafte Dinge ein, Kaffee natürlich, einmal ein Kalbsnierenbraten – wie der es unangefochten zu uns geschafft hat weiß ich nicht mehr, aber daran erinnere ich mich gut, dass er wunderbar geschmeckt hat und uns glänzend bekommen ist.

    Die „alde Mädcher“, wie man in Darmstadt sagte, übertrugen ihre Anhänglichkeit auch auf mich, die Tochter, und deren Freundinnen und Partner. Petúr („Peter der Fünf- vor- Zwölfte“) war völlig unbefangen und als Ungar an der Wiedergutmachungs-Problematik nicht ganz so nah dran. Daher folgte er ohne Weiteres den Aufforderungen zu einem Gegenbesuch und ebnete mir den Weg. So konnte auch ich zusammen mit einer Freundin die Einladung zum Übernachtungsbesuch annehmen. Es ging uns sehr gut in Baltimore. Frau Gertrud hatte ihr Deutsch nie vernachlässigt, führte uns zu ihren Kindern und in der Stadt herum und instruierte uns, wie wir unsere Ziele am besten erreichen konnten; vor allem genossen wir das großartige archäologische Museum.

    Mit ihrem Mann war es etwas schwieriger. Er hatte Vorbehalte, bevorzugte die englische Sprache und war zwar höflich, aber distanziert. Glücklicherweise erfuhren wir, dass unsere Gastgeberin sich über hitzefeste Teegläser freuen würde, die sie jenseits des großen Teiches nicht bekam. So konnten wir ein wenig Dank abstatten. Gertruds Mann sammelte Briefmarken. Darum kümmerte sich meine Freundin, die auch den Versand übernahm, umso lieber, als mit ihrem geläufigen Amerikanisch schon in Baltimore ein guter Kontakt zum Hausherrn entstanden war. Es gab auch eine Geschichte von der Rettung einer Schulkameradin durch ihre Mutter, die jener während eines konspirativen Treffens eine Adresse zugeflüstert hatte. Das geheime Gespräch muss ungefähr dort stattgefunden haben, wo sich in unserer kleinen Stadt jetzt die Stolpersteine befinden. Die Kameradin hat es rechtzeitig geschafft.

    Petúrs Mutter besaß ungarische und polnische Wurzeln, war aber in Belgien aufgewachsen, wo sie während des Krieges fast ihre ganze Ersatzfamilie verlor. Einer deutschen Schwiegertochter gegenüber hätte sie leicht Ressentiments hegen können, doch das lag ihr fern. Sie sprach mit mir ein leicht flämisch gesprenkeltes Deutsch, bis ich selbst genügend Ungarisch gelernt hatte.

     

  • West-östlicher Divan

    (18.8.2019)

     

    Suche die Seele des West-östlichen Divans
    nicht in verstaubten Bücherregalen
    oder in glänzend aufgetakelten Aufführungen
    Suche sie in den Herzen der Menschen
    Möchtest du den West-östlichen Divan
    wahrhaftig ehren
    so lasse es nicht zu
    dass blendende Banditen
    in deinem Namen
    und mit deinen Steuergeldern
    seine Geburtsstätten verwüsten
    und seine Lebensgeschichten vernichten

    ֎֎֎

  • Selbstgespräch

     (17.8.2019)

     

    Sicher! Ich werde stets wiederkehren!
    Das versprach mir
    ein Teil meines Wesens
    mitten in alltäglichen aufrechten Anstrengungen
    für eine großherzige Lebensweise
    Immer wieder
    werde ich bei dir sein
    wie der wiederkehrende Frühling
    mit einem Korb duftender Gedankenblumen
    mit einer Glasschale glänzender Traumperlen
    Und dir werde ich schenken
    meines Herzens Augen
    zur gütigen Betrachtung der Gegebenheiten
    meines Verstandes Beine
    zum bedacht-bescheidenen Beschreiten des Lebensweges

    ֎֎֎

  • Auswahl aus den Wölländischen Sprüchen: VOLANDIANA – Aphorismen. Seemann Publishing 2018. ISBN 9781729323991

    1. Allgemein

    1.1.      Wahrheit ist der meistakzeptierte Irrtum. (1993)

    1.8.      Auch wenn du dir zwei Uhren kaufst, hast du nicht mehr Zeit.

    1.10.    Die Dummheit höret nimmer auf.

    1.12.    AUCH DER JÜNGSTE SOPRAN WIRD EINMAL ALT.

    1.15.    Der Mensch wird immer dümmer, trotz aller Symposiümmer.

    1.19.    Sigmund Freud entdeckte beim Menschen eine orale, anale und genitale Entwicklungsphase. Eine zerebrale entdeckte er nicht. (01.07.1992)

