Autor: Heiner Wenk Prof. Dr. med.

  • Die Würde des Menschen ist unantastbar

    Unser Grundgesetz ist gut. Es ist vorbildlich. Was der Parlamentarische Rat der noch nicht konstituierten Bundesrepublik erarbeitet hat, war neu, so kannte man die Wertschätzung des Individuums, der Freiheit, des Rechts eigentlich bisher nicht.

    Der Artikel 1

    „Die Würde des Menschen ist unantastbar“

    wird gerade landauf, landab, im Weserkurier und in den Kieler Nachrichten, seitenlang gefeiert.’Man meint zu erkennen, was die Herrschaften damals sagen wollten.

    Es ist aber auch eine sehr diplomatische Formulierung.
    Man kann das auch ganz anders verstehen.

    Die Würde des Menschen ist nämlich durchaus antastbar.

    Die Weisheit „Kleider machen Leute“ deutet schon darauf hin.

    Mit guter Kleidung strahlt man Würde aus. Mit schlechter eben nicht.

    Der Chefarzt im Eppendorfkittel mit Goldknöpfen, der Oberarzt mit (nur) Silberknöpfen, der Assistenzarzt im Kasack,

    der Viersternegeneral und der Hauptfeldwebel, alle mit ihren hirarchiegerechten Sternchen und Rauten und Fähnchen und Anstecknadeln.

    Der Häftling im Streifenanzug.

    Bei der Einlieferung ins Konzentrationslager wurden den Insassen die Köpfe kahlgeschoren. Was hat das mit ihrer Würde gemacht?

    Das wussten die Herren im Parlamentarischen Rat genau. Die hatten diese Zeit alle miterlebt.

    Und doch haben sie diesen Satz formuliert.

    Die Würde des Menschen ist unantastbar.

    Wir wollen den Satz so stehen lassen. Es gibt ihn seit 70 Jahren. Jeder weiß, wie er gemeint ist.

    Aber wir wollen daran denken, wie leicht die Würde des Menschen antastbar ist: Durch Prügelstrafe, Missachtung, Missbrauch, Mobbing.

    Und wir wollen diesen Satz nie, und nie wieder, als Entschuldigung gelten lassen.

    Heiner Wenk, Mai 2019

  • ZUM MUTTERTAG:

    Danke, Aldi, dass Du nicht Edeka bist

     

    Es ist Mai 2019. Rechtzeitig zum Muttertag hat „Edeka“ ein Video präsentiert, das die Väter als Erzieher in ein ganz mieses Licht rückt und in dem Satz endet: „Danke Mama, dass Du nicht Papa bist“.

    Es ist ein Muttertagsvideo auf Kosten der Väter.

    Dieses Video hat einen „Shitstorm“ ausgelöst und wurde tags darauf vom Spiegel und vom Weser Kurier vorgelegt.

    Der Kommentar im Spiegel war kritisch und hat mir gut gefallen.

    Der Spiegel hatte thematisiert, dass auch unsere Gesellschaft dafür sorgt, dass viele Väter  arbeiten gehen (müssen) und bei der Kinderbetreuung eine untergeordnete Rolle spielen:

    Weil tradierte Familienstrukturen noch immer vorrangig sind in Deutschland. In der Regel ist der Vater der, der das Geld verdient und morgens aus dem Haus geht.

    Das war bei uns auch immer so. Seit 35 Jahren bin ich Alleinverdiener für unsere Familie, und natürlich habe ich in der Erziehung unserer Kinder eine nachrangige Rolle gespielt. Dass mich Edeka dafür nun verarscht hat, fand ich sehr ungerecht.

    Spontan viel mir die Replique ein:

    Ich postete auf Facebook: „Danke Aldi, dass Du nicht Edeka bist“.

    Das ist offensichtlich ganz gut angekommen, umgehend fand ich diesen Satz in verschiedenen deutschen Medien, zum Beispiel auch im Rheinischen Merkur.

    Im Weserkurier wurde der Satz vom Chef des Kulturressorts, Hendrik Werner, kommentiert.

    Mein Satz wurde als „dümmere Protestnote“ apostrophiert, die als Boykottdrohung gegen Edeka gerichtet sei.

