Autor: Dietrich Weller

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ beim BDSÄ-Kongress 2016

     

    Das Rosmarinsüppchen

    „Hallo Schatzi!“

    Ich hasse diese einschmeichelnde Begrüßung! Schließlich hört man als erfahrene Frau die Lüge bei einem Mann schon, bevor er sie ausgesprochen hat. Ich musste nur noch genau hinhören oder hinschauen, um die Details zu erfahren. Henner hatte mich so oft an der Nase herumgeführt, und er machte sich geradezu einen Sport daraus, mich zu ärgern. Ich dumme Kuh habe ihm immer wieder verziehen. Mal habe ich aus falsch verstandener Liebe einfach den Mund gehalten und die Kränkungen geschluckt, mal habe ich mir die Tränen theatralisch über das Make-up laufen lassen und verschmiert, um ihm zu zeigen, wie sehr er mich verletzt. Auch wenn ich ihm Szenen gemacht habe mit Geschrei und zerschmettertem Geschirr, hat ihn das nicht wirklich und schon gar nicht lange beeindruckt.

    Jetzt war es mal wieder so weit.

    „Hallo Schatzi! Das war ein anstrengender Tag!“

    Ich schaute ihn an: „Wie siehst denn du aus?“

    Sie müssen sich das mal vorstellen: Wie im Kitschfilm. Die Krawatte auf Halbmast, die oberen beiden Hemdköpfe offen, die Goldhalskette über seinem gewellten dunkelbraunen Brusthaar, den Kopf zerzaust, das Jackett zerknittert, die Bügelfalten platt. Und das Gesicht wie nach einer durchwachten Nacht, ungewaschen, unrasiert, die Falten noch tiefer als sonst. Und die waren nicht nur vom Arbeiten so tief, ganz sicher nicht.

    Seit ich zufällig neulich seine neue Sekretärin gesehen habe, ist mir klar, warum er so oft abends und bis spät in die Nacht dringende Besprechungen machen muss.

    Ich sah sie auf dem Büroflur auf sein Zimmer zu gehen. Das blonde Haar floss über die schlanke und offene Rückenpartie des Kleides. Das hautenge Kleid betonte den wackelnden Hintern dieses Schoßhühnchens in geradezu obszöner Weise. Die hohen Stöckelabsätze waren eine orthopädische Katastrophe und ihr Klackern auf dem Steinboden eine Zumutung für jedes Ohr. Wie Pistolenschüsse knallten sie über den Gang. Meine Birkenstock-Schuhe hört man nicht! Und als sie sich umdrehte, dieses Möchte-gern-Playboy-Häschen, konnte ich sofort sehen, wo der Plastische Chirurg sein Geld verdient hat. Die mit Botox aufgedunsenen Lippen waren kurz vor dem Platzen, und die silikongefüllten Brüste drohten das eng anliegende Blüschen zu sprengen. Nicht einmal einen BH trug diese Büropuppe. Bei Heidi Klum wäre sie nicht als Model angekommen, aber mein Mann hat sie sofort eingestellt. Wofür eigentlich? Diese an allen Rundungen aufgeblasene Frau passte genau in sein Beuteschema. Sie erfüllte ganz sicher die Wünsche meines Mannes, aber bestimmt nicht bei der Arbeit.

    Es hat mich gar nicht gewundert, dass ich schon ein paar Tage später ganz zufällig blonde Haare auf Henners Hemd fand, und ich entdeckte, dass er in seinem Aktenkoffer eine zusätzliche Flasche seines Parfums mitnahm und abends frisch beduftet heim kam. Aber mich kann er nicht täuschen. Er stank nach einer schwülen Mischung aus Frauenparfüm und seinem Rasierwasser. Das war richtig ekelig!

    Früher wäre ich ausgeflippt vor Wut und hätte sein Büro zuhause demoliert. Aber ich habe mir geschworen, meine Kräfte zu sparen für den entscheidenden Tag. Ja, Sie hören richtig, ent-scheidend. Das hat etwas mit Scheidung zu tun. Aber nicht wie Sie denken – mit Rechtsanwalt und Gericht, nein, nein. Da muss mir schon etwas Besseres einfallen.

    Heute war das Fass voll. Ich meine das Fass meines Zorns. Und wissen Sie warum? Als Henner ins Bad ging und die Kleider auf das Bett geworfen hatte, fielen mir sogar ohne Suchen sofort schwarze kurze Haare an seinem Hemd auf. Und der Lippenstiftfleck auf dem Kragen war nicht zu übersehen. Henner hatte seine Jacke so achtlos hingeworfen, dass das Bild einer jungen Schwarzhaarigen heraus gefallen war. So was von billig! Wollte er mich provozieren? War er wirklich so blöd, solch ein Bild in der Jackentasche zu lassen? Oder hat die kleine schwarze Hexe ihm das Bild zur Erinnerung in die Tasche gesteckt, ohne dass er es gemerkt hat? Egal: Jetzt betrog er seine Sekretärin und mich mit einer neuen Frau!  Das war entschieden zu viel.

    „Schatzi, machst Du mir was zum Essen?“, tönte es aus dem Badezimmer unter der Dusche hervor.

    „Aber ja,“, rief ich zurück, „ich mache dir dein Lieblingssüppchen!“

    Ich ging in den Garten und sah mit der Terrassenbeleuchtung noch gut genug, um rasch die Zutaten zusammenzusammeln. Erst pflückte ich frische Rosmarinnadeln, dann von der großen Taxushecke frische Eibennadeln. Das reichte für ein wirkungsvolles Abendessen. Den Rest hatte ich in der Küche.

    Rosmarin mag Henner besonders gern. Den kräftigen Duft der ätherischen Öle möchte er in der Suppe schmecken. In unserer Verliebtheitsphase verwendete ich extra Kölnisch Wasser, weil dort viel Rosmarin enthalten ist, und Henner konnte nicht genug kriegen, an mir zu schnuppern. Die Eiben kannte er nicht. Er war ein Gartenmuffel.

    Also schnitt ich je eine Handvoll Rosmarin- und Eibennadeln ganz fein, bis sie fast pulverig waren, erwärmte sie in der Pfanne, aber nur ganz leicht und mit einem großen Stück Butter dazu, damit die Wirkstoffe auch wirken können! Dann vermischte ich sie mit Sahne und Gemüsebrühe zu einer cremigen Suppe. Das wird ein besonderes Essen, dachte ich und stellte das gute Porzellan auf den Tisch und eine Vase mit frischen Blumen aus dem Garten.

    „Willst du nicht mitessen?“, fragte Henner, als er sah, dass ich nur ein Gedeck gerichtet hatte.

    „Nein, ich habe schon gegessen! Lass es dir schmecken!“

    Ich muss gestehen, ich genoss es, wie er seine Suppe löffelte und meine Kochkünste lobte.

    „Das schmeckt heute ganz besonders! So anders als sonst!“

    „Ja, ich habe es besonders gewürzt!“, sagte ich nicht ohne ein gewisses Maß an Freude über mein gelungenes Werk. Ich beobachtete mit Genugtuung, dass Henner mit großem Appetit alles aufaß – drei Teller Suppe.

    Wir unterhielten uns nicht. Er war ja so müde – von seiner Beschäftigung im Büro oder wo auch immer. Dafür muss man als Ehefrau schließlich Verständnis haben. Als Henner sein Süppchen gegessen hatte, trank er einen Whisky und griff immer wieder an seinen Bauch.

    „Komisch“, sagte er, „das rumort so, aber vielleicht habe ich mir im Büro was eingefangen, da klagen alle über Durchfall.“

    „Ja, das wird es sein“, meinte ich ruhig und sehr zufrieden.

    Plötzlich rannte er los Richtung Toilette. Nachdem er sich dort erleichtert hatte, wollte er nur noch ins Bett.

    „Ich fühle mich so schwach, ich brauche noch einen Whisky!“

    „Den bringe ich dir gern!“

    Man soll letzte Wünsche nicht abschlagen!

    Nach einer Weile meinte Henner: „Mir wird so komisch, mein Herz schlägt so unregelmäßig.“

    „Ja, ja, das kann sein, bei dem Magen-Darm-Infekt. Bald hört´s auf!“

    Ich konnte mich einer gewissen Schadenfreude über meine Doppeldeutigkeit nicht ent-ziehen.

    Henner schlief rasch ein, unruhig zwar, und einmal erbrach er im Bett. Aber das nahm ich ihm nicht übel und machte das Bett frisch, soweit das bei dem inzwischen bewusstlosen Mann möglich war. Ich setzte mich neben ihn. Ich fühlte immer wieder seinen Puls und spürte genussvoll, dass er immer langsamer wurde.

    Tatsächlich hörte es nach einer Weile auf. Das Herz meine ich.

    Es ist schon wichtig, im richtigen Moment die richtige Suppe richtig zu würzen.

  • Beitrag zur Lesung „Gärten“, Moderation Jürgen Rogge, Würzburg 2016

     

    Mein Freund Ralph führte bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren eine Allgemeinarztpraxis im benachbarten Renningen. Jetzt ist er wie ich regelmäßig in der Notfallpraxis Leonberg tätig. Bei dieser Gelegenheit kamen wir im vergangenen Sommer auf meine Fotografien von Blumen und Tieren zu sprechen. Er fragte mich: „Weißt du eigentlich, dass wir im Umkreis von zwanzig Kilometern einige kleine Naturschutzgebiete haben, in denen du sehr seltene Pflanzen und sogar fast alle deutsche Wild-Orchideen sehen kannst?“

    Nein, das wusste ich nicht, aber ich bat ihn, mich dorthin zu führen, denn ich wusste, dass Ralph ein exzellenter Hobby-Botaniker ist, der immer wieder Führungen durch diese Biotope leitet. Deshalb vereinbarten wir rasch einen Termin für eine gemeinsame Wanderung. Aus diesem einen Vormittag sind inzwischen mehrere für mich sehr lehrreiche Spaziergänge durch Wald und Flur geworden. Jedes Mal führte mich Ralph an eine andere Wiese, in einen anderen Wald, auf eine andere Heidelandschaft. Ich bekam meinen Privat-Unterricht, gespickt mit lateinischen Namen und am Beispiel erklärten Wesen der Pflanzen.

    Er zog aus seiner Tasche eine Lupe heraus. „Schau mal, dieses Johanniskrautblatt (Hypericum perforatum). Siehst du die winzigen kleinen Löcher in diesem Blatt? Die Blätter sind aber gar nicht perforiert, sondern sie haben kleine Bläschen, in denen Hypericin erhalten ist. Du verschreibst doch auch Johanniskrautextrakt in der Praxis gegen depressive Verstimmung.“ Ich war so begeistert von dem Blatt unter der Lupe, dass ich es durch das Vergrößerungsglas mit der Makrolinse fotografierte.