    1.125.  Manche Belletristik ist mehr trist als belle. (08.05.2013)

    1.138.  Geld ist Fiktion. Real ist nur das Geld, das man nicht hat.
    (lat. Aes ipsum fictio aes deens verum est.) (19.12.2013 0450)

    1.151.  Quidquid id est timeo Danaos maxime pecuniam petentes.
    (lat. Was es auch sei, ich fürchte die Griechen, besonders, wenn sie Geld fordern.) (23.03.2015)

    1.166.  Die beste Lösung nützt nichts, wenn das Problem unbekannt ist. (11.05.2015)

    1.175.  Nicht in jedem Dickkopf steckt ein grosses Hirn. (18.09.2015 Le Tréport F)

    1.191.  Es kommt darauf an, durch welche Brille man das Leben sieht. Es sollte nicht die Klobrille sein. (06.06.2017)

    1. Evolution

    2.6.      Das Wissen nimmt zu, nicht aber die Weisheit. (27.12.2017)

    2.7.      Nein, der Fortschritt ist keine Schnecke. Oder hast du schon einmal eine Schnecke mit Rückwärtsgang gesehen? (25.01.2018)

    1. Geschlechter

    3.67.    Jede Ehe wird geschieden: durch den Richter oder durch den Tod. (06.03.2012)

    3.88.    Aller Kriege Vater ist das Testosteron. (24.11.2016)

    3.95.    Nil vita sine voluptate. (lat. Ohne Lust kein Leben.) (20.06.2011)

    1. Paraloga und Sophismata (Παράλογα και σοφίσματα)

    4.11.    Jeder Augenblick deines Lebens ist in der Summe von den beiden Enden des Lebens zu 100 Prozent entfernt.
    (Wölländisches Aequisistenz-Axiom) (22.06.2016)

    4.13.    Die einzige richtige Ideologie ist diejenige, welche sagt: Alle Ideologien sind falsch.
    (Dez 2016)

    4.14.    Schwarzgeld besteht hauptsächlich aus Dunkelziffern. (03.04.2017)

    4.20.    Omnis aliter est – ego non. (lat. Jeder ist anders – nur ich nicht.) (08.05.2018)

    4.33.    Auch ein neues Brett macht den alten Kopf nicht besser. (26.10.2009)

    4.35.    Das Unangenehme an einem Gipfel ist, dass es nach allen Seiten bergab geht.
    (29.10.2009)

    4.36.    Fernsehen ist nicht dasselbe wie Weitblick. (24.01.2010)

    4.43.    Nemo umbra sua propria refrigeratur.
    (lat. Niemand wird durch eigenen Schatten gekühlt.) (15.09.2017 Plovdiv BG)

    1. Medizin

    5.1.      Medicamenta non prosunt nisi sumuntur tamen medicamentum non sumere interdum salubrior est.
    (lat. Medikamente helfen nicht, wenn sie nicht genommen werden, dennoch ist es manchmal heilsamer, ein Medikament nicht zu nehmen.) (20.6.2008)

    5.2.            Medicus nil promittit. (lat. Der Arzt verspricht nichts.) (20.6.2008)

    5.4.      Minum vinum nimia corporis exercitatio et nimis diu vivere insalubria reputari oportet.
    (lat. Zu wenig Alkohol, zu viel Sport und zu lange leben sind ungesund.)  (17.04.2016)

    5.9.      Der Arzt muss bei der Anamnese alles fragen – und darf nichts glauben. (05.03.2015)

    1. Volk und Staat

    6.8.      Kein Land der Welt ist so arm, dass nicht sein Präsident reich werden könnte.
    (11.02.2011)

    6.13.    Iustitia non caeca strabonem est. (lat. Iustitia ist nicht blind, sie schielt [opportunistisch].) (11/1998)

    6.15.    Gewaltenteilung: Die einen wissen, wie es geht, die anderen sagen, was gemacht wird.
    (06.03.2005)

    6.17.    Timeo praepotentes sese amantes cetera timentes.
    (lat. Ich fürchte die Machthaber. Sie lieben nur sich selbst und fürchten den Rest der Welt.) (12.08.2013)