    Diese Einschätzung hat mich nun nicht so sehr getroffen wie das Edeka-Video, aber ich möchte sie kommentieren:
    Ich empfinde den Satz weder als dumm, noch als dümmer, noch als Boykottaufruf.

    Es ist eine „Danke“ an Aldi, dass man dort auf derlei sexistische Werbevideos verzichtet.

    Der Boykottgedanke des Journalisten darf aber weitergesponnen werden: Edeka ist ein Akronym, das aus der „Einkaufsgemeinschaft der Kolonialwarenhändler“ entstanden ist. Herr Werner: Kolonialwaren, das sind Produkte aus Kolonien.

    Im Namen Edeka steckt die koloniale Tradition, von der sich Bremen mit großer Eindeutigkeit distanziert. Bremen hat sogar ein Anti-Kolonial-Denkmal.

    Gehen Sie aber gerne weiter dort einkaufen.

    Edeka sagt: „Wir lieben Lebensmittel“. Ein Bremer Wahlkampfspruch sagt: „Wir lieben Bremen.“

    Da hat doch jemand abgeschrieben.

    Willy Brandt sagte einmal: „Es wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Das wäre in diesem Fall richtig dumm.

    Heiner Wenk, Muttertag 2019

  • zum Weltkrebstag 2019

    Theodor Storm und der Magenkrebs

     

    Theodor Storm war –wie viele von uns – bekennender Norddeutscher:

    „hin gen Norden zieht die Möwe,
    hin gen Norden zieht mein Herz;
    fliegen beide aus mitsammen,
    fliegen beide heimatwärts.

    Ruhig, Herz! Du bist zur Stelle;
    flogst gar rasch die weite Bahn-
    und die Möwe schwebt noch rudernd
    überm weiten Ozean.“

    1817 wurde Theodor Storm in Husum geboren. Also in die Zeit der Aufklärung, Goethe war da schon 20 Jahre alt.

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  • Stilles Wasser – Blanker Hans

    Schon am Tag nach Neujahr wurde das Sturmtief Zeetje aktiv. Das wurde auch rechtzeitig vorhergesagt.
    Das ist auch nichts Neues, Unerwartetes. Das Neujahrssturmtief aus dem letzten Jahr hieß Burglind. Haben wir aber schon vergessen. Wir vergessen schnell.

    Dieses Jahr kam Zeetje:
    Der Norddeutsche Rundfunk berichtete:

    „Die Ostseeküste hat am Mittwoch ihre erste Sturmflut des Jahres mit überschwemmten Stränden und Straßen erlebt. Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) hatte eine Sturmflutwarnung verbreitet, die bis zu 1,70 Meter höhere Wasserstände als normal erwartete. In der Nacht zum Donnerstag hob das BSH die Warnung kurz vor Mitternacht auf. Mittlerweile haben sich die Pegelstände weitgehend normalisiert.“

    Wir haben den Sturm genossen, einen Spaziergang an der Weser gemacht, unser Hund hat seine Segelohren aufgestellt, und wir haben uns die frische Brise um die Nase wehen lassen.
    Die Weser war ordentlich aufgewühlt.
    Die Nordsee wohl auch: (mehr …)

  •  

    Dieser Artikel  wurde in dem GeNoMagazin für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Klinikverbunds Gesundheit Nord, Ausgabe 20, im Juni 2018 veröffentlicht. Wir danken für die Abdruckgenehmigung. Autorin des Artikels ist Melanie Walter.

    Da der Artikel auf zwei DIN A4-Seiten erschien ist, die in diesem Format hier nicht lesbar sind, haben wir die Einzelteile separat abgedruckt.

     

    Der Gefäßchirurg ist seit 1996 Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Gefäß- und Viszeralchirurgie im Klinikum Bremen-Nord. Seit Mai 2018 ist er zudem Vorsitzender der Bremer  Krebsgesellschaft. Während des Studiums in Kiel hat sich der 61-Jährige in den Norden Deutschlands verliebt. Nach vielen Jahren Ruder-Pause hat er wieder mit dem Rudern angefangen.
    Heiner Wenk ist aktives Mitglied in zwei Rudervereinen. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern. In seiner Freizeit spielt er auch Gitarre.