    „Kennst du den Unterschied zwischen einer echten Kamille (Matricaria chamomilla) und den anderen Formen der Kamille?“ Er holte aus seinem Umhängebeutel ein Taschenmesser und schnitt den Blütenboden der Pflanze auf: „Das ist eine echte! Der Blütenboden ist hohl! Dieser Blütenboden ist bei allen anderen Formen gefüllt!“

    „Ach, schau mal, hier steht Salbei (Salvia offinialis).“ Er nahm eine Blüte, riss einen kleinen Strohhalm aus der Wiese, führte ihn langsam in die Blüte und erklärte: „Wenn die Biene anfliegt – das ist jetzt der Strohhalm – und auf den Blütenboden drückt, gibt es hier einen Mechanismus, der die Blütenstängel aus der Blüte heraus auf den Rücken der Biene kippt und den Blütenstaub aufträgt. Dann fliegt die Biene mit Salbeinektar im Magen und Blütenpollen auf den Flügeln wieder fort und bestäubt andere Pflanzen.“

    Bei jedem der Spaziergänge sah und hörte ich mehr, als ich mir manchmal nicht merken konnte. Deshalb fragte Ralph mich immer wieder nach den Namen und Unterschieden der Pflanzen. Ich habe den Eindruck, er kennt jede mit Vor- und Nachnamen und die lateinische Bezeichnung sowieso. Nebenbei erklärte Ralph mir viele medizinische Anwendungen der Phytotherapie, die ich noch nicht wusste und die er in seiner Praxis oft angewendet hatte.

    Beim nächsten Spaziergang schlenderten wir am späten Vormittag über eine am Südhang in einem Wäldchen gelegene Sonnenwiese mit Wachholdersträuchern. Hier zeigte Ralph mir eine überwältigende Sammlung von wilden Orchideen: Knabenkraut, Stendelwurz, Mücken-Händelwurz, Bocksriemenzunge, Hummel-Ragwurz, Bienen-Ragwurz, Pyramidenorchis. Und da stand noch einer großer Busch Schwarze Tollkirsche in voller Blüte. Herrliche Bläulinge und Zitronenfalter flatterten von Duft zu Duft, die Heuschrecken hüpften von Halm zu Halm. Ich kam gar nicht nach mit Fotografieren, Anschauen, Zuhören, Staunen. Dann setzten wir uns auf eine Bank und waren einfach dankbar, dass wir es uns leisten können, am hellen Werktag mit so viel Genuss mitten in der Natur uns an ihrem Schätzen zu freuen. Und wenn Ralph sich nicht sicher ist, welche Blume er da in der Hand hat, schlägt er in seinem Pflanzenbuch nach, das er immer in der Tasche mit sich trägt.

    Diese Orchideen-Wiese besuchten wir auch an einem kalten und sonnigen Wintertag. In der funkelnden Schneedecke sahen wir Fuchsspuren, die typisch in einer geraden Linie in den Schnee gedrückt waren. An einem Wacholder schaffte ich es, mit Schnellbildfunktion die Sonne in einem fallenden Schneewassertropfen einzufangen.

    Eines Tages im Sommer rief mich Ralph an: „Ich habe eine Schwanenblume gefunden – ganz hier in der Nähe! Die ist ganz selten. Du musst kommen, ich zeig sie Dir!“ Er brachte mich an einen kleinen Bachlauf, und natürlich hätte ich die schöne Blume nicht gesehen und schon gar nicht wertzuschätzen gewusst, wenn Ralph mir die Rarität nicht gezeigt hätte.

    Das nächste Mal brachte er mich zu einer Herkulesstaude, auch als Riesenbärenklau bekannt, am Rand einer viel befahrenen Straße. Wir standen vor der mannshohen Staude, und ich wollte sie anfassen, da stoppte Ralph mich gerade noch rechtzeitig: „Nicht anfassen! Um Himmelwillen, das macht schreckliche Hautausschläge!“

    Ralph und ich genossen inzwischen mehrere stundenlange Spaziergänge. Ihm verdanke ich die Bekanntschaft mit der großartigen und vielseitigen Landschaft in unserer unmittelbaren Nähe, die ich nicht kannte, obwohl ich hier immer gelebt habe. Deshalb habe ich mir inzwischen einige Pflanzenbestimmungsbücher gekauft und freue mich daran, nachzuschlagen und Neues zu lernen.

    Nach unseren Touren kamen wir zurück in Ralphs Haus. Dort hat seine Frau einen wunderbaren Garten angelegt. Ralph sagte: „Gudrun ist für den Garten zuständig, da kennt sie jede Pflanze persönlich. Und ich weiß hier nicht so gut Bescheid wie in Wald und Wiese.“

    Das Faszinierende für mich als Gast in diesem Garten ist die Harmonie, die er ausstrahlt. Da gibt es Ruheplätze, Arbeitsplätze, einen Nutzgarten und einen Ziergarten – alles schön gestaltet als eine Einheit. Da Ralph auch ein sehr vielseitig begabter Handwerker mit hervorragend eingerichteter Werkstatt ist und Gudrun neben ihrem Schuldienst viele künstlerische Arbeiten macht mit eigenem Brennofen für den Ton, haben die Eheleute einige gemeinsame handwerklich-künstlerische Projekte geschaffen. Am selbst gebauten Gartenhaus hängt zum Beispiel eine Leiter. Sie sieht aus wie eine Drahtleiter, besteht aber aus Sprossen, die aus verschieden farbigem Ton gebrannt sind. Eine witzige Umdeutung des Wortes Tonleiter.

    Zuhause lud ich meine Bilder in den PC, und Ralph bot sich immer an, alle mit mir zu beschriften. Das begeisterte ihn so, dass er sich sogar eine neue Kamera kaufte, um bessere Makroaufnahmen machen zu können.

    Als Ralph sich an seine neue Kamera gewöhnt hatte, schlug ich ihm vor, mit mir in die Wilhelma zu gehen, das ist der botanisch-zoologische Garten in Stuttgart. Hier kannte ich mich aus und zeigte Ralph meine Lieblingsplätze. Die Landschaft dort verbindet in einzigartiger Weise die Fülle von Tierwelt und Botanik. Der kleine Wald aus Mammutbäumen (Sequoia gigantea), die reichhaltig mit seltenen Pflanzen bestückten Gewächshäuser und die neue Primaten-Anlage mit ihrem Gorilla-Kinder-garten sind meine Hauptziele. Bei jedem Besuch entdecke ich etwas Neues und freue mich darüber.

    Wir haben jetzt ein gemeinsames Projekt vereinbart. Jeder hat sich einen Baum gesucht, den wir mindestens einmal im Monat fotografieren wollen, um die jahreszeitlichen Veränderungen bewusst zu erleben und zu dokumentieren. Ich beobachte eine weit ausladende Eiche, die allein und mitten in einem großen Feld steht. Ralph hat einen mächtigen Apfelbaum entdeckt, vom dem er schon jetzt ein leuchtend buntes Herbstbild vergrößert in der Wohnung aufgehängt hat.

    Ralph plant zurzeit ein eigenes Pflanzenbuch mit Fotos und medizinischem Wissen. Ich fotografiere mehr und freue mich daran, dass Ralph mir den großen Garten der Naturschutzgebiete in unserer Gegend gezeigt hat. Aber wenn wir zu zweit durch die Landschaft schlendern, lerne ich mehr über Botanik. Sie ist das Ziel meiner gelegentlichen Fotostunden, auch wenn Ralph nicht mitgehen kann. Ich bin dankbar, dass wir die Freude an der Natur gemeinsam genießen können. Das ist eine willkommene Abwechslung zu unserer Praxisarbeit und für mich eine Entdeckung im Alter.

     

  • Betrag zur Lesung „Werte und Wertewandel) beim BDSÄ-Kongress 2916

     

    Ganz verschiedene Werte und Wertungen

     

    Anstatt eine theoretische philosophische Abhandlung zu diesem wichtigen Thema zu schreiben, will ich an einigen knapp skizzierten Beispielen aus meinem Alltag zeigen, wie unterschiedlich Werte erlebt und geäußert werden.

     

    Der Patient in der Notfallpraxis sagt: „Gestern habe ich mir den Zeigefinger in der Tür geprellt. Da bin ich heute Nacht wegen der Schmerzen durch die Hölle gegangen.“

     

    Die fünfundzwanzigjährige Frau fährt im Elektrorollstuhl in das Behandlungszimmer. Ich frage, warum sie im Rollstuhl sitzt.

    Sie antwortet lachend: „Ich habe eine angeborene Zerebralparese und kann seit ein paar Monaten nicht einmal mehr stehen. Außerdem habe ich regelmäßig epileptische Anfälle. Jetzt komme ich wegen meiner fieberhaften Grippe. Aber mir geht´s gut.“

     

    Der dreijährige bis jetzt gesunde Junge sagt zu seiner Mutter: „Jetzt ist alles dunkel. Warum hast Du das Licht ausgemacht? Mach es wieder an!“ –

    Der Junge war plötzlich auf beiden Augen blind geworden. Wenige Stunden später sahen die Ärzte im Schädel-Comptertomogramm Metastasen im Kleinhirn und an der Kreuzung der Sehnerven.

     

    Eine Frau mit metastasierendem Bronchialkarzinom im Endstadium, die im Pflegeheim liegt, sagt zu mir: „Wenn Sie mich noch einmal besuchen wollen, müssen Sie es bald tun. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Das schönste Erlebnis heute war, als die Schwester mir ein Glas warme Milch gebracht hat. Die Liebe, die ich hier empfange, ist ein großes Geschenk, für das ich unendlich dankbar bin.“

     

    Als Arzt in der Neurologischen Reha-Klinik nahm ich einen Patienten nach Schlaganfall auf meiner Station auf. Nach dem ausführlichen Gespräch mit Untersuchung fragte die Ehefrau: „Was kann ich noch für meinen Mann tun?“

    Ich legte mein Buch „Wenn das Licht naht – der würdige Umgang mit schwer kranken, sterbenden und genesenden Menschen“ auf den Tisch.