    6.20.    Wer Terror mit Terror bekämpft, ist selbst ein Terrorist. (12.03.2017)

    6.25.    Wer mit Nonkonformisten konform geht, ist auch ein Konformist. (27.01.2018)

    6.35.    Nicht jeder missbraucht die Macht, aber jede Macht wird missbraucht.
    (12.12.2013)

    1. Volk und Staat

    7.1.      Kein Land der Welt ist so arm, dass nicht sein Präsident reich werden könnte.
    (11.02.2011)

    6.13.    Iustitia non caeca strabonem est. (lat. Iustitia ist nicht blind, sie schielt [opportunistisch].) (11/1998)

    6.15.    Gewaltenteilung: Die einen wissen, wie es geht, die anderen sagen, was gemacht wird.
    (06.03.2005)

    6.17.    Timeo praepotentes sese amantes cetera timentes.
    (lat. Ich fürchte die Machthaber. Sie lieben nur sich selbst und fürchten den Rest der Welt.) (12.08.2013)

    6.20.    Wer Terror mit Terror bekämpft, ist selbst ein Terrorist. (12.03.2017)

    6.25.    Wer mit Nonkonformisten konform geht, ist auch ein Konformist. (27.01.2018)

    6.35.    Nicht jeder missbraucht die Macht, aber jede Macht wird missbraucht.
    (12.12.2013)

    1. Rätselfragen
        • Kann man in einem menschenleeren Walde erschlagen werden?
          [1) NEIN, denn im menschenleeren Wald ist kein Mörder,
          2) NEIN, auch von einem Baum kann man nicht erschlagen werden, denn im menschenleeren Wald ist niemand, der erschlagen werden könnte, nicht einmal man selbst – der Wald wäre sonst nicht menschenleer.]
          (07.02.2005)
        • Wer lehrt andere, was er selber nicht weiss?
          [Der Tote auf dem Präpariersaal lehrt die Studenten die Anatomie.]
          (: Quis quod nescit alios docet? [Mortuus in theatro anatomico discipulos docet anatomiam.])
          (28.03.2018)
    2. Alterseinsichten

    8.3.            Besonders drückt die Last der Jahre nach einer Reihe Lasterjahre.

    8.8 Das Selbstbewusstsein durchläuft im Leben fünf Phasen:
    Zuerst weiss man nichts. Dann fragt man sich: Wer werde ich sein? Nach langer Zeit weiss man, wer man ist. Später erinnert man sich, wer man war. Zuletzt hat man es vergessen.
    (09.11.1998)

    8.11.          Fugit interea fugit irreparabile tempus et fugimus nos cum illo irreparabiliter.
    (lat. Inzwischen flieht sie, ja sie flieht, die unwiederbringliche Zeit, und wir fliehen mit ihr unwiederbringlich.) (05.02.2005)

    8.16           Iuventas nescit quod haberet. Senectus scit quod non haberet.
    (lat. Die Jugend weiss nicht, was sie hat, und das Alter weiss, was es nicht hat.) (05.10.2015)

    8.18.    Wer gesund sterben will, darf damit nicht zu lange warten.
    (12.11.2015)

    1. Küchenlatein

    9.5.      POTESTAS VOS NON IN BRACCAS.
    (Macht, euch, nicht, in, die Hosen)

    9.7.      POTESTAS VESTRUM LUTUM UNIVERSUM CLIVUS.
    (Macht, euren, Dreck, All, Lehne)

    9.11.    IS EGO LUDIFICATIO AGRI ERAT UNUS CREPITUS CUCULLUS ET NULLUS IACULUS PULVIS PRETIUM.
    (Er, ich, Hohn, Äcker, war, ein, Knall, Tüte, und, keinen, Schuss, Pulver, Wert)

    9.21.    ID IT AD NULLAM VACCAM CAEDIT.
    (das, geht, auf, keine, Kuh, haut)

  • Reigen

    Die wir einst umsorgt
    und grossgepäppelt über viele Jahre,
    die unsere Kräfte zehrten und mehrten,
    die heute noch durch unsere Träume purzeln
    herzerwärmend im Kindchenschema –
    sie sind jetzt grosse Leute in des Lebens Mitte,
    umtobt von der nächsten Generation.

    Der immer gleiche Reigen
    wird fort und fort getanzt,
    aber jeden Punkt im Ring
    erreichst du nur ein einziges Mal.

    (18.04.2017)

    Fuffsich

    Für meine Freundin Jabi, die sich schwer tut.
    (in Brannenburjisch)

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Vor sweehundert Jahr,
    bei den ollen Fritzen,
    – jloob mir, det is wahr –
    mussteste schon flitzen.

    Heute haste frei
    Jahre wie Prosente:
    fuffsich sin vorbei,
    fuffsich Dividende!

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Weeste, wie det kommt,
    dassde schon so alt bist?
    Det kommt immer promt,
    wenn det Lewen lang ist.