     

     

    „Beim Schreiben kann ich gut Gedanken ordnen“

    Gefäßchirurg Heiner Wenk ist Mitglied des Bundesverbandes Deutscher Schriftstellerärzte (BDSÄ). Sechs Tage vor der Zeitumstellung auf Sommerzeit ist Heiner Wenk guter Dinge. Der
    Frühling steht vor der Tür, Vogelgezwitscher und die wärmende Sonne lassen keine
    Zweifel an der neuen Jahreszeit. Kaum zu glauben, dass der Gefäßchirurgie-Chefarzt
    aus dem Klinikum Bremen-Nord dagegen ist, an der Uhr zu drehen.
    „Der Frühaufdreher oder: Gegen die Zeitumstellung“ lautet der Titel eines Textes,
    den der 61-Jährige veröffentlicht hat. Launig und leicht, dabei logisch gedacht,
    reiht er eigene Gedanken aneinander. Es geht um die Zeit. Zeit an sich und wie
    sich die Zeiten ändern. Und es geht ums Rudern und darum, dass auch das
    sich verändert mit der Zeit.
    Schreiben strukturiert das Denken, findet Heiner Wenk. Er gehört dem Bundesverband
    Deutscher Schriftstellerärzte (BDSÄ) an. Dort finden sich auch viele weitere, sehr
    unterschiedliche Texte vom Chefarzt der Gefäßchirurgie.
    Der Wassersport ist seine große Leidenschaft, dicht gefolgt von der Gefäßchirurgie.
    Wenn er nicht mit den Vereinskollegen von Bremen 1882 auf der Weser rudert, lebt
    Heiner Wenk seine sportliche Passion am liebsten auf der Hamme aus, die er als
    schönsten Fluss der Welt bezeichnet.
    „Unglaublich toll ist die Regatta Anfang März durch Amsterdam. Es ist kalt. Es ist eine
    lange Tour. Und jedes Mal frage ich mich in meinem Achter ‚Warum mache ich das?‘
    Aber die Stadt ist so schön und das in dieser Jahreszeit.“ Auch bei der drittgrößten
    Regatta der Welt auf der Außenalster ruderte er im Vierer mit.
    Prof. Wenk ist dagegen, dass zweimal im Jahr die Uhr verstellt wird. „Man kann
    die Zeit umstellen“, schreibt er. Aber muss man das, nur weil der Mensch es kann?
    „Ein Wahnsinn. Eine Riesenspökenkiekerei.“ heißt es in „Der Frühaufdreher“.
    Der Autor möchte die Winterzeit abschaffen.
    „Beim Schreiben kann ich gut Gedanken ordnen“, antwortet Prof. Wenk auf die Frage,
    warum er schreibt. Er tut das schon sehr lange. Gerne frühmorgens, mit dem Blick auf
    die Wiesen vor’m Fenster, die Vögel im Ohr. Es gibt Bücher von Heiner Wenk, „die werden
    auch gelesen“. „Jette in Weimar“ heißt eines, darin geht es um den Familienhund,
    der sich im Urlaub in Thüringen sehr wohl fühlt.
    Während er davon erzählt, klingelt das Handy des Chefarztes. „Hast du ’ne
    Mannschaft zusammen?“, wird der Anrufer gefragt. Wenige Worte werden
    gewechselt und alles ist klar. Demnächst läuft der Gefäßchirurg beim Organspende-
    Lauf in Berlin mit. Strahlend freut er sich darüber, auch seine dritte Leidenschaft –
    das Laufen – mit der Gefäßchirurgie verbinden zu können. „Das mache ich nur,
    weil ich da sowieso auf einem Kongress bin.“

    www.bdsae.org

     

  • Berg und Tal

    oder: Meereshöhe

     

    Wenn man in etwa auf Meereshöhe lebt, wird jede kleine Erhebung bedeutsam. Wenn ich meinen Tiroler Freunden erzähle, daß unser wichtigster Berg der Weyerberg in Worpswede mit 54,4 Metern über dem Meeresspiegel ist, ernte ich ein mildes Lächeln. „Ihr seid’s scho arm dro“, heißt es im Angesicht des Wilden Kaisers.

    Auffällig viele Straßen enden in Meyenburg auf die Endung „Berg“. Schwanenberg, Brandberg, Fuchsberg, alles kleine Geesthügel. Hier ist die Kante zwischen Geest und Marsch.  Skilifte wären an diesen Bergen völlig überflüssig.