    Sie war verblüfft und lachte mich an. „Oh, Sie haben das geschrieben! – Dieses Buch hat mich auf der Intensivstation in München in den letzten Wochen am Bett meines Mannes am Leben gehalten. Eine Schwester hat es mir ausgeliehen.“

     

    Die zwanzigjährige Frau ägyptischer Abstammung sagt in der Sprechstunde: „Gottseidank bin ich nicht schwanger. Wenn mein Vater wüsste, dass ich einen Freund habe und mit ihm schlafe, würde er zuerst meinen Freund und dann mich umbringen.“

     

    Bei einem Hausbesuch in einer sehr wertvoll eingerichteten Villa werde ich in das ehemalige Arbeitszimmer des Hausherrn geführt. Jetzt ist es sein Schlafzimmer – mit Blick in den wunderbar gepflegten Garten. Der Mann liegt seit zwei Jahren nach Schlaganfall im Wachkoma und atmet spontan durch eine Kanüle in der Luftröhre, seine Augen sind geschlossen. Er reagiert nicht auf meinen Gruß.

    Seine Frau sagt: „Jeder Tag, den ich ihn hier pflegen darf, ist ein Geschenk für mich, für das ich jeden Tag dankbar bin. Und trotzdem hoffe ich, dass er bald friedlich einschlafen darf. Jeden Tag begrüße ich meinen Mann – und nehme ein bisschen Abschied.“

     

    In der Praxis habe ich eine Woche lang einen ägyptischen Mann behandelt, der seine in Leonberg verheiratete Tochter besuchte, nicht viel Geld hatte und schon die überstürzte Heimreise plante. Ich habe ihn dann kostenlos behandelt.

    Bei seinem letzten Besuch in der Praxis kniete seine Frau beim Abschied vor mir nieder, nahm meine beiden Hände und sagte etwas, was die Tochter übersetzte: „Ich bitte Gott, dass er mir zehn Lebensjahre nimmt und sie Ihnen schenkt.“

    Eine Frau mittleren Alters kam nach langem Krankenhausaufenthalt in die Sprechstunde, legte einen langen Arztbrief auf den Tisch und fragte, ob ich sie als neue Patientin annehme. Ich überflog den Brief und sah eine lebensbedrohliche Diagnose mit einigen Komplikationen und zwei Reanimationen.

    Ich sagte anerkennend: „Da haben Sie aber viel durchgemacht. Und die Ärzte haben Ihnen wirklich geholfen.“

    Die Frau antwortete wütend: „Das ist ein Scheiß-Krankenhaus!“

    „Wieso das denn?“

    „Da hat doch tatsächlich die Schwester an einem Morgen vergessen, mir einen Löffel zum Joghurt zu bringen!“

     

    Die Frau im Endstadium einer bösartigen Erkrankung wird von einem mir bekannten Hausarzt gefragt: „Was ist Ihnen denn noch wichtig? Gibt es etwas, was Sie unbedingt noch erleben wollen?“

    Die Frau sagt nach einiger Überlegung: „Der Haushalt muss aufgeräumt sein!“

     

    Mein Freund Nabil stammt aus Syrien. Nach dem Medizinstudium kam er mit seiner jungen Frau nach Deutschland und wurde Internist und Radiologe. Er hatte seit 1984 über viele Jahre seine Praxis im Haus neben meiner Praxis. Jetzt ist er wie ich Rentner, arbeitet in der Notfallpraxis weiter und leitet noch das Nuklearmedizinische Zentrum im Krankenhaus Sindelfingen. Häufig wird er als Übersetzer gebraucht, wenn Flüchtlinge aus den arabischen Ländern behandelt werden sollen. Nabil hat mir die beiden folgenden Geschichten erzählt.

    Ein 24-jähriger schlanker und gut aussehender Mann kommt mit nachhängendem rechtem Bein, spastischer Arm- und Handlähmung und Sprachstörung in die Klinik. Nach der Ursache seiner Lähmung gefragt berichtet er, ein ungarischer Grenzsoldat habe ihn bei der Flucht mit einem Elektroschockgerät mehrfach heftig auf die linke Schädel-seite geschlagen, dann habe es im Kopf geblutet. –

    Nabil fragt nach: „Wäre es nicht besser gewesen, wenn Sie in Syrien geblieben wären?“ –

    „Nein, ganz sicher nicht, die Regierungstruppen und die Rebellentruppen wollten mich zum Wehrdienst einziehen. Ich wollte nicht kämpfen. Wenn ich geblieben wäre, hätten Sie mich erschossen. Es ist alles gut. Ich bin hier und lebe!“

     

    Nabil machte von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in einer Flüchtlingsunterkunft in Leonberg und traf dort eine junge Familie aus Syrien.

    Der Ehemann erzählte: „Wir wurden täglich mit Bomben beschossen, in unserer Straße stand kein Haus mehr. Wir hatten nichts mehr, wir konnten nichts anders tun, als zu Fuß zur türkischen Grenze zu wandern. Meine Frau war im neunten Monat schwanger, unser eineinhalbjähriger Sohn war bei uns. In der Türkei wurde unser zweites Kind im Lager geboren, es ist jetzt vier Wochen alt. Aber wir sind hier, und wir sind gesund und dankbar.“

    Neulich machte ich mitten in der Nacht von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in Weissach in der Stadthalle, die als Flüchtlingsunterkunft umgebaut war. Nachdem ich den Patienten untersucht hatte, sagte die Angestellte vom Sicherheitsdienst: „Jetzt können Sie auch gleich noch mit dem Bürgermeister sprechen.“

    Ich war verblüfft: „Jetzt morgens um zwei Uhr ist der Bürgermeister hier?“

    Tatsächlich stand vor der Halle eine Gruppe junger Männer und unterhielt sich lebhaft. Ich stellte mich vor, und einer der Männer sagte: „Ich bin Daniel Töpfer, der Bürgermeister.“

    Ich lachte ihn an: „Das ist ja ungewöhnlich, nachts um die Zeit den Bürgermeister bei Flüchtlingen zu treffen? Was machen Sie hier?“

    Er lachte zurück: „Wir haben vier Partien Schach gespielt!“

    Da mischte sich einer der Flüchtlinge mit gutem Englisch ein und erzählte begeistert, dass sie oft Schach miteinander spielen, und das sei großartig, „but Daniel always wins, he is a champion!“

    In welcher Stadt in Deutschland nimmt sich ein Bürgermeister Zeit, um mitten in der Naht vier Partien Schach mit Flüchtlingen zu spielen?

    Meine Hochachtung, Herr Töpfer, für ihre meisterliche Bürger-Nähe!

     

    (Für die nicht Ortskundigen: Weissach ist eine Gemeinde mit etwa 7500 Einwohnern im Kreis Böblingen. Hier hat Porsche sein Entwicklungszentrum. Daniel Töpfer wurde 2014 im Alter von 25 Jahren mit 58% zum Bürgermeister gewählt.)

  • Diese Texte trug Eberhard Grundmann beim BDSÄ-Kongress 2015 in Bremen vor in der Lesung über Bremer Stadtmusikanten“ (Moderation Helga Thomas)

    Tagfreier Tag

    Herr Wennemann klappt den Kalender auf
    und sieht, dass in des ganzen Jahres Lauf
    sich ein Gedenktag an den andern drängt,
    auf manche Tage eine Vielzahl zwängt.
    Just siebenhundertfünfundvierzig Tage
    fand Wennemann, und das sind schliesslich sage
    und schreibe reichlich zwei pro Tag im Schnitt.
    Zählt man jedoch nur die globalen mit,
    so findet man zweihundertfünfzehn Treffer –
    für eine Jahressuppe reichlich Pfeffer.
    Es finden sich dabei ein Tag des Lachens
    sowie ein Tag des Musik-selber-Machens,
    ein Tag des Kusses und ein Tag der Huren
    wie gleichfalls der Versöhnung mit den Buren,
    die Deutschen retten einmal die Kastanien,
    am zweiten Mai denkt an Madrid ganz Spanien,
    die Toiletten ehrt man im November,
    die Anti-Korruption dann im Dezember,
    dann wieder widmet man sich dem Tourismus
    beziehungsweise schließlich dem Autismus.
    Gesundheit allgemein sowie der Zähne
    entdeckt man alsbald neben Handhygiene,
    am siebten März Gesundernährung steht,
    am sechsten Mai dagegen Anti-Diät.
    Psoriasis und Leber, Niere, Herzen,
    sowie auch Rheuma, Lepra, Krebs, Kopfschmerzen
    erhalten einen eignen Tag als Bonus,
    desgleichen Brailleschrift und Hypertonus.
    Knapp fünfzig aller Denktermine hangen
    allein an medizinischen Belangen.
    Doch dann fand Wennemann noch unbenutzte
    zweiundsechzig Tage, und er stutzte.
    Er rief den Aberach, das Glück zu teilen.
    Sie proklamierten ohne zu verweilen
    den Tagefreien Welttag und fixierten
    als Jahresdatum Monat März, den vierten.
    (26.02.2013)

    Schweinerei

    Verwunderlich, verwunderlich,
    wie Menschen oft beschimpfen sich
    mit den Namen ihrer besten und nützlichsten
    Freunde aus dem Tierreich:
    Schwein, Hund, Esel, Ochs.
    Weit schlüssiger würde es sein,
    beschimpfte ein Schwein ein anderes Schwein –
    ein ganz besonders bösartiges Schwein:
    Du Mensch!
    Doch davon kenn ich keinen Bericht,
    denn solche bösen Schweine gibt’s nicht.
    (02.11.2014)

    Bremer Stadtmusikanten

    Die Stadtmusikanten von Bremen,
    getrieben von argen Problemen,
    sie fassten den Plan und sie gingen
    gen Bremen, um dorten zu singen.
    Doch schon auf dem Wege nach Stunden
    war ihre Misere verschwunden,
    auch ohne die Stadt zu erreichen.
    Was lehrt uns nun das und dergleichen?
    Erlangen wir oft auch im Leben
    nicht das, was wir eifrig erstreben
    und lässt sich nicht alles erklimmen,
    so gilt doch: die Richtung muss stimmen!

  • Gedanken im Zug nach Hause bei der Lektüre von Uhlenbruck „Gedankensplitter ohne Kopfzerbrechen“

    Wer im Zug Aphorismen von Uhlenbruck in einem Zug lesen will, wird ständig von den Stoppschildern der Gedanken gebremst, damit die eigenen Gedanken zum Zug  kommen.

    Wenn ich schon mal eine guten Gedanken habe, schreibe ich ihn auf, damit ich besser darüber nachdenken kann.

    Gute Aphorismen sind kurze Gedanken, die zum langen Nachdenken anregen.

    Wer viel redet, sollte sich kurzfassen. Wer sich kurzfasst, kann sich das Vielreden sparen.

