Tag: 26. August 2019

  • Ich spreche vom Licht

    Fereydoun Moshiri ( 1926-2000 )

     

    Jeden Morgen,
    sobald das Sonnenlicht über den fernen Bergen emporsteigt,
    breite ich die Flügel aus,
    flinker als die Brise;
    lasse die Botschaft der Morgendämmerung fliegen
    mit hellen, klaren Gedichten.
    Die Menge der Schlafenden
    rufe ich
    mit süßen, lieblichen Liedern. 

    Ich erzähle vom Licht, vom Licht,
    von lebendigem Leben,
    von frischem Atem, von neuem Dasein,
    vom Stolz. 

    Aber im Gedränge der Straße
    verlieren sich meine Stimme und meine Lieder. 

    Dieser und jener sagt:
    „Befreie dich von diesem sinnlosen Bemühen!
    All dieses Schreien ist fruchtlos
    in den tauben Ohren!
    Der Verrückte spricht übers Licht
    mit den Maulwürfen!“ 

    Fremd mit diesem ganzen kalten Gerede
    rufe ich weiterhin geduldig
    die Menge der Schlafenden
    mit Liebe, Freude, Leidenschaft.
    Die Botschaft der Morgendämmerung
    lasse ich fliegen.
    Wohin ich auch gehe,
    spreche ich diesem und jenem ins Ohr,
    sogar im Gedränge der Straße,
    vom Licht,
    vom Licht.

    ֎֎֎

  • Und eine Botschaft unterwegs

    Sohrab Sepehri ( 1928-1980 )

     

    Eines Tages
    werde ich kommen und eine Botschaft mitbringen.
    Das Licht werde ich in die Adern gießen.
    Und werde ausrufen: „Ihr mit Körben voller Träume!
    Ich habe Äpfel gebracht, den roten Apfel der Sonne!“
    Ich werde kommen, dem Bettler werde ich einen Jasminzweig geben.
    Der schönen leprakranken Frau
    werde ich einen weiteren Ohrring schenken.
    Dem Blinden werde ich erzählen, wie sehenswürdig der Garten ist.
    Ich werde ein fliegender Händler sein,
    werde durch die Gassen gehen,
    werde ausrufen: „Tau, Tau, Tau“.
    Ein Passant wird sagen:
    „Der Aufrichtigkeit halber, es ist eine dunkle Nacht“,
    ihm werde ich die Milchstraße geben.
    Auf der Brücke ist ein Mädchen ohne Bein,
    ihr werde ich den Großen Bären am Himmelzelt um den Hals hängen.
    Sämtliche Beschimpfungen werde ich auf den Lippen beseitigen.
    Sämtliche Mauern werde ich abreißen.
    Den Räubern werde ich sagen:
    Eine Karawane kam, beladen mit Lächeln!
    Die Wolke werde ich zerreißen.
    Ich werde zusammenknoten
    die Augen mit der Sonne,
    die Herzen mit der Liebe,
    die Schatten mit dem Wasser,
    die Äste mit dem Wind.
    Und ich werde miteinander verbinden
    den Traum des Kindes mit dem Summen der Grillen.
    Drachen werde ich in die Luft steigen lassen.
    Blumentöpfe werde ich gießen.
    Ich werde kommen,
    den Pferden, den Rindernwerde ich das grüne Gras der Zärtlichkeit hinlegen.
    Einer durstigen Stute
    werde ich den Eimer mit Tauwasser hinstellen.
    Einem alten Esel unterwegs
    werde ich die Fliegen wegschlagen.
    Ich werde kommen und auf jede Mauer
    eine Nelke pflanzen. 

    Unter jedem Fenster werde ich ein Gedicht singen.
    Jeder Krähe werde ich eine Tanne geben.
    Der Schlange werde ich sagen,
    welche Pracht der Frosch hat.
    Ich werde versöhnen.
    Ich werde bekannt machen.
    Ich werde schreiten.
    Das Licht werde ich aufnehmen.
    Ich werde lieben.

