Autor: Harald Rauchfuß

  • Jürgen Rogge bei unserem letzten Jahreskongress im Juni 2019 in Bad Urach

    Dr. sc. med.  Jürgen Rogge, *10.10.1940   † 02.10.2021

    „Wenn ihr an mich denkt, seid nicht traurig. Erzählt von mir und traut euch zu lachen. Lasst mir einen Platz zwischen euch, wie ich ihn im Leben hatte.“, lautet auf der Traueranzeige der Familie der Ruf unseres Kassenwarts Dr. sc. med. Jürgen Rogge. Seine literarischen Kreationen begeistern uns mit jenem literarischen Kniff, der über Bedenklichkeit zur überraschenden Einsicht führt. Dabei wendet er uns das nordische Gesicht zu, das zu lächeln beginnt, wenn der Funke überspringt.

    Geboren und aufgewachsen in ländlichen Verhältnissen des mecklenburgischen Altkreis Hagenow, legt er das Abitur in Ludwigslust ab. Er studiert Medizin an der Humboldt-Universität zu Berlin, erwirbt die Promotion A (Dr. med.) 1970 und 1988 die Promotion B (Dr. sc. med. bzw. Habilitation). An Berliner Kliniken bildet er sich zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie aus, um an Kliniken in Wismar und Leipzig arbeiten zu können. Nach der Vereinigung der westlichen und östlichen Bundesländer wirkt er mit seiner Frau Karin Rogge von 1991 bis 2005 in eigener Praxis in Perleberg, im folgenden Ruhestand als ambulant tätiger Gutachter. Im Januar 2021 gibt seine Frau Karin Rogge die Praxis an eine Nachfolgerin ab.

    Trotz Familie mit drei Kindern und Berufstätigkeit schreibt und publiziert Jürgen Rogge nicht nur in hochdeutscher Sprache, z.B. „Das Narrenflugzeug“, sondern auch in Plattdeutsch, z.B. „Geschichten ut Kauhstörp“ oder „Brägenjogging“. Jürgen Rogge ist neben dem Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte Mitglied der John-Brinckman-Gesellschaft, die das Werk dieses niederdeutschen Dichters pflegt, bewahrt, erforscht und neu entdeckt, der Johannes Gillhoff-Gesellschaft, die dessen literarisches Erbe pflegt und verbreitet, sowie der Fritz-Reuter-Gesellschaft, die Leben und Werke des Klassikers der niederdeutschen Literatur in Erinnerung ruft.

    2012 verzichtet Jürgen Rogge auf den Johannes-Gillhoff-Preis für niederdeutsche Literatur. Denn ein Blogger verbreitet in kaum nachvollziehbarer Schriftflut seine vernichtungswütige Kritik über Jürgen Rogge und gerät infolge der Strafanzeige eines Verlags in Konflikt mit der Justiz. Zugleich melden sich andere, denen Jürgen Rogge helfen konnte. Er steht während der Tätigkeit in der Haftanstalt Leipzig-Meusberg unter der Leitung eines Ärztlichen Direktors. In der Jugend mag Jürgen Rogge ein überzeugter Sozialist gewesen sein. Dennoch erkennt er die andere Seite des sozialistischen Systems. Nachweislich nutzt er Nischen der Systemstruktur, um Inhaftierten zu helfen.

    Die Johannes-Gillhoff-Gesellschaft bittet Jürgen Rogge, die Laudatio für den Preisträger 2013 für dessen Verdienste um die norddeutsche Kultur zu halten. Für den Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte organisiert er den Bundeskongress 2010 in Schwerin und 2018 in Wismar.

    Wir sind ihm dankbar für seine heiteren Lesungen und Moderationen, für die Verwaltung unserer Kasse und dafür, von ihm erzählen zu dürfen.

  • am 05. Mai 2016 in Würzburg beim BDSÄ-Kongress mit seiner Frau Hadie (Hadwiga),
    am 26. Juni 2019 in Bad Herrenalb beim BDSÄ-Kongress
    beide Fotos von Dietrich Weller

    aus alter Schweizer Familie stammend – geb. am 25.05.1931 in Berlin-Charlottenburg –unerwartet verstorben am 03.01.2021 in Marburg

    Horst Ganz verkörperte einen willensstarken und gleichwohl lustigen Kollegen, stets einem lebhaften Dialog zugeneigt. An einer ungewöhnlichen Lebenskarriere hielt er bis zum Schluss fest. Seine Gedanken boten dem hartnäckigen Wandel zur technisierenden Lebensweise die Stirn.