    Ein kleines Aphorismenbuch von Uhlenbruck enthält mehr Drama und Lebensweisheit als viele dicke Romane zusammen.

    Ein guter Aphorismus bewirkt das gleiche wie eine Krankheit: Wir werden am unbewussten Weiterlesen (Weiterleben) gehindert und zur Selbstreflektion gezwungen.

    Warum lege ich das Ubhlenbruck-Buch nach vier Seiten weg? Weil es Aphorismen aus dem Versteck meines Gehirnes lockt. Das ist Aphorismen-Resonanz.

    Warum lese ich dann weiter? Weil es noch viel zu lernen gibt im Lehrbuch des Lebens.

    Beim Lesen eines Aphorismus geht mir das Licht auf, dass ich diese Erkenntnis noch nicht aus dem Dunkel meines Gehirns ans Licht meines Bewusstseins geholt habe. Wie hell ist es dann in den Menschen, die ein Aphorismenbuch geschrieben haben?

    Die Schriftstellerärzte wollen eine Lesung über Erotik abhalten, die nicht unter die Gürtellinie gehen darf. Ist das eine Quadratur des Kreises oder eine Sublimierung des Greises?

    Wie beschreibt man Dinge unterhalb der Gürtellinie, ohne diese zu unterschreiten und trotzdem treffend? Mit Geist!

    Macht das dann weltliche Freude oder ist es nur sublimierte Kompensation?

    Eine der wichtigsten Übungen des Säuglings für das ganze Leben: Kopf hoch und dabei lächeln!

    Jeder Aphorismus ist ein Titel für eine ganze Romansammlung.

    Unwissenheit und mangelnde praktische Erfahrung sind eine gute Voraussetzung um schnell radikale Urteil zu fällen. Vorurteile zu zementieren und Machtansprüche zu erheben und auszuleben. Die katholische Sexuallehre ist ein Jahrtausende altes Beispiel.

    Warum stellt der Papst Regeln für ein Spiel auf, das er und seine Glaubensbrüder nicht spielen dürfen?

    Angst ist eine sehr wirksame Autosuggestion, dass genau das geschieht, wovor wir uns fürchten. Auch deshalb sollten wir uns vor unseren Gedanken hüten.

    Wir wollen Kinder behütet wissen. Behüten wir auch unsere Gedanken?

    In der Erinnerung verblasst ein Mensch, oder er wird durch Überhöhung idealisiert. Selten entspricht die Erinnerung der Realität.  So gehen wir auch mit der Erinnerung an uns selbst um.

    Die Rolle des Sündenbocks ist in einer Gemeinschaft eine wichtige Funktion, auf die sich manche viel einbilden. Die Medien können ihn zum Star stilisieren. Die Medien verdienen, ohne es verdient zu haben, meist umgekehrt proportional zum Verdienst des Sündenbocks.

    Ein unkundiger Kunde ist ein guter Kunde, weil er die Kunde vom Betrug mit dem Betrag noch nicht erkundet hat.

    Vor mir sitzt eine Mutter, die sich rührend um ihr zerebral schwerst behindertes Kind kümmert. Diese Frau ist der Engel, den Gott dem Kind als Lebensbegleiter an die Seite geschickt hat.

    Mancher Mensch wird besonders bissig, wenn er die dritten Zähne trägt.

    Das Thema loslassen wird uns nicht loslassen, bis wir unser Leben loslassen.

     

     

  • Dieser Text wurde vorgetragen beim Jahreskongress des BDSÄ 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Bremer Stadtmusikanten“

     

    Eine wichtige Botschaft aus dem Märchen „Bremen Stadtmusikanten“ ist für mich, dass wir uns durch unvorhergesehene, abwegige, verrückte, unpassende, vielleicht auch laute Ereignisse und Anforderungen nicht aus dem Gleichgewicht bringen oder gar in die Flucht schlagen lassen dürfen.

    Ein Beispiel dafür habe ich neulich erlebt mit zwei Begegnungen der besonderen Art in einer Nacht.

    Ich war gerade in meinem Dienstzimmer eingeschlafen, wo wir Ärzte uns ausruhen können, wenn wir Nachtdienst in der Notfallpraxis haben. Da rief mich die Arzthelferin in die Praxis zurück. Auf dem Weg über den Flur machte ich mir zum soundsovielten Mal klar, dass ich jetzt trotz meiner Müdigkeit freundlich und aufmerksam sein musste.

    Es gibt ja tatsächlich Patienten, die nachts in die Notfallpraxis kommen und wirklich ein Notfall sind. Ich meine mit Notfall, was ein Arzt darunter versteht: eine frisch aufgetretene Notsituation, die den Patient akut bedroht und in der er sofort Hilfe benötigt. Oft habe ich den Eindruck, dass die Notfallpraxis für manche Menschen eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt ist, zu der sie gehen, wenn sie gerade Zeit haben, ein schon längeres Bedürfnis zu stillen oder eine unangenehme Sache zu klären. Außerdem muss man in unserer Notfallpraxis auch selten lang warten, jedenfalls nicht länger als in so mancher Arztpraxis. Die Patienten wissen das genau und nützen es aus. Ich komme mir manchmal vor wie ein Angestellter bei McDonald´s oder an der Tankstelle. Aber jetzt, heute Nacht, bin ich der Verantwortliche in einer richtigen Arztpraxis.

    Auf der Rezeption steht eine halb volle Sprudelflasche. Die junge Frau weint, als wir einander begrüßen. Eine Begleitperson sitzt still im Eck.

    „Was gibt´s denn?“, frage ich.

    Die Patientin schaut mich durch ihre Tränen an und fragt mit weinerlicher Stimme:

    „Können Sie mir sagen, warum mein Mund seit heute Abend keine Spucke mehr produziert?“

    Ich bin verblüfft und versuche, meinen Ärger zu besänftigen.

    „Und das fragen Sie mich jetzt um halb zwei morgens?“

    „Ja, das möchte ich jetzt wissen, ich werde fast verrückt. Ich trinke und trinke, und ich habe trotzdem einen furztrockenen Mund.“

    Da greift die Arzthelferin ein: „Sie müssen dem Herrn Doktor aber schon die ganze Geschichte erzählen!“

    „Und was ist die ganze Geschichte?“

    „Ja, wissen Sie, ich habe mir Anfang der Woche ein Zungenpiercing-Loch erweitern lassen, da schwillt die Zunge an, das ist ja in Ordnung, und das ist auch schon wieder vorbei, aber jetzt habe ich keine Spucke mehr! Es macht mich wahnsinnig!“

    Ich bin drauf und dran, der Frau zu empfehlen, jetzt sofort mitten in der Nacht ihren Piercer anzurufen und um Rat zu fragen. Aber ich halte mich zurück und sage: „Na, über Piercing habe ich sicher eine andere Meinung als Sie! Kommen Sie ins Sprechzimmer, ich schau mir das mal an.“

    Ich untersuche die Mundhöhle und sehe kein Piercingloch, keinen Zungenstecker und einen auch sonst völlig gesunden Mund.

    Dann zucke ich mit den Schultern: „Ich weiß nicht, warum Sie keine Spucke haben. Haben Sie denn Medikamente genommen, die als Nebenwirkung einen trockenen Mund machen können?“

    „Nein, ich nehme gar keine Medikamente!“ –

    Die Frau wird etwas ruhiger, wahrscheinlich, weil sie merkt, dass ich sie doch wenigstens ernst nehme.

    „Dann erzählen Sie mir mal genau, was Sie heute Abend gemacht haben. Vielleicht komme ich dann drauf, was Ihr Problem verursacht hat.“

    Sie schildert einen unauffälligen Verlauf des Abends, dann kommt der entscheidende Satz:

    „Nach dem Zähneputzen habe ich noch eine Mundspülung gemacht, richtig lang und gründlich, damit es ja keine Infektion in dem Piercingloch gibt!“

    Ich bin erleichtert:

    „Ja, dann ist doch alles klar. Kennen Sie den Begriff adstringierende Wirkung?“

    „Nein.“

    „Das Mundspülmittel zieht die Schleimhaut zusammen und schließt damit auch die Ausführungsgänge der Speicheldrüsen. Das ist sehr lästig und völlig harmlos!“

    Die Frau schaut mich verblüfft an. „Und jetzt? Was mach ich jetzt?“

    Ich lächle sie an: „Ruhig bleiben, weiter trinken, bis die Wirkung nachlässt. Dann machen die Speicheldrüsen wieder auf. Im Lauf des Vormittags ist wieder alles in Ordnung!“

    Die junge Frau kann es kaum glauben, verlässt aber dann einigermaßen beruhigt die Praxis.

    Ich gehe zurück in mein Dienstzimmer und lege mich wieder hin. Nach einer weiteren Stunde im Halbschlaf werde ich erneut in die Praxis gerufen.

    Das steht ein Mann etwa Mitte vierzig und sagt: „Ich habe seit sechs Wochen Schmerzen an der linken Fußsohle. Können Sie da was machen?“

    Ich bemühe mich, nicht zu explodieren. Diese Situation habe ich oft erlebt: Ein völlig unangemessener Wunsch zur Unzeit und dann noch mit einer ebenso unpassenden Anspruchshaltung auf Sofort-Wunderheilung. Ich weiß, dass ich ruhig bleiben muss. Also sage ich nur mit gebremster Freundlichkeit und so, dass der Patient merkt, wie er bei mir auf ein roten Knopf gedrückt hat:

    „Also, seit sechs Wochen haben Sie das, und da kommen Sie mitten in der Nacht? Was sagt der Hausarzt?“

    Der Patient erwidert ganz ruhig: „Ich war bei keinem Arzt!“

    Ich bleibe auch ruhig – äußerlich wenigstens: „Da fühle ich mich aber ganz schön verschaukelt von Ihnen und ausgenützt! Haben Sie gelesen, dass da draußen auf dem Schild Notfallpraxis steht? Sie sind ganz bestimmt, ganz sicher nie und nimmer ein Notfall. Ist Ihnen das bewusst?“

    Der Patient zuckt mit der Schulter: „Nein, aber heute Abend hat´s weh getan. Und jetzt bin ich da. Was machen wir jetzt?“

    Ich weiß ja, dass ich den Patient versorgen muss, also schlucke ich meinen Ärger runter und sage: „Zeigen Sie mir mal den Fuß.“

    Ich untersuche den Fuß gründlich, denn auch ein nächtlicher Nicht-Notfall-Patient kann ja mal krank sein. Die Fußsohle zeigt keine Entzündung, keine Verletzung, keine Druckschmerzen, keine Bewegungsschmerzen, keine Hautauffälligkeiten, es ist wirklich eine völlig normale Fußsohle.