    Aber wo Berge sind, gibt es auch ein Tal.

    Das haben wir hier auch.

    Es heißt nicht Tal, sondern Grund.

    Sansibar oder der letzte Grund.

    Der Grund ist ein Dobben. Das ist eine feuchte Wiese.

    Da wohnt keiner. Aber das ganze Dorf hat sich drumrum entwickelt.

    Ursprünglich war Meyenburg ein Straßendorf, alle Bauernhäuser standen aufgereiht am Meyenburger Damm. Dann hat sich am einen Ende des Meyenburger Dammes nach draußen ein Arm entwickelt, darum heißt die Straße Butendoor.

    Und am anderen Ende liegt der Fuchsberg, und dazwischen liegen wir, am Geestrand.

    Beide Enden stehen über den Mühlendamm miteinander in Verbindung- klar: Mühlenberg, Mühlendamm, Mühlengrund. Der Mühlendamm hält den Mühlenteich auf Niveau, und der Niveauunterschied zwischen Damm und Grund hält das Mühlrad der Wassermühle in Betrieb.

    So hat sich das ganz gerade Straßendorf zu einem Rundling entwickelt. Das wird im Wendland als schönste Dorfform beschrieben und ist eigentlich slawischen Ursprungs.

    Bei uns ist der i-Punkt die grüne Wiese, der Dobben, als Nukleus, als Kern oder Herz dieses Dorfes. Zu allem Überfluss hat jemand eine Bienenzucht dort aufgebaut, die bunten Kästen sind markant und sagen Dir: Komm nicht zu nahe. Sonst wirst Du gestochen und von diesem Virus infiziert.

    Das ist Meereshöhe.

  • Überraschungs-Brunch in Aschwarden

     

    Dieses sehr, sehr gute Gefühl von Weite bekommt man in der Marsch.

    Im Juni, wenn die Wiesen tief grün sind und schon zum ersten Mal gemäht, wenn dieses Land, von Gräben durchzogen, mit einem hohen blauen Himmel in der Sonne im Wind liegt.

    Die Wesermarsch zwischen Meyenburg und Aschwarden ist besonders eben, platt und schön grün. Die Gräben bilden ein geometrisches Geflecht, das sich in den Aschwardener Flutgraben und das alte Aschwardener Siel drainiert.

    Über den Meyenburger Damm geht es auf einer kleinen befestigten Straße, die Treudel heißt, am Rittergut von von Wersebe vorbei nach Westen. Auf dem Viehsteig gelangt man nach fünf Kilometern durch ganz plattes Sietland in das Örtchen Bruch. Sietland ist der Teil der Marsch, in dem weniger Sediment zu finden ist, weil weiter weg vom Wasser. Es ist besonders tief gelegen und muss ständig entwässert werden.

    Und dann kommt schon Aschwarden.

    Hier waren wir schon mal, am Mühlentag. Aschwarden hat eine historische Mühle. Dort gab es am besagten Mühlentag, das war Pfingstmontag, schon gegen 11 Uhr Bratwurst und Bier, was wir sehr zünftig fanden.

    Heute hat das Mühlencafé wieder geöffnet.

    Kaffee, Kuchen, Kaltgetränke.

    Wir gucken mal.

    Drinnen ein Traum von Buffet: Schinken mit Melone, Roastbeef, Käse, Fisch.

    Man sieht uns unsere Verwunderung an.

    Einmal im Jahr werden die Mitarbeiter des Mühlencafés zum Frühstück eingeladen. Das war heute.

    Man freut sich sogar, dass wir uns gegen einen kleinen Obolus beteiligen möchten. Wie nett die Leute hier sind, wie entspannt.

    Wahrscheinlich haben die auch dieses sehr, sehr gute Gefühl von Weite.

    Wir sitzen in der Sonne und speisen, draußen, unter dem hohen Himmel.

    Nach dem opulenten Überraschungsmenue geht es auf dem Deich weiter nach Norden. Der Blick geht weit über das Land.

    Hauke Haien, der Schimmelreiter, hätte hier in der Wesermarsch seine Freude gehabt. Wir hätten ihn auch beim Boßeln gewinnen lassen.