    Wärste früh jestorm,
    wärste ooch nich fuffsich,
    fräss dich jetz der Worm,
    man, det wäre schuftich!

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Willste lange leem,
    darfste nich erschlaffen.
    Da liecht det Problem:
    Willste achtsich schaffen,

    kommste nich vorbei
    anne fuffsich, weesste,
    nutzt ooch keen Jeschrei.
    Allet klar, vastehste?

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    (22.10.1995)

    Physis und Metaphysis

    Es stehen auf schwankender Scholle
    all unsere Türme und Thesen,
    gewiss ist – es komme, was wolle –
    es wird anders als vorher gewesen.

    Atome zerfallen und Sterne,
    aus Staub werden neue Gestirne,
    der Kosmos, er strebt in die Ferne,
    den Gipfeln zerschmelzen die Firne.

    Ein jedes, das lebt, das muss sterben,
    vom Staube zum Staube bestimmt,
    und vorher das Leben vererben,
    das, was es benötigt, sich nimmt.

    Was Physis ist, ändert sich immer,
    Metáphysis einzig hält Stand,
    ihr ahnt es beim göttlichen Schimmer
    der Künste in jedem Gewand.

    Die Mathematik zum Exempel
    gehört zu den Künsten, den freien.
    Die Lehrsätze aus ihrem Tempel,
    sie haben die ewigen Weihen.

    Was droben ist sucht drum entschlossen,
    sofern ihr Vergänglichkeit fliehet.
    Der Segen wird dem ausgegossen,
    den füglich nach oben es ziehet.

    (11.07.2013)

    Sternenkunde

    Warum, fragt Wennemann,
    warum er sehen kann
    der Gestirne Funkeln
    einzig nur im Dunkeln.

    Aberach fragt: Hast
    du gehört, Kontrast
    erst lässt etwas erkennen
    und die Dinge trennen?

    Auf weisser Fahne kann
    man nicht sehen dann,
    nicht um keinen Preis,
    Adler, wenn sie weiss.

    Das Gute auch im Leben
    wird erst erkannt dann eben,
    wenn es uns erlösen
    will von allem Bösen.

    (21.01.2019)

    Vom Dasein zum Hiersein

    Herr Aberach besucht seit einem Jahr
    ein philosophisches Basis-Seminar.
    Er lernt dort, dass die Welt ganz allgemein
    geprägt sei durch ihr eigentliches Sein,

    ihr Sein an sich als solches, in Stringenz
    durch ihr Geworfensein zur Existenz,
    das Sosein ihr statt Nichtsein so verleiht
    und sie zum Dasein und zum Sinn befreit.

    Das Dasein sei der wesentliche Kern
    des Seienden per se, ob nah, ob fern.
    Der Aberach, der glaubt davon kein Wort.
    Ich selber würde, sagt er, auch mal dort,

    mal da sein, doch ganz wesentlich scheint mir,
    ich wäre, und zwar selber, jetzt und hier.
    Aus dem Gesagten folgert er mit List,
    dass wichtig für die Welt ihr Hiersein ist.

    Was nützt, denkt er, die Welt, die einmal da,
    dann wieder dort ist, aber mir nicht nah.
    Geworfen oder nicht geworfen, mir
    erscheint entscheidend nur, ich hab sie hier.

    (03.03.2013 0220 – 21.01.2019)

    Selbstbetrug

    Wennemann begibt sich auf die Reise
    und geniesst sie auch auf seine Weise,
    selbst wenn er manch Ärger und Verdruss
    hie und da schon mal ertragen muss.

    Im Gedächtnis dann in spätern Zeiten
    sieht er nur noch all die guten Seiten,
    und je öfter sich die Reise jährt,
    wird sie mehr und mehr und mehr verklärt.

    Ebenso verfahren bis anheute
    auf der Lebensbahn die meisten Leute:
    Um die Laune sich nicht zu verderben
    übersehen sie den Bruch und Scherben.

    Doch am Ende kranken ihre Seelen,
    weil Wahrhaftigkeit und Klarheit fehlen.
    Auf dem Teppich geht man nicht gediegen,
    wenn darunter die Probleme liegen.

    (26.09.2013)

    Wichtig

    Welcher Mensch ist wichtig,
    und welcher eher nichtig –
    das ist – wie ich sage –
    eine falsch gestellte Frage.

    Hie zum Beispiel Goethe,
    dort die kleine Kröte:
    Wichtig sind sie alle
    in dem einen oder andern Falle.

    Des Dichters grösste Knüller
    wären ohne Gretchen Müller
    längst nicht so bekannt
    und beliebt im ganzen Land.