    Mit ernster Miene sage ich: „Das ist ein eindrucksvoller Befund!“

    „So, was ist das?“

    „Eine völlig normale Fußsohle!“

    Nach dieser Verblüffung überlegt der Patient: „Ja, können Sie die Glasscherbe jetzt rausmachen?“

    Jetzt bin ich überrascht: „Glasscherbe? Wie kommen Sie denn auf Glasscherbe?“

    „Ja wissen Sie, vor sechs Wochen habe ich im Urlaub am Strand Volleyball gespielt, und da habe ich mir wahrscheinlich eine Glasscherbe reingetreten. Die können Sie doch jetzt rausoperieren!“

    Ich hole Luft: „In so eine gesunde Fußsohle wird kein vernünftiger Chirurg reinschneiden, schon gar nicht, wenn er nicht sieht und tastet und Sie nicht wissen, wo die Glasscherbe ist!“

    „Aber Sie können doch jetzt ein Röntgenbild machen!“

    „Ich mache jetzt ganz sicher mitten in der Nacht kein Röntgenbild, auch deshalb nicht, weil man eine normale Glasscherbe im Röntgenbild nicht sieht. Nur wenn Sie schwören, dass es ein Bleiglas war, – und das können Sie nicht -, dann kann man die Scherbe im Röntgen sehen.“

    Der Patient lässt nicht locker.

    „Aber Sie können doch jetzt eine Computertomografie machen!“

    „Wenn es ein lebensbedrohlicher Notfall wäre, zum Beispiel ein Schlaganfall, könnte man jetzt ein CT machen, da haben Sie Recht. Aber die Sache hatte jetzt sechs Wochen Zeit. Dann muss ich nicht notfallmäßig auch noch die Röntgenassistentin aus dem Bett holen. Ich denke, das sollten Sie mal in Ruhe in der ganz normalen Sprechstunde mit Ihrem Hausarzt besprechen. Der kann Sie dann immer noch, wenn er es für nötig hält, zum Röntgen oder zum Chirurgen überweisen.“

    „Ja, und was soll ich jetzt machen?“

    „Jetzt machen Sie es wie in den letzten sechs Wochen auch. Gehen Sie nach Hause. Und wenn Sie je wieder Schmerzen haben – jetzt haben Sie ja keine Schmerzen -, dann nehmen Sie ein Schmerzmittel. Gute Nacht!“

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • Freitagnacht. Sprechstunde in der Notfallpraxis im Marienhospital.

    Der ältere Herr ist einfach und sauber gekleidet, schlank, stellt einen kleinen Rucksack neben den Stuhl, auf den er sich setzt, und sagt: „Ich habe eine chronische Bronchitis.“

    Dann wartet er auf meine Reaktion.

    „Haben Sie sonst noch Beschwerden?“ –

    „Nein!“

    „Dann lassen Sie mich mal die Lunge abhören, bitte.“

    Er steht auf, ich ziehe sein Hemd hoch, höre Lunge und Herz ab:  „Alles normal, prima!“

    Dann messe ich mit dem Ohrthermometer seine Temperatur: „37,1° C, auch gut! – Haben Sie überhaupt irgendwelche Beschwerden?“

    „Nein!“

    „Warum sind Sie dann da?“

    „Ich habe meinen Hausschlüssel verloren! Und der Mann, der mir helfen kann, der Hausmeister, kommt erst am Montag.“

    „Das ist natürlich dumm. Wo schlafen Sie bis dahin?“

    „Ja, ich denke, hier im Krankenhaus!“

    Ich bleibe freundlich und sehr bestimmt.

    „Also ganz sicher werden Sie nicht hier übernachten! Das hier ist ja kein Hotel! Da müssen Sie eine andere Lösung finden!“

    Er entgegnet ganz ruhig: „ Aber das ist doch ein christliches Krankenhaus, die müssen mir helfen!“

    „Ja“, sage ich, „aber nur wenn Sie krank sind! Sie sind nicht krank, sondern Sie haben den Hausschlüssel verloren! Das ist etwas ganz anderes. Dafür sind wir hier nicht zuständig!“

    Die Medizinische Fachangestellte, die mir in der Sprechstunde hilft und den Dialog mitgehört hat, fragt: „Haben Sie den Schlüsseldienst angerufen?“

    Der Mann antwortet empört: „Ja klar, aber der will 83 Euro haben, und die will ich nicht zahlen!“

    Sie bleibt direkt: „Wollen Sie nicht zahlen, oder können Sie nicht zahlen?“

    „Ich will nicht bezahlen, weil ich dann am Wochenende gar nicht aus der Wohnung gehen kann, sonst muss ich jedes Mal wieder neu den Schlüsseldienst rufen und wieder 83 Euro zahlen!“

    „Könnten Sie das Geld zahlen?“

    Er zögert, dann etwas kleinlaut: „Ja, aber ich habe kaum Geld da.“

    „Und auf der Bank? Können Sie etwas abheben?“

    „Ja, aber da gibt es auch nicht wesentlich mehr!“

    Er macht eine Pause, dann setzt er nach und fixiert mich: „Sie müssen mir helfen, Sie sind doch Arzt!“

    „Ja, stimmt, wenn Sie krank sind, bemühe ich mich, Ihnen zu helfen. Aber Sie haben den Hausschlüssel verloren und wollen die Hilfe, die Sie haben und bezahlen könnten, nicht annehmen. Das ist etwas ganz anders. Ich bin der falsche Ansprechpartner für Sie. Und wenn ich die Internisten hier im Haus bitte, Sie stationär aufzunehmen, werden die sich strikt weigern. Es gibt keinen medizinischen Grund für eine stationäre Aufnahme. Sie erwarten selbstverständlich, dass die Krankenkasse sofort mehrere hundert Euro zahlt, wenn Sie übers Wochenende hier aufgenommen werden. So geht das nicht!“

    Er gibt nicht nach: „Aber ich brauche doch nur ein Bett und eine Toilette und eine Dusche!“

    „Das verstehe ich. Dann müssen Sie in ein Hotel gehen, nicht in ein Krankenhaus. Sie könnten sich aus Ihrer Lage leicht retten, wenn Sie die 83 Euro investieren, dann können Sie eben übers Wochenende nicht aus dem Haus gehen, oder Sie fragen Nachbarn um Hilfe.“

    „Ich habe kein gutes Verhältnis zu den Nachbarn“, ist seine etwas zerknirschte Antwort.

    Ich will der Situation einen Ausweg geben und den Patient in Gutem entlassen und nicht hinauswerfen. Deshalb bitte ich die MFA, mir den Ordner zu geben, in dem die Adressen für Notunterkünfte in Stuttgart verzeichnet sind. Wir überfliegen die Seite.

    Ich erkläre es dem Patienten: „Hier diese Adressen sind für Obdachlose, für Frauen und für Kinder in Not und für junge Drogenabhängige. Da passen Sie nicht hin, denn Sie haben ja ein Obdach, eine Adresse, nur eben keinen Schlüssel dazu.“

    Es entsteht eine Pause. Dann sagt er:

    „Ja, und jetzt?“

    Ich antworte: „Das Einzige, was ich jetzt noch tun kann: Ich rufe in dem Obdachlosenheim für Männer in der Nordbahnhofstraße an und frage um Rat.“

    Die Nummer ist rasch gewählt, ich stelle mich dem Diensthabenden im Obdachlosenheim für Männer vor, erkläre die Situation und frage, was er meinem Patienten rät.

    Die Antwort ist so klar wie knapp: „Wenn Ihr Patient den Schlüsseldienst nicht bezahlen will, schläft er auf der Straße. Wenn er den Schlüsseldienst nicht bezahlen kann, hat er ein Recht, sich im Obdachlosenheim in der Hauptstädterstraße 150 zu melden. Aber die werden ihn sehr genau fragen, warum er nicht zu Hause schläft! Ich glaube nicht, dass er da reinkommt. Aber versuchen kann er es ja.“

    Oje, denke ich, das ist auch die Adresse für jugendliche Drogensüchtige!

    Die MFA sagt: „Da werden Sie sich nicht wohlfühlen. Da ist es besser, Sie holen den Schlüsseldienst!“

    Ich erkläre dem Patienten noch einmal die Situation. Er akzeptiert widerwillig die Adresse und geht.

    Als er nach dem Rucksack greift, der da prallvoll steht, kommt mir der Gedanke: Wer verliert zufällig seinen Hausschlüssel und hat ebenso zufällig seinen vollen Rucksack dabei? Steckt da etwas ganz anderes dahinter? Hat der Patient mich angelogen oder nur die halbe Geschichte erzählt? Aber ich will nicht eine neue Diskussion anfangen und lasse den Patienten gehen. Ich weiß, dass ich ihm nicht mehr helfen kann, als ich es getan habe.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Der Text wurde vorgetragen beim BDSÄ-Jahreskongress 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

  • Dieses Verzeichnis soll möglichst vollständig werden. Deshalb bitte ich alle Mitglieder, mir Themen und Moderatoren mitzuteilen, die ich in dieser Liste noch nicht aufgeführt habe.

    Vielen Dank für die Mitarbeit!