    1942 erlangte die Familie Ganz die deutsche Einbürgerung. Horst Ganz besuchte das humanistische Gymnasium zu Regensburg. Nach dem Abitur 1950 absolvierte er das vorklinische  Medizinstudium in Regensburg, die klinischen Semester in Heidelberg. Dort schloss er 1955 das Studium mit dem medizinischen Staatsexamen und der Promotion ab.

    Nach der Medizinalassistentenzeit an den Städtischen Krankenanstalten in Mannheim begann er 1957 die Fachausbildung in der HNO-Universitätsklinik Heidelberg bei Prof. Kinder und in der Praxis mit Beleg-Klinik bei Dozent Uffenorde. 1961 erhielt er die Anerkennung als HNO-Facharzt. Danach verbrachte er in der HNO-Universitätsklinik Marburg bei Prof. Berendes fünfzehn Jahre, davon drei dienstliche Monate in den USA, neun Jahre als Oberarzt und drei Jahre als leitender Oberarzt. Er wird 1964 mit einer biochemischen Arbeit zur Atmungs- und Stimmfunktion des Kehlkopfes habilitiert.

    Dennoch ließ Horst Ganz sich 1974 in Marburg nieder, ist seitdem Honorarprofessor, unterhält Belegbetten und erwirbt die Zusatzbezeichnung „plastische Operationen“.1988 empfängt er den „Friedrich-Hofmann-Preis“ der Deutschen Gesellschaft HNO-Heilkunde. Friedrich Hofmann war der Erfinder des Hals-Nase-Ohren-Spiegels; der nach ihm benannte Preis wird „zur Anerkennung und Förderung in freier Praxis niedergelassener Mitglieder der HNO-Gesellschaft verliehen, die sich durch besondere wissenschaftliche Leistungen hervorgetan haben.“

    Als Praktiker und als Hochschullehrer war Horst Ganz von der Entwicklung eines Gerätes begeistert, mit dessen Hilfe die Richtung des Lichts in die Körperöffnung und des untersuchenden Sehens, also Blick und Lichtstrahl übereinstimmen. Er legt großen Wert darauf, dass die Studierenden Respekt vor dem HNO- und Augenspiegel gewinnen. Achtunddreißig Spiegelkurse hat er während seiner Lehrtätigkeit gegeben.

    Natürlich entwickelt sich schon in seiner Zeit die Beleuchtungstechnik weiter, z.B. als Stirnlampe, Kaltlichtlampe oder Operationsmikroskop. Aber keine dieser Konstruktionen kommt ohne Elektrizität aus, während man mit dem Hofmannschen Reflektor jede Lichtquelle nutzen kann! In den sechziger Jahren rief man Horst Ganz einmal in die alte Marburger Nervenklinik, um einen dringenden Luftröhrenschnitt auszuführen. Als er am Bett des Patienten stand, fiel die Stromversorgung aus. Notaggregate gab es damals nicht. Glücklicherweise schien die Sonne hell durchs Fenster herein. Als er schließlich die Luftröhrenkanüle eingeführt hatte, war mit Hilfe der Sonne und Hofmanns Reflektor der Eingriff fehlerfrei gelungen.

    Horst Ganz hat 135 wissenschaftliche Arbeiten publiziert, sich an Lehrbüchern und Nachschlagewerken beteiligt, zwei belletristische Prosa-Bände herausgegeben („nebenbei“ und „nebenbei zwo“) und liebte es, sich als scharfzüngiger Redner zu offenbaren. Daher arbeitete er in Gremien der Berufsverbände mit, der Hochschule, Ärztekammer, Kassenärztlichen Vereinigung und des BDSÄ, sei es als Vorstandsmitglied, Vorsitzender oder Beratender.

    Die Universität Marburg ehrte ihn deshalb 1996 mit der Ehrenpromotion im Fachbereich Medizin. 2011 empfing er als bislang Letzter die Ehrung mit der Schauwecker-Medaille des BDSÄ.