  • Farbenfrohe Momente

    Jaleh Esfahani ( 1921-2007 )

     

    Ich brauche die Farben des Frühlings,
    die Farbe der Blumen,
    dieser reinen Geschenke des Paradieses,
    die Farbe der blauen Hyazinthe,
    die Farbe der gelben Narzisse,
    die rote Farbe der Anemone,
    die auf dem Feld gewachsen ist.
    die goldenen Tulpen,
    die violetten Jasminpflanzen,
    die Schattierungen der Wiesen mit ihren hundert Farben,
    die Farbe jener zärtlichen,
    an den Blumenblättern einen Saum tragenden Rose,
    die glänzenden, geliebten Farben des Frühlings.
    Ich brauche sogar jene Steinblume,
    die seit Jahrhunderten im Schoß des Gebirges blüht.
    Ich brauche den Farbkasten der Natur,
    die magische Farbe der Liebe,
    die Farbe des Fleißes und der Hoffnung,
    damit ich jedem Moment eine neue Farbe verleihe,
    die Nacht und den Tag nicht der Farblosigkeit überlasse,
    denn außer Schwarz und Weiß es gibt noch viele Farben.

  • Wesensart

    (25.8.2019)

     

    Tausend Sonnen trägst du in dir
    So verhalte dich wie die Sonne
    Sie fragt nicht
    wann oder wo sie scheinen soll
    Sie fragt nicht
    wen oder was sie wärmen soll
    Tausend Sonnen trägst du in dir
    So verhalte dich wie die Sonne

    ֎֎֎

     

  • Versöhnliches.

    Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Mein Vater war wieder im Amt, hielt Schule, gab Nachhilfe-Unterricht und saß in einer Menge Gremien. Die emigrierten Klassen- und Studienkameraden hatten ihn nicht vergessen; auch seine ausgewanderten Schülerinnen hielten ihm die Treue und besuchten ihn, wenn sie der Weg wieder einmal in dieses Deutschland führte. Aus Amsterdam kamen Päckchen mit Dingen, die es bei uns noch nicht so ohne Weiteres gab, Sonnenbrillen, Taschenschirme, Lederhandschuhe. Aus Brasilien trafen nahrhafte Dinge ein, Kaffee natürlich, einmal ein Kalbsnierenbraten – wie der es unangefochten zu uns geschafft hat weiß ich nicht mehr, aber daran erinnere ich mich gut, dass er wunderbar geschmeckt hat und uns glänzend bekommen ist.

    Die „alde Mädcher“, wie man in Darmstadt sagte, übertrugen ihre Anhänglichkeit auch auf mich, die Tochter, und deren Freundinnen und Partner. Petúr („Peter der Fünf- vor- Zwölfte“) war völlig unbefangen und als Ungar an der Wiedergutmachungs-Problematik nicht ganz so nah dran. Daher folgte er ohne Weiteres den Aufforderungen zu einem Gegenbesuch und ebnete mir den Weg. So konnte auch ich zusammen mit einer Freundin die Einladung zum Übernachtungsbesuch annehmen. Es ging uns sehr gut in Baltimore. Frau Gertrud hatte ihr Deutsch nie vernachlässigt, führte uns zu ihren Kindern und in der Stadt herum und instruierte uns, wie wir unsere Ziele am besten erreichen konnten; vor allem genossen wir das großartige archäologische Museum.

    Mit ihrem Mann war es etwas schwieriger. Er hatte Vorbehalte, bevorzugte die englische Sprache und war zwar höflich, aber distanziert. Glücklicherweise erfuhren wir, dass unsere Gastgeberin sich über hitzefeste Teegläser freuen würde, die sie jenseits des großen Teiches nicht bekam. So konnten wir ein wenig Dank abstatten. Gertruds Mann sammelte Briefmarken. Darum kümmerte sich meine Freundin, die auch den Versand übernahm, umso lieber, als mit ihrem geläufigen Amerikanisch schon in Baltimore ein guter Kontakt zum Hausherrn entstanden war. Es gab auch eine Geschichte von der Rettung einer Schulkameradin durch ihre Mutter, die jener während eines konspirativen Treffens eine Adresse zugeflüstert hatte. Das geheime Gespräch muss ungefähr dort stattgefunden haben, wo sich in unserer kleinen Stadt jetzt die Stolpersteine befinden. Die Kameradin hat es rechtzeitig geschafft.

    Petúrs Mutter besaß ungarische und polnische Wurzeln, war aber in Belgien aufgewachsen, wo sie während des Krieges fast ihre ganze Ersatzfamilie verlor. Einer deutschen Schwiegertochter gegenüber hätte sie leicht Ressentiments hegen können, doch das lag ihr fern. Sie sprach mit mir ein leicht flämisch gesprenkeltes Deutsch, bis ich selbst genügend Ungarisch gelernt hatte.