    Dr. Dietrich Weller

    Stand 29. Oktober 2018

     

    Noch nicht vergebene Themen-Vorschläge für zukünftige Lesungen:

    Sicherheit und Gewissheit
    Zuversicht und Vertrauen
    Gefühle und Starre
    Intuition und Stillstand
    Schutz und Freiheit
    Regeln der Freiheit
    Bescheidenheit und Demut
    Tür und Tor
    Streifzüge
    Lebensfreude und Lebensglück
    Die historische Schwelle der Gegenwart

     

    Bad Herrenalb 2019 

    Eine Reise zu den Sternen (Weitbrecht)
    Was uns geprägt hat( Weller)
    Was wäre wenn . ….. (Thomas)
    Nach 50 Jahren (Kayser)
    Freie Themen (Grundmann)

     

    Wismar 2018:

    Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähle ihm von deinen Plänen (Kromphardt)
    Wenn die Liebe ruft (Thomas)
    Freie Themen (Kayser)
    Inseln (Grundmann)
    Der Roboter im Menschen – der Mensch im Roboter (Weller)

     

    Gummersbach 2017

    Wenn plötzlich alles anders ist (Hans Brockmann)
    Sagen und Meinen (Eberhard Grundmann)
    Gehen oder Bleiben (Dietrich Weller)
    Masken (Jürgen Rogge)
    Freie Lesung (Klaus Kayser)

     

    Würzburg 2016

    Teufeleien (Klaus Kayser)
    Werte und Wertewandel (Vortrag von Walter-Uwe Weitbrecht. Moderation der Lesung Helga Thomas))
    Geheimnisse (Dietrich Weller)
    Gärten (Jürgen Rogge)
    Freie Lesung (Eberhard Grundmann)

     

    Bremen 2015 

    Fehler (Dietrich Weller)
    Freie Themen (Walter-Uwe Weitbrecht)
    Schiff und Fisch (Jürgen Rogge)
    Erotik (Horst Ganz / Harald Rauchfuß)
    Bremer Stadtmusikanten (Helga Thomas)
    Multimedia Lesung (Klaus Kayser)

    Erfurt 2014

    Gott und wir (Hans Brockmann)
    Zauberei und Realität (Klaus Kayser)
    Die innere Stimme (Barbara Kromphardt)
    Kommen und Gehen (Harald Rauchfuß)
    Harmonie und Distanz (Horst Ganz)
    Seminar „Bildlich gesprochen“ – Das sprachliche Bild in der Dichtung (Ute Reinhart-Kemm)

    Münster 2013

    Beschauliches und Erbauliches (Hans Brockmann)
    Konflikt und Chance (Dietrich Weller)
    Besondere Charaktere (Helga Thomas)
    Einfach tierisch (Paul Rother)
    Als wär´s mein bester Text (Harald Rauchfuß)
    Humor (Claus Dreessen)
    Seminar „Verseschmiede“ (Ute Reinhart-Kemm)

    Freiberg 2012

    Nonsens-Lachen ist gesund (Horst Ganz)
    Hexentrank und Elfen-Bein – Märchen und Mythen (Jürgen Rogge)
    Literarische Vorstellung (Barbara Jordan)
    Öffentliche Lesung (Ursula Walter)
    Freie Lesung (Harald Rauchfuß)
    Gewalt (Dietrich Weller)
    Seminar über Haiku (Hans Brockmann)

    Leonberg 2011

    Ernste Heiterkeit (Jürgen Rogge)
    Kurz und treffend (Horst Ganz)
    Der Arzt als Patient (Hans Brockmann)
    Freie Lesung (Siegbert Kardach)
    Kindheitserlebnisse (Dietrich Weller)
    Genuss und Muße / Muse (Harald Rauchfuß)

    Schwerin 2010

    Nahe am Wasser (Jürgen Rogge)
    Der literarische Brief (I. Reichert / Horst Ganz)
    Wege (Dietrich Weller)
    Freie Lesung (Harald Rauchfuß)
    Farben und Formen (Reinhart Böhner)

    Mosbach 2009

    Heimat (Harald Rauchfuß)
    Essay – Seminar (Horst Ganz)
    Musik (Dietrich Weller)
    Verborgenes – was wir nicht erklären können (Barbara Kromphardt)
    Märchen (Jürgen Rogge)
    Zu guter Letzt – Heitere Beiträge (Barbara Jordan)

    Berlin – Schmöckwitz 2008

    Mit Schreib- und Zeichenfder (Jochen Fend)
    Herzlich willkommen (Barbara Kromphardt)
    Wasser, Feuer, Luft und Erde (Harald Rauchfuß)
    Tiere und Pflanzen – unsere Freunde (Hajo Behnen)
    Menschen, die man nicht vergisst (Horst-Joachim Rheindorf)
    Freie Lesung (Harald Rauchfuß)

    Bad Homburg 2007

    Herzlich willkommen (Barbara Jordan)
    Steine (Hajo Behnen)
    Lebensalter (Hans Spiecker)
    Himmel und Wolken (Reinhart Böhner)
    Humor und Mutterwitz (Horst- Joachim Rheindorf)
    Rund um den Wein (?)

    Berlin – Woltersdorf 2006

    Herzlich willkommen (Barbara Jordan)
    Woher wir kommen – wohin wir gehen (Harald Rauchfuß)
    Lebensfreude und Alltagssorgen (Hans Brockmann)
    Unglaublich und absurd (Günter Struck)
    Öffentliche Lesung (Horst-Joachim Rheindorf)
    Frühling (Moderator?)

    Bad Schandau 2005

    Kurzgeschichten – Arbeitskreis (Heinrich Schmidt-Matthiesen)
    Herzlich willkommen (Horst-Joachim Rheindorf)
    Mensch und Tier (Hans Spiecker)
    Einfach sati(e)risch (Christian-W. Schmidt)
    Frühlingserwachen (Heinrich Schmidt-Matthiesen)
    Reiselust und Reiseträume (Harald Rauchfuß)

    Bad Harzburg 2004

    Kurzgeschichten – Arbeitskreis (Reinhart Böhner)
    Herzlich willkommen (Heinrich Schmidt-Matthiesen)
    Heimweh und Fernweh (Hans Speicker)
    Auf den Flügeln der Phantasie (Petra Ewers)
    Lustiges und Skurriles (Günter Struck)

    Bad Mergentheim 2003

    Herzlich willkommen (Harald Rheindorf)
    Was ich schon immer mal sagen wollte (Günter Struck)
    Träume (Heinrich Schmidt-Matthiesen)
    Reden und Schweigen (Petra Ewers)
    Mensch in der modernen Zeit (Harald Rauchfuß)

    Bad Harzburg 2002

    Herzlich willkommen (Horst-Joachim Rheindorf)
    Begegnungen – Zufall und Schicksal (Heinrich Schmidt-Matthiesen)
    Lebensreisebilder (Petra Ewers)
    Jugend und Alter (Harald Rauchfuß)

    Sundern 2001

    Herzlich willkommen (Horst-Joachim Rheindorf)
    Lyrik: Das Leben ist wie ein Hauch (Petra Ewers)
    Moderne Medizin (Hans Spiecker / Heinrich Schmidt-Matthiesen)

    Erfurt 2000

    Herzlich willkommen (?)
    Was soll´n wir auf den Abend tun? Ernstes und Heiteres (Hans Spiecker)
    Es lebe die Freude (Ulrike Zuber)
    Wandlungen (Moderator?)

    Einbeck 1999

    Herzlich willkommen (Alfred Rottler)
    Lebensdornen (Petra Ewers)
    Natur- Begegnung (Rolf Lachner)
    Freie Lesung (Horst-Joachim Rheindorf)

    Annaberg-Buchholz 1998

    Mit Humor und Mutterwitz (Alfred Rottler)
    Öffentliche Lesung (Hans Spiecker)
    Öffentliche Lesung (Theodor Nasemann)
    Öffentliche Lesung (Rolf Lachner)
    Kunst, Poesie und andere Träume (Petra Ewers)
    ? (Wolfgang Weimershaus)

    Bielefeld 1997

    Herzlich willkommen (Alfred Rottler)
    Schlüsselerlebnisse (Theodor Nasemann)
    Begegnung mit Tieren (Rolf Lachner)
    Das Lied der Liebe (Petra Ewers)

    Bad Harzburg 1996

    Herzlich willkommen (Alfred Rottler)
    Kriminalität, Vandalismus, Terrorismus (Wolfgang Weimershaus)
    100 Jahre Olympische Spiele – ein friedlicher Wettstreit (Hans Spiecker)
    Naturpoesie ohne Ende (Rolf Lachner)

    Bad Harzburg 1995

    Herzlich willkommen (Alfred Rottler)
    Im Flechtwerk der Verse (Dietrich Reimers)
    Da hätt´ ich noch was (Horst-Joachim Rheindorf)
    Wälder im Wandel der Zeit (Rolf Lachner)
    5 Jahre Einheit – Eine unerwartete Medizin (Hans Spiecker)

    Lauf an der Pegnitz 1994

    Die Mundart – ein Farbtupfer auf der literarischen Palette (Gerhard Vescovi)
    Alles in uns lebt – Kurzprosa über Begegnungen mit Menschen, Tieren, Blumen (Andreas Schuhmann)
    Arzt und Patient (Wolfgang Weimershaus)

    Fulda (gemeinsam mit UMEM) 1993

    Fröhliche Einstimmung (Alfred Rottler)
    Europa 2000 (Bernhard Schmitt)
    Freie Prosa (Wolfgang Weimershaus)
    Die Idylle – ein Thema der Literatur? (Rolf Lachner)
    Lyrik – Impressionen (DietrichReimers)
    Die Schöpfung verpflichtet (Gerhard Vescovi)
    Menschenwürde und Medienspektakel (Müschner)

    Bad Nauheim 1992

    Lyrik (Dietrich Reimers)
    Poeten sollten von der Liebe singen (Alfred Rottler)

    Öhringen 1991

    Heitere Lesung (Alfred Rottler)
    Prosa (Franz Schmitt)
    Lyrik (Deitrich Reimers)

    Rotenburg – Fulda 1990

    Heitere Lyrik und Prosa (Alfred Rottler)
    Freie Lesung – Prosa (Gerhard (Vescovi)
    Freie Lesung Lyrik (Dietrich Reimers)
    Aus heiterem Herzen (Wolfgang Weimershaus)
    Troubadour im 20 Jahrhundert (?)

    Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen 1989

    Aus heiterem Herzen (Alfred Rottler)
    Aus dem Alltag eines Arztes – Prosa (Gerhard Vescovi)
    Von Traum und Wirklichkeit – Lyrik (Dietrich Reimers)
    Bayerischer Abend (Andreas Schuhmann)
    Dem Wohlklang der Sprache verpflichtet (Wolfgang Weimershaus)

    Bad Nauheim 1988

    Freie Lesung – Kurzprosa (Gerhard Vescovi)
    Neonwelt und Lockruf der Mythen (Dietrich Reimers)
    „Aus deutschen Landen“ – Dialektlyrik und Mundartprosa (Alfred Rottler)
    Sprache und Musik (Wolfgang Weimerhausen)

    Marbach am Neckar 1987

    Arzt und res publica (Wolfgang Weimershaus)
    Freie Lesung (Ferhard Vescovi)
    In Arcadien geboren? Lyrik (Dietrich Reimers)
    Den Puls des Lebens fühlen – öffentliche Lesung (Wilhelm Theopold)

    Hamburg 1986

    Freie Lesung – Pegasus ahoi! (Otto Bolte)
    Freude und Mühsal des Lebens – Prosa (GErhard Vescovi)
    Freie Lesung (Wilhelm Theopold?)
    Und ewig bleibt die See – Menschen in Wind und Flaute (Hellmut Jebens)
    Vom Zauber der Sprache (Wolfgang Weimershaus)
    Mit lachendem Munde (Alfred Rottler)

    Spitzingsee – Schliersee 1985

    Freie Lesung (Gerhard Vescovi)
    Gezeiten des Lebens (Prosa und Lyrik) (Dietrich Reimers)
    Arzt und Seelsorge (Michael Soeder)
    Von der heilenden Kraft des Wortes – öffentliche Lesung (Franz Schmid)
    Bei uns daheim – Dialektlyrik und -prosa (Andreas Schuhmann)
    In zeitloser Sprache (Wolfgang Weimershaus)
    Heiterer Ausklang (Alfred Rottler)
    Festvortrag Georg Büchner – Arzt und Dichter (Reimers)

    Bad Nauheim 1984

    Lebensfreude – Lyrik (?)
    Aus Kindheit und Jugend (?)
    Aus fremden Ländern – Reiseeindrücke (?)
    In der Sprache des Herzens  – Lyrik (Wolfgang Weimershaus)
    er Arzt als Freund des Kranken (Lesung vor jungen Menschen der St. Lioba-Schule (Gerhard Vescovi)
    Der Essay (?)
    Moderne Makrobiotik oder die Kunst der gesunden Lebensweise (Gerhard Vescovi)

    Bad Mergentheim 1983

    Vielfalt des Lebens  – Lyrik (Dietrich Reimers)
    Die Begegnung zwischen Arzt und Kranken – Lesung vor Schülern) (Michael Soeder)
    Über den Aphorismus (Ernst Rossmüller)
    Literatur als Hilfe für kranke Menschen – Vortrag von Volrad Deneke (GErhard Vescovi)
    Fröhliche Lieder – Lyrik (Alfred Rottler)
    Besinnliches zur Lebensweisheit -öffentliche Lesung (Hellmut Jebens)
    Heitere Verse und ein wenig Spott (GErhard Vescovi)

    Aschaffenburg 1982

    Heiteres (Gerhard Jörgensen)
    Die Begegnung zwischen Arzt und Kranken  (Lesung vor Schülern mit Diskussion) (Michael Soeder)
    Öffentliche Lesung – Generationsprobleme (Franz Schmid)
    Heitere Muse – „Der fröhliche Reimberg“ (Alfred Rottler)
    Freie Lesung (Vescovi)

    Fredeburg 1981

    Lesungen unbekannt. Wer kann ergänzen??

    Fredeburg 1980

    Mensch und Droge (?)
    Freie Lesung (?)
    Werkstattgespräch: Kurzgeschichte, Tradition und Technik (H. Herrin)
    Freie Lesung (Gerhard Jörgensen)
    Freie Lesung (!)

    Bad Mergentheim 1978

    Werkstattgespräch: Ironie und Satire in der Dichtung (Wilhelm Theopold und Franz Schmid)
    Lesung vor Schülern – Thema? (Franz Schmid)
    Freie Lesung (?)
    Spötter in Weiß (Heinz Wunderlich)
    Pegasus geht wieder baden (Wolfgang Poppenberg)
    ? (Alfred Rottler
    ? (Hellmut Jebens)

    Hamburg 1977

    Table ronde de poésie (Hellmut Jebens)
    Prosa (Gerhard Vescovi)
    Lyrik und Prosa (Alfred Rottler)
    Hab´ mein´Bus mit Genuss voll geladen (?)
    Freie Lesung (Arthur Boskamp)

    Bad Mergentheim 1976

    Ärztelyrik heute  – öffentliche Lesung (Armin Jüngling)
    Freie Lesung (Gerhard Jörgensen)

    Nürnberg 1975

    Öffentliche Lesung (Gerhard Jörgensen)

    Göttingen 1974 

    Zwischen Angst und Geborgenheit – der Mensch – öffentliche Lesung (Otto Molz)
    Der fröhliche Hainberg (Adolf Grieser und Gerhard Jörgensen)
    Spötter in Weiß (Heinz Schauwecker)

    Hamburg 1973

    ? – nichts mehr bekannt – wer kann ergänzen?

    Jagsthausen 1970

    Freie Lesungen (Gerhard Vescovi – Heinz Schauwecker – Gerhard Jörgensen)

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Brustkrebs. Das Wort hängt schon monatelang wie eine giftgelbe Wolke im Haus und dringt in jeden Gedanken ein. Nach gelungener Operation und Chemotherapie war die Bedrohung zwar etwas verdrängt und hat einem leisen Wind der Hoffnung Platz gemacht. Aber die Angst durchfließt jetzt in der Kliniksprechstunde trotzdem wieder alle Poren von Judiths blassgelber Haut und ist wie dicke Luft im Raum zu spüren, während Judith und Arno auf den Befund der neuesten Untersuchung warten.

    Der Professor verdirbt die Stimmung von Judith und Arno mit wenigen Worten: „Leider haben wir mehrere Metastasen in der Leber gefunden. Das ist der Grund für Ihre Gelbsucht. Die Kernspinbilder zeigen, dass wir auch nicht mehr operieren können!“

    Tränen rinnen über Judiths Gesicht, Arno putzt sich verlegen die Nase, wischt wie zufällig über die Augen und streichelt unbeholfen die Schulter seiner Frau. Dann macht er rasch einen Vorschlag: „Da gibt es aber doch Lebertransplantationen. Damit ist meine Frau sicher zu retten! – Sie schaffen das, Herr Professor!“

    Der Professor wiegt langsam seinen Kopf: „Einige Metastasen haben sich auch in der Lunge angesiedelt. Das schließt eine Transplantation aus.“ Er macht eine kurze Pause und lässt den Satz wirken. Dann ergänzt er: „Ich schlage vor, Sie verdauen den Schreck erst einmal. Ich werde den Fall heute Nachmittag in unserer Tumorkonferenz vorstellen. Dann treffen wir uns übermorgen zu einem Gespräch über die Behandlung, die wir Ihnen empfehlen.“

    Die Verabschiedung ist kurz und wortkarg. Rasch verlassen sie den Raum wie auf einer Flucht. Auf dem Flur sinkt Judith in einen Stuhl. Arno setzt sich daneben. Schweigend verharren sie wie gefangen in einem tiefen Loch der Verzweiflung.

    Da sagt Judith fast tonlos: „Ich glaube, wir müssen uns aufs Schlimmste einstellen. Lass uns überlegen, was wir in der Zeit noch tun können, die mir verbleibt!“

    Arno braust auf und beherrscht seine Stimme nur mühsam: „Das kommt überhaupt nicht infrage! Du wirst wieder gesund! Ich weiß das! Ich will dein Gerede vom Sterben nicht mehr hören! Wir werden weiter kämpfen! Du hast doch gehört, dass der Professor dir übermorgen eine Therapie anbietet!“

    Judith schweigt bedrückt und sinkt weiter in sich zusammen. Sie spürt, dass sie Arno ihre Empfindungen und Bedürfnisse nicht vermitteln kann. Dabei braucht sie ihre Kraft, um mit sich und ihren Ängsten zurechtzukommen.

    Arno hat sich nach seinem Ausbruch rasch wieder im Griff und nimmt Judith liebevoll an der Hand: „Es tut mir leid, dass ich so heftig geworden bin. Komm, lass uns nach Hause gehen! Du musst daran glauben, dass du gesund wirst!“

    Judith spricht auf dem Nachhauseweg und beim Abendessen nur wenig. Beide sind in sich abgekapselt, und die unsichtbare Wand scheint zwischen ihnen gedankendicht zu sein. Nach dem Essen sitzen sie wortlos vor dem Fernseher vor einer Politdiskussion, aber beide können nicht zuhören. Nach einer Weile steht Judith auf: „Ich gehe ins Bett, ich bin müde!“

    „Gute Nacht, Judith, schlaf gut!“

    Arno gießt sich noch ein Bier ein.

    In den nächsten Tagen bleibt die Unterhaltung zwischen Judith und Arno oberflächlich, ja auffallend belanglos. Jeden Versuch, über die schlechten Aussichten oder über mögliche Verhaltensweisen, Therapieangebote oder andere Konsequenzen zu sprechen, biegt Arno glatt ab mit dem Versprechen: „Du wirst sehen: Alles wird gut! Dann können wir planen, was wir machen, wenn du gesund bist.“

    „Wenn du meinst!“, sagt Judith und dreht sich um, damit Arno nicht sieht, wie sie mit den Tränen kämpft. Auch die Chemotherapie, die der Professor „als Therapieversuch“ vorschlägt, begrüßt Arno mit Begeisterung und demonstrativer Hoffnung, während Judith zögert mit ihrer Antwort. Arno entscheidet für sie: „Ja, natürlich will meine Frau die Chemotherapie!“

    Judith gibt sich geschlagen, sie ist still und nickt nur. Sie schaut den Professor an. Er versteht sie wortlos und nickt ebenfalls.

    In den nächsten Tagen kommentiert Arno jede einzelne Nebenwirkung der Therapie: „Du siehst, es wirkt! Du wirst gesund! Es wird dir besser gehen nach der Therapie!“

    Arno spielt Tennis mit seinem Freund und freut sich über die Ablenkung. Judith verbringt die Stunden überwiegend zuhause im Bett oder auf dem Sofa. Sie nimmt weiter ab, ist zum Umfallen schwach und völlig appetitlos. Sie versucht, den Haushalt so weit wie irgend möglich aufrecht zu erhalten und macht häufige und immer längere Pausen.

    Arno bleibt trotzdem bei seinem Optimismus und wiederholt bei jeder Gelegenheit: „Du wirst gesund! Ich verspreche es dir! – Lass uns über den Urlaub reden, den wir bald machen! Da kannst du dich von der Therapie erholen. Schau hier, ich habe neue Prospekte mitgebracht!“

    Lustlos blättert Judith in den Heften, legt sie weg, schließt erschöpft die Augen und nickt ein. Arno geht in die Küche und räumt das Geschirr in die Spülmaschine.

    Am Abend nimmt Judith im Bett noch einmal ihren ganzen Mut und alle Kraft zusammen. Sie greift liebevoll nach Arnos Hand: „Arno, wir müssen miteinander reden! Bitte hör mir zu! Ich kann nicht mehr! Ich werde nicht mehr gesund. Ich weiß es! Wir dürfen nicht länger den Kopf in den Sand stecken!“

    Arno wird sofort wütend: „Ich will das nicht mehr hören! Ich brauche dich! Ich liebe dich! Du musst gesund werden! Und jetzt hör auf mit deiner Schwarzseherei! Schlaf gut!“

    Er dreht Judith den Rücken zu und zieht sich die Decke über den Kopf. Judith hört an seinem Atem, dass er ihr vorspielt zu schlafen. Sie liegen lange wach, und das Schweigen baut eine undurchdringliche Mauer ins Bett zwischen sie.