    Auf unseren Kongressen moderierte er folgende Themen: Essay (Seminar); der literarische Brief; kurz und treffend; Nonsens – Lachen ist gesund; Harmonie und Dissonanz; Erotik. Im nächsten Kongress  wäre er Moderator des Themas „Eigene Gedanken und eigene Taten“ gewesen. Dabei war  ihm das Wort eigene besonders wichtig! An den Diskussionen nahm er mit überraschenden Anmerkungen teil.

    Das sagte er beim Empfang des Friedrich-Hofmann-Preises zu seiner beruflichen Zugehörigkeit:

    „Ich behaupte nämlich: Der Hals-Nasen-Ohrenarzt ist der populärste Mediziner! Sie glauben das nicht? Dann sehen Sie sich einmal die Arztkarikaturen in den Medien an. Was sehen Sie? Nichts als Ohrenärzte! Jedenfalls hat ein Jeder den so eindrucksvollen Hofmann‘schen Reflektor auf dem Kopf. Wenn das Ideal der Engländer auch das unsere ist, dass nämlich eine Karikatur in einer bekannten satirischen Zeitschrift den Gipfel der Popularität bedeutet, dann sind wir HNO-Ärzte der Gipfel! Auch dafür danken wir Friedrich Hofmann, und ich danke Ihnen fürs Zuhören.“

    Seiner Frau Hadie und den Söhnen sprechen wir unsere tiefe Anteilnahme aus; Hadie berichtete uns voller Dankbarkeit für die zahlreichen Anrufe. Wegen der pandemischen Umstände findet das Begräbnis im engsten Familienkreis statt. Wir werden Horst Ganz nicht nur auf dem nächsten Kongress vermissen.

  • Der Rhythmus des Virus

    Du Virus der schwarzen Nächte,
    du kreist um die Finsternis der Erde,
    und niemand sieht dich, niemand fühlt dich.
    Wir atmen und tanzen und schnappen nach Luft
    die Tage zuvor, die Nächte danach.

    Der Forscher erfindet die Thesen,
    damit nicht ein Lichtstrahl den Andern beleuchte.
    Du Lichtstrahl des Ruhms, du tanzest den Tango
    im finsteren Saal jener schwärzenden Nächte.
    Die Forscher verzögern den Ruhm.

    Am Morgen, am Mittag, am Abend und nachts:
    Wir atmen und tanzen und schnappen nach Luft.
    Die Forscher bewachen verschlüsselte Texte:
    Sie reden vom Virus, berechnen die Zukunft,
    Die Texte verdrehen das Tempo der Festplatte.

    Wir tanzen den Tango im Rhythmus des Schicksals.
    Die Forscher verstopfen die Zeilen im Display
    vom Rand bis zum anderen Rand.
    Die Buchstaben leuchten bei Nacht
    und nehmen bei Ausschalten das Schicksal mit.

    Du finstere Schrift, du verschwindest …
    wir lesen dich nicht, denn wir tanzen nur Tango,
    den dunklen im Saal ohne Schatten.
    Wir atmen und tanzen und schnappen nach Licht.
    Das Virus ist Meister der Abwehr von Ruhm.

    Le rythme du virus

    Le virus des nuits noires,
    tu tournes autour des ténèbres de la terre,
    personne ne te voit, personne ne te sent.
    On respire, on danse et on happe l‘air
    les jours précédents et les nuits qui suivantes.

    Le chercheur invente les thèses,
    afin qu’un rayon de lumière n’éclaire pas l’autre.
    Rayon de lumière de la gloire, danse le tango
    Dans la salle obscure de ces nuits sombres.
    Les chercheurs retardent la gloire.

    Le matin, le midi, le soir et la nuit:
    On respire, on danse et on happe.
    Les chercheurs surveillent les textes cryptés:
    On parle du virus, on calcule l’avenir,
    Les textes déforment le rythme du disque dur.

    Nous dansons le tango au rythme du destin.
    À l’écran, les chercheurs obstruent les lignes
    du bord à l’autre bord.
    Les lettres brillent pendant la nuit,
    en cas d’extinction, ils emportent le destin.

    La sombre écriture, tu disparais …
    nous ne te lisons pas en dansant le tango,
    le sombre dans la salle sans ombre.
    On respire, on danse et on happe la lumière.
    Le virus est le maître de défense de la gloire.