    (15.02.1998)

    Der Kongress

    Hallo, auch schon da?
    … muss eben noch…
    Wir sehn uns später!

    In schnellem
    reigen fliegen sie
    vorbei vorträge wenige
    gute der anderen viele.

    Heute abend zeit?
    Leider nein
    ein workshop!

    Schon gepackt?
    Ja, muss weg – bis
    zum nächsten mal!

    Beinahe
    wären wir
    einander begegnet.

    (01.10.2000)

    Lupus

    Wenn doch der
    Mensch dem Menschen,
    wenn er ihm doch
    nur Wolf wäre!

    So aber
    ist er ihm Mensch.

    (10.08.2006)

    Konjunktiv

    Was da alles würde, wäre, sollte,
    wenn man endlich hätte, könnte, wollte,
    ist am Ende gar nicht auszuhalten,
    besser ist es drum, es bleib beim Alten.

    Denn es reicht auch schon von ungefähr,
    was beinahe nicht gewesen wär.
    Beinah wärest du nicht, der du bist,
    besser ist es drum, es bleibt wie’s ist.

    Beinah hätten wir den Krieg gewonnen,
    hätten wir ihn gar nicht erst begonnen.
    Wären wir nicht hier, wo wär‘n wir dann,
    oder wär‘n dann andre dran und wann?

    Tu ich, was ich keinesfalls sonst täte,
    beinah nicht, weil ich mich leicht verspäte,
    hätte ich es, wenn ich’s recht betracht‘,
    eigentlich am Ende nicht gemacht.

    Manches gibt es nicht, was möglich wäre,
    andres gibt es auf der Erdensphäre,
    was recht eigentlich unmöglich scheint,
    und sich hier im Konjunktiv vereint.

    (09.04.2010)

  • A PROMISE

     

     

    Once in the time of great drought, a peasant Xiang had no rice to nourish his family, and even no money to buy it. He went to the feud ruler of Wu ( who was also a river keeper) to borrow four sacks of rice.

    The feud ruler said: “Soon, I would collect my taxes from my subjects, and after I would loan to you 96 tóngbì (copper coins) to buy four sacks of rice.

     Would that suit to you?

    The exasperated Xiang told him the following story:

    – Yesterday, I visited, through the drought devastated, field of mine, and I heard a voice calling me. I looked around and saw the big carp lying in a dry.  “How did you get here?”, I asked.

    “The strong winds pushed me here. Do you have a barrel of water to save my life?”, muttered the carp under its breath.

    „We’ll do it“, I said. – “Soon, I will visit the ruler of Wu, and I will make sure, that he releases the water from the East River. Would that suit to you?”

    The carp was terribly bitter.

    „It’s not my environment, I am desperate and unable to breath « mumbled the carp. One barrel of water would save my life, and instead you give me only the promise. After it, you will find me at a fish market.

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Ein Versprechen

    Während der Zeit der großen Dürre hatte der Bauer Xiang keinen Reis, um seine Familie zu ernähren, er hatte nicht einmal Geld, welchen zu kaufen. Er ging zu dem Lehnsherrn von Wu, der auch Besitzer eines großen Flusses war, um vier Säcke Reis zu leihen.

    Der Lehnsherr sagte: „Bald werde ich die Steuern meiner Untertan eintreiben, und danach würde ich dir 96 Tongbi (Kupfermünzen) leihen, um vier Sack Reis zu kaufen. Wäre dir das so recht?“

    Der entnervte Xiang erzählte ihm die folgende  Geschichte.

    Gestern besuchte ich mein durch die Dürre verwüstetes Feld, und ich hörte, wie eine Stimme mich rief. Ich schaute umher und sah einen großen Karpfen auf dem Trockenen liegen.

    „Wie bist du hierher gekommen?“, fragte ich.

    „Ein starker Wind hat mich hierher geworfen. Hast du einen Eimer Wasser, um mein Leben zu retten?“, murmelte der Karpfen außer Atem.

    „Machen wir“, sagte ich. – „Bald gehe ich den Lehnsherr von Wu besuchen, und ich werde sicherstellen, dass er Wasser aus seinem East River fließen lässt. Wäre dir das recht?“

    Der Karpfen war schrecklich erbittert:

    „Ich bin nicht in meinem Element. Ich bin verzweifelt und kann nicht mehr atmen“, murmelte der Karpfen. „Ein Eimer Wasser würde mein Leben retten, und stattdessen gibst du mir nur ein Versprechen. Danach wirst du mich auf einem Fischmarkt finden.“