    Zurück durch das Marschland an den Geestrand, mit dem Wind, der wohl mit genau 20 km/h aus Westen kommt. Der scheinbare Wind auf dem Rad ist Null. Das Rad fährt wie von selbst. Man möchte immer so weiterfahren.

    Und hier, ausgerechnet hier, sollen Windräder aufgestellt werden.

     

  • Im Düngel

     

    Früher, als Kind, musste ich samstags in die Badewanne. „Fichtennadel“ war der bevorzugte Badezusatz. Das sind Geruchswahrnehmungen, die sich ganz tief ins Langzeitgedächtnis eingraben.

    Ein zweites Nadelholz weckt bei mir noch angenehmere Assoziationen: Die Kiefer. Auch Föhre genannt, wie sympathisch: Sylt, Amrum, Föhr: Das passt.

    Der Duft der Kiefer, der Föhre erinnert mich an schönste Kindheitstage, wenn wir in den „großen Ferien“ unsere Großtante Trude in Barsinghausen am Deister besuchen durften: Durch den Kiefernwald laufen bis zum Schwimmbad der Sportschule des Niedersächsischen Fußballverbandes, baden, Staudämme bauen im Wald, Lagerfeuer machen und sich ewige Freundschaft beim Gotte Manitu schwören.

    Genau diesen Geruch habe ich im Düngel wiederentdeckt.

    Der Düngel: Ein Wald, ein Staatsforst zwischen Meyenburg, Lehnstedt und Garlstedt: Kennt man doch, oder?

    Da, wo in Meyenburg der Brandberg in den Bollmannberg übergeht, ist der Waldrand. Auf dem Seedorfer Weg geht es in den Kiefernwald, als erstes sieht man ein Erholungsheim der evangelischen Kirche, dann ein paar Ferienhäuser, und dann ist man alleine und mittendrin im Wald – so viele Pflanzen und Bäume, Gerüche, viel zu viele Mücken, und dann steht die Rute meines Hundes, und drei Meter vor uns flüchtet ein Reh, das mir in der Reizüberflutung komplett entgangen war, Jette aber nicht.

    Ich reihe mich ein in die große Zahl derer, die sich hier wohlfühlen, für die der Wald Rückzugs- und Regenerationsraum ist.

    Schon lange ist diese Gegend besiedelt.

    Hünengräber, hier Megalithengräber genannt, legen seit 5000 Jahren Zeugnis darüber ab. Eine andere Ruhestätte berührt mich besonders: Es ist eine Kriegsgräberstätte für serbische Soldaten, die hier im ersten Weltkrieg umgekommen sind. Das ist ein wohltuendes Pendant zu den Soldatengedenksteinen auf unseren Friedhöfen, die noch heute den Krieg verherrlichen, von einem „guten Kampf“ sprechen, den der Soldat gekämpft, bevor er „seinen Lauf“ vollendet hat.

    Und nun beende ich meinen Lauf mit dem Hund und steige aufs Rad. Über die Autobahn, die den Düngel durchquert, fahren wir zu den Heidhofer Teichen. Hier findet sich eine naturbelassene Moorlandschaft, unter den Bäumen dominieren Eichen und Birken.

    Wir tanken auf im Wald.

    Sauerstoff, Ruhe, Gerüche von Kiefern, Pilzen, Farnen und Blumen nehme ich mit nach Hause.

    Der Wald ist Schauplatz vieler Mythen. In der Literatur ist er mal idyllischer Schauplatz, mal Ort von Horrorszenarien. Das geht bis in die Kinderbücher hinein: Wegen Ronja Räubertochter mussten wir mehrfach Urlaub in Schweden machen. Weil nicht nur für mich, sondern auch für meine Kinder der Wald ein besonders schöner und geheimnisvoller Ort ist.

    Sooft es geht, bin ich mit Jette im Dügel. Irgendwann treffe ich sie, die Kobolde, Waldgeister oder die Wildruden von Astrid Lindgren. Jette spürt sie auf.

     

  • Panne bei Hinnebeck

    Am 21. Mai 2017 hatte Freddy Radeke mit seiner grünen Ente, mit der er gerne an besonders schönen Orten im Bremer Umland liegenbleibt und dann in „buten un binnen“ über diese Gegenden berichtet, (s)eine Panne bei Hinnebeck. Der Bericht über die 270 Seelen Gemeinde fokussierte insbesondere auf eine Kunstausstellung der Italienern Deborah Brisotto. Mit Kükendrahtfiguren.