    In den Tagen danach beobachtet Arno mit Sorge, wie Judith immer langsamer wird und nur noch mit seiner Hilfe stehen und wenige Schritte gehen kann. Jedes Wort macht ihr Mühe, und der Juckreiz quält sie sehr.

    Eines Nachmittags liegt Judith auf dem Sofa im Wohnzimmer und schläft. Arno sitzt daneben und schaut ein Tennisturnier im Fernsehen an. Da bemerkt er plötzlich, dass Judiths Atem aufgehört hat. Er schüttelt sie am Arm. Keine Reaktion. Judiths Arm fällt leblos neben ihren Körper. Da springt Arno auf und schreit: „Das kannst du mir nicht antun! Judith, komm zurück!“

    Seine ganze Panik bricht aus ihm heraus, er weint, schluchzt, versucht, Judith wachzurütteln, er wählt 112, brüllt ins Telefon: „Schnell, meine Frau atmet nicht mehr!“

    Aber der Notarzt kann nur bestätigen, was Arno längst weiß und nicht wahrhaben will.

    Als Arno in den Tagen nach der Beerdigung das Schlafzimmer aufräumt, findet er in Judiths Nachttischschublade obenauf einen Brief Für meinen geliebten Arno. Er setzt sich in den Sessel vor Judiths Bett und liest:

     

    Mein Liebster,

    ich kann Deinen Wunsch nicht erfüllen, wieder gesund zu werden, so sehr ich mich danach gesehnt habe. Seit der Diagnose mit den Metastasen in Leber und Lunge weiß ich, dass ich sterben werde. Es tut mir bitter weh, Dich verlassen zu müssen. Ich weiß, Du hast Dir und mir meine Heilung einzureden versucht, um mich zu schonen.

    Aber, Du geliebter Mann, wir sind beide schlechte Schauspieler. Du hast Dir so viel Mühe gegeben, mich aufzumuntern. Und ich wollte heiter und gelassen sein. Stattdessen habe ich resigniert und dadurch mein Schicksal immer mehr angenommen und mich zurückgezogen.

    Ich sehe und spüre Dein Leiden und Deine Verzweiflung, ja, auch Deine Hilflosigkeit. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, und ich hatte keine Kraft mehr, Dich aus Deinem Traum von meiner Genesung zu reißen und Dich mit den Fakten und Konsequenzen zu konfrontieren. Du willst Dich nicht mit meinem Sterben, unserer Trennung und Deiner drohenden Einsamkeit im Gespräch auseinander setzen.

    Nach so vielen herrlichen Jahren mit Dir voll Liebe, Ehrlichkeit und Vertrauen hätte ich unsere Ehe gern gekrönt mit gemeinsamer Arbeit an unserer Angst und Trauer in dieser schwersten Krankheitsphase. Ich habe gehofft, mit Offenheit und Annahme unseres Schicksals meine letzten Lebenswochen -die letzten Wochen unserer Liebe!- zu durchleben. Aber das war uns nicht vergönnt. Wir haben es beide nicht geschafft.

    Hoffentlich kommst Du über meinen Tod hinweg und kannst mit unserer Lebenslüge weiterleben. Bitte nimm professionelle Hilfe an, damit Du die Trauerarbeit gut bewältigen kannst. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen ein glückliches und erfülltes Leben.

    Ich habe keine Kraft mehr und sehne mich jetzt danach, endlich und ewig auszuruhen.

    Ich bin voll Dankbarkeit für Deine Liebe und mein Leben mit Dir.

    Ich werde sterben und immer bei Dir bleiben.

     

    In Liebe,

    Deine Judith.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

     

  • Am Abend in der Notfallpraxis.

    „Können Sie noch eine Patientin anschauen, die der Chirurg nebenan schon gesehen hat? Er bittet Sie darum.“

    Die Arzthelferin schiebt eine ältere Dame herein, die gepflegt gekleidet und mit nacktem linkem Fuß im Rollstuhl sitzt. Sie lächelt mich zur Begrüßung freundlich an und beginnt nach der Begrüßung, ohne Aufforderung zu erzählen. Ich höre den italienischen Akzent und sehe die lebhafte Mimik und die leuchtenden Augen.

    „Wissen Sie, ich war noch vor ein paar Tagen in Venezia, da war herrliches Wetter, und die Pasta hat so delikat geschmeckt auf der Piazza San Marco! Und dann habe ich eine Freundin besucht in Mazedonia. Die ganze lange Strecke bin ich gefahren, obwohl ich habe diesen Bauchspeicheldrüsenkrebs und eine große Operation hinter mir. Jetzt sind trotzdem in der Leber Metastasen. Ich weiß, dass ich nicht mehr so lange lebe, aber ich freue mich über jeden Tag! Es ist wunderbar, so viele Freunde zu haben. Ich bin so dankbar!“

    „Und warum sind Sie jetzt hier? Ich sehe, dass Ihre Zehe entzündet ist, aber das hat der Chirurg schon gesehen.“

    Ja“, sagt sie, „aber manchmal bekomme ich so schlecht Luft. Deshalb möchte er, dass Sie mich untersuchen! Im Moment kann ich gut atmen.“

    Neben meinem Schreibtisch sitzt die Begleitperson der Dame, eine schlanke junge Frau mit kurz geschnittenen dunklen Haaren und hellwachen Augen. Mir fällt ihre altrosa Kostümjacke auf.

    Ich frage: „Und wer sind Sie? Die Tochter?“

    „Nein, ich bin die Arzthelferin des Hausarztes von Frau Sorriso. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und wohnen nahe beieinander. Deshalb habe ich sie begleitet.“

    Ungewöhnlich, denke ich, aber das ist ein sehr freundlicher Hilfsdienst.

    Ich untersuche den Fuß, sehe die Entzündung eines Hühnerauges und bitte die Arzthelferin,  einen Salbenverband anzulegen. Dann höre ich die Lunge von Frau Sorriso ab, stelle einen normalen Befund fest und bitte die Arzthelferin, eine Blutuntersuchung zu machen. Ich will wissen, ob ich ein Antibiotikum verordnen soll.

    Ich möchte die Unterredung trotz der draußen wartenden Patienten weiterführen. Das ist ein ungewöhnlicher Moment mit einer besonderen Patientin.

    „Es beeindruckt mich sehr, dass Sie so gut gestimmt sind und angesichts der schwerwiegenden Diagnose eine so lebensbejahende Ausstrahlung haben. Was hilft Ihnen dazu?“

    Sie lächelt mich an: „Wissen Sie, ich genieße mein Leben, weil ich geliebt werde und viele Menschen mir helfen. Ich lebe allein, aber ich bin nicht einsam. Meine Krankheit kann ich so gut tragen. Und ich weiß, dass ich nicht mehr lange Zeit habe. Ich bin dankbar für jede Stunde und jede gute Begegnung. Ich weiß, dass ich allein mir gute oder schlechte Stimmung machen kann. Und da ist es besser, mit Freude zu leben.“

    Sie macht eine kurze Pause, dann fragt sie: „Haben Sie einen Vorschlag, was ich noch tun kann?“

    Ich überlege: „Möchten Sie ein Buch über den guten Umgang mit schweren Krankheiten lesen oder ist das eher nicht so gut für Sie?“

    „Oh, wenn Sie eines empfehlen, lese ich es gern!“

    Ich gebe ihr meine Visitenkarte mit der Adresse meiner Homepage, wo meine Bücher verzeichnet sind und schlage eines meiner Bücher vor, das ich vor einigen Jahren speziell für Patienten wie Frau Sorriso geschrieben habe. Dann nimmt die Arzthelferin Blut ab, und ich bitte die beiden Damen, im Wartebereich auf das Ergebnis zu warten.

    Während ich die nächsten Patienten behandele, kommt mir nach ein paar Minuten auf dem Flur die Begleiterin entgegen und streckt mir einen Becher mit Cappuccino entgegen: „Das ist für Sie ein freundlicher Gruß von Frau Sorriso! Wir freuen uns, dass wir Ihnen begegnet sind!“

    Ich bedanke mich überrascht, gehe in mein Sprechzimmer zurück und schließe für einen Moment die Tür. Auf dem Stuhl trinke langsam den Becher leer und mache mir bewusst, dass ich noch nie von einem Patienten in der Praxis oder in der Klinik einen Kaffee bekommen habe. Und diese Frau dort draußen mit ihrem unheilbaren Krebs, die mich überhaupt nicht kennt, denkt an mich und lässt einen Kaffee für mich bringen! Welch eine ungewöhnliche Situation. Ich bin sehr dankbar.

    Nachdem das Blutbild fertig ist, hole ich die Patientin und ihre Begleiterin wieder herein: „Das Blutbild zeigt jetzt keine Entzündungszeichen. Wie waren die letzten Blutwerte?“, frage ich die Begleiterin. Sie ist genau informiert. Ich verschreibe kein Antibiotikum.

    Für Frau Sorriso ist aber etwas ganz anderes wichtig. Sie sagt feierlich und mit einem strahlenden Gesicht: „Wir haben draußen überlegt, dass ich Sie zu meiner Trauerfeier einlade! Ich weiß schon genau, wo sie stattfindet – bei einem sehr guten Italiener in der Innenstadt. Das wird ein großes Fest! Die Liste der Gäste ist schon fertig! Alle meine Kollegen werden eingeladen! Herr Doktor, Sie werden auch eine schriftliche Einladung erhalten, wenn es soweit ist! Es dauert nicht mehr lang! Und Sie müssen mit Ihrer Frau kommen, das müssen Sie versprechen! Ich werde von oben zuschauen und auf Sie warten! – Danke, dass Sie mich hier versorgt haben. Das war eine gute Begegnung für mich!“

    „Ja, für mich auch! Geht es Ihnen auch so wie mir? Ich treffe immer die richtigen Menschen, die richtigen Bücher und die richtige Musik im richtigen Moment.“

    Sie lacht: „Das stimmt genau. Vielleicht sind wir uns deshalb jetzt begegnet! Alles Gute für Sie! Bis bald!“

    Sie drückt meine Hand fest mit ihren beiden Händen, schaut mich lächelnd an und lässt sich winkend hinaus schieben.

    Ich bleibe sehr nachdenklich zurück.

     

    PS:

    Der Name Sorriso ist natürlich nicht der wirkliche Name der Patientin. Ich habe ihn gewählt, weil er im Italienischen Das Lächeln bedeutet.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Der Text wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2014 zum Thema „Zauberei und Realität“ vorgetragen.