    Und nun, ein Jahr später, habe ich selbst eine Panne bei Hinnebeck gehabt.

    Und das kam so:

    Im Februar 2018 sind wir raus aus Bremen gezogen, an den Geestrand nach Meyenburg. Meyenburg gehört wie Hinnebeck zu Schwanewede, hat aber eine Kirche, einen Laden, ein Landhaus, eine Wassermühle mit Mühlencafé und eine alte Genossenschaft, wo man Maike’s Friesentorte bekommen kann.

    Von hier aus haben wir dann im Mai –also ein Jahr später als Freddy Radeke und bei genauso gutem Wetter- eine Fahrradtour nach Hinnebeck gemacht, weil die Sendung von buten un binnen aus dem Jahr zuvor unvergessen ist. Durch die Marsch ging es über die Gräben, bis endlich kurz vor Hinnebeck ein Graben keine Brücke mehr hatte: Der Weg war einfach zu Ende!

    Wir mußten umkehren, weil wir nicht den Mut hatten, die Fahrräder hinüberzuschmeißen und hinterherzuspringen, eine Furth gab es hier nicht.

    Also: zurückfahren. Oder auch nicht: Panne bei Hinnebeck. Hinterrad. Für mich irreparabel.

    Eine Woche später verfügt mein Fahrrad über unplattbare Reifen der Firma Schwalbe, und das Wetter ist pünktlich zum Pfingstfest herrlich. Ein neuer Versuch.

     

    Ich nähere mich Hinnebeck von Süden. Von Vorberg aus komme ich in die Hinnebecker Furth – hier gibt es also eine. Hinnebeck hat eine Furth und das rückt diesen Ort in die Nähe von Lübeck und München. Diese Städte wurde alle im 13. Jahrhundert von Heinrich dem Löwen gegründet, und als erstes erhielten sie eine Furth durch die Trave und die Isar.

    Hinter Hinnebeckerfurth  -hier gibt es eine Islandpferdezucht, die Tiere grasen auf einer Streublumenwiese- kommt dann der eigentliche Ort: „Junges Dorp unner ole Eken“ steht am Eingang. Ansonsten gibt es im Wesentlichen schöne Einfamilienhäuser und große Bauernhöfe und eine abknickende Vorfahrt: Links nach Neuenkirchen (da ist Freddy Radeke geboren), rechts nach Aschwarden, geradeaus in die Natur.

    Geradeaus geht’s dann auch schließlich nach Aschwarden, mehr gibt’s hier auch nicht. Aschwarden sieht man schon von Weitem in der platten Marschlandschft. Man erkennt die Mühle und die Kirche. Die Nikolaikirche ist wie die Keitumer Kirche in klein, man gedenkt der Soldaten, die im 2. Weltkrieg einen „guten Kampf gekämpft“  und „den Lauf vollendet“ hatten. Sicherlich steht die Stele aus Pietät noch da, denn ein guter Kampf was das ganz bestimmt nicht.

    Nun kann man entscheiden, ob man nach Harriersand oder nach Meyenburg weiterfahren möchte. Die Marsch ist riesig, am Horizont der Geestrand mit dem Düngelwald. Wie schön Meyenburg am Geestrand gelegen ist. Durch die Wiesen geht es immer geradeaus in Richtung Geest. Unterwegs ein Bienenstock vor einem Rapsfeld, dahinter ein Schöpfwerk, roter Backstein. Mein Langzeitgedächtnis arbeitet im Hintergrund vor dem Grün der Wiesen und dem hohen Himmel: Das ist genau die Gegend von Siggi Jepsen aus der Deutschstunde, es riecht hier auch genauso wie in Nordfriesland, und die Nikolaikirche von Aschwarden spricht ja auch noch die Sprache des Deutschaufsatzes von Siggi: „Die Freuden der Pflicht“.

    So ist nicht der Lauf beendet, aber die Fahrradtour nach Hinnebeck – als erstes erreicht man in Meyenburg das Herrenhaus von Wersebe, und dann sitzt man auf der Terrasse und bringt Ordnung in diese herrlichen Landschaftsbilder.

  • Der Frühaufdreher

    oder:

    Gegen die Zeitumstellung

     

    Gott hatte angeblich die Idee, der Mensch solle sich die Erde untertan machen. Der Mensch hat ihm das abgenommen und angefangen, dies und jenes auf der Erde zu verändern.

    Das Klima beispielsweise, oder das Licht. Schaut mal auf Europa bei Nacht. Als ich Abitur machte, sollten die fossilen Energieträger in 25 Jahren aufgebraucht sein. Der Mensch hat sich überschätzt. Er hat selbst das bis heute nicht geschafft.

    Als ich Abitur machte, wurde beim Rudern der Skull direkt vorm Einsetzen in das Wasser aufgedreht. Über der Wasserlinie, beim Vorrollen in die Auslage, wurde er abgedreht, also waagerecht geführt. Das klingt richtig, wegen des geringeren Luftwiderstandes.

    Das Ruderblatt braucht einen hohen Widerstand im Wasser und einen geringen an der Luft.

    Früher war ein Ruderzyklus nach dem Endzug zu Ende. Das ist heute nicht mehr so. Wenn die Hände vor dem Vorrollen über den Knien ankommen, dann erst ist der Zyklus zu Ende. Das mußte ich neu lernen, umlernen. Und über den Knien wird auch aufgedreht. Das ist angeblich besser für das Einsetzen des Ruderblattes ins Wasser. Also: Früher aufdrehen. Ich finde das widersinnig und freue mich darauf, daß man bald wieder rudert wie früher. Es wird so kommen.

    Solange bleibe ich eben Frühaufdreher.

    Seit 2 Wochen haben wir die Zeit auf Sommerszeit umgestellt. Ich stehe also eine Stunde früher auf. Bin somit auch Frühaufsteher. Man kann die Zeit umstellen.

    Die Idee ist nicht neu, schon 1784 erläuterte Benjamin Franklin, daß durch das ausgiebige Nachtleben viel Energie vergeudet würde, und er schlug vor, pünklich ins Bett zu gehen und früh aufzustehen.

    Um Energie des Nachts einzusparen, wurde im ersten Weltkrieg eine Sommerzeit eingeführt, nach Kriegsende wurde sie wieder abgeschafft. Im zweiten Weltkrieg gab es dann wieder eine Sommerzeit. 1947 wurde sogar eine doppelte Sommerzeit verordnet, allerdings nur für 7 Wochen, dann war Schluß damit.

    Nach der Ölkrise gab es 1980 für Deutschland wieder eine Sommerzeit, und seit 1996 gibt es eine Sommerzeit für die Europäische Union.

    Man kann, soweit hat die Menschheit es gebracht, die Zeit schalten. Dafür gibt es heute extra Zeitschaltuhren.

    Man kann auch jemandem die Zeit stehlen.

    Man kann sich Zeit nehmen.

    Man sollt sich immer dann Zeit nehmen, wenn man keine mehr hat.

    Heute gibt es sogar Zeitmanagement.

    Und Zeitfenster, ganz modern. Besonders in Führungsetagen.

    Aber freut Euch nicht zu früh:

    Im Herbst wird die Zeit dann wieder zurückgeschaltet.

    Ein Wahnsinn.

    Eine Riesenspökenkiekerei.

    Weil: Die Zeit schaltet sich nicht. Die Zeit läuft auch nicht.

    Die Zeit ist einfach eine Idee von uns Menschen, die gerne etwas eindimensional darstellen: Länge, Zeit, Höhe, Breite.

    Dem Raum und seinen Veränderungen ist das ganz egal.

    Uns ja auch: Die OP Zeit wird manipuliert, die Deutsche Bahn hält sich nicht an Fahrpläne, Verabredungen sind in der Schweiz oder in Frankreich etwas ganz anderes als in Deutschland.

    Ich bin immer relativ pünktlich, darum muß ich aber auch viel mehr warten als meine Mitmenschen. Bis auf das Aufdrehen beim Rudern: Da warten immer alle auf mich.

    Ich wäre dafür, das Zeit schalten zu unterlassen, der Natur die Zeit zurückzugeben, die Winterzeit abzuschaffen, etwas früher aufzustehen und dafür etwas später aufzudrehen.

    Und doch ruft mir der Steuermann wieder zu: Heiner, Du kommst zu spät!

    Und dann lachen im Achter wieder sieben.