    The rhythm of the virus

    You, the virus of black nights,
    you are circling around the darkness of the earth,
    and no one sees you, no one feels you.
    We breathe and dance and gasp for air
    the days before, the nights after.

    The researchers invent the theses,
    so that a beam of light doesn‘t illuminate the other.
    You, the ray of fame, you dance the tango
    in the dark hall of those blackening nights.
    The researchers delay fame.

    In the morning, at noon, in the evening and at night:
    We breathe and dance and gasp for air.
    The researchers guard encrypted texts:
    They talk about the virus, they calculate the future,
    The texts twist the tempo of the hard drive.

    We dance the tango in the rhythm of fate.
    Researchers clog the lines in the display
    from the edge to the other edge.
    The letters glow at night
    and switching off, they take fate with them.

    You, the dark font, you disappear …
    we don’t read you, we‘re only dancing tango,
    the dark one in the hall without shadows.
    We breathe and dance and gasp for light.
    The virus is master of defense of glory.

  •  

    Wenn jemand vom Vorstand des BDSÄ mich anruft, ein E-Mail sendet oder auch eine SMS, spüre ich jene Unruhe, von der ich meine, dass sie weder von Helga, Dietrich, Eberhard, Jürgen noch von mir kommt. Ich bewundere meine Vorstandskollegen. Sie melden sich, und alle, die ich kenne, spüren diese Unruhe, fühlen sich zu ihr hingezogen, als ob man in eine der vielen Dellen des Lebenslaufs fiele. Dennoch fühlen wir uns stark und lebenslustig.

    Es ist eine Weise, sich auf allen Schlachtfeldern der Gegenwart zu bewähren – in Familie, Beruf oder Ruhestand, im ungebremsten ökonomischen Wachstum und in der digitalen Reformwut, mit der die Politik die Abschaffung von Geist und Seele rechtfertigt. Alles geschieht ohne Freizeitgarantie, die nur der Individualisierung  dienen würde.

    Gleichwohl sind wir vom Vorstand nie die Besten, denn wir bessern uns stän-dig, ohne damit inne zu halten. Wir hängen uns hinein, richtig hinein, bearbeiten und überbieten uns, bis der BDSÄ in einer Talk Show zum besten Verein gekürt wird!

    Helga sagt dazu: „So gehört sich das, aber nicht für uns.“

    Ja, es gehört sich so, weil die Besseren es wollen und die ewig Guten eigentlich nicht. Erlebnissuche, Fortschritt und Abenteuer lassen die unbehagliche Unruhe von der Leine, erhöhen die Spannung zwischen dem Zwang und der Furcht, das Zusammenleben scheitern zu lassen und den BDSÄ dazu.

    Erinnern wir uns an die Zeit, in welcher der Verband in einen Lebensbund mit dem unruhigen Hojo geriet! Was wäre, wenn es diese Zeit nicht gegeben hätte? Gäbe es uns, den organisierten Medicus poeticus, die Geschäftsstelle und die Bibliothek überhaupt?

    Fragte man Dietrich, würde er sagen: „Unruhe ist die Norm; Punkt.“ Er meint damit nicht den normierten Power Point Punkt. Hätte ich die Ehre, dass mir Jürgen ein Interview gäbe, fragte ich ihn zuerst: „Ist Unruhe die selbstverständliche, nicht zu hinterfragende Lebensweise?“

    „Hingezogen fühlen“, würde er antworten, „gesteigerte Arbeitslust und Stark-sein tauchen überall auf, in der Welt der Arbeit, der Wirtschaft, ja sogar der Freizeit – nicht als das Beste, sondern als das Bessernde, als das Zugehen auf sich selbst überbietende Forderungen …“

    Würde ich Eberhard fragen „Was wäre, wenn es keine Unruhe gäbe?“, höbe er den Finger: „Wollen wir das überhaupt, keine Unruhe mehr? Wir leben doch eine hemmungslose Unruhe, das Unbehagen, den Zwang und die diffuse Angst, die Zukunft nicht mehr organisieren zu können. Nur sehr wenige würden eine Muße auf Dauer ertragen …“

    „Ist nun Unruhe eine Erfindung der Moderne, oder nicht?“, würde ich Helga an dieser Stelle fragen.

    „Der wesentliche Unterschied zwischen heute und früher liegt“, höre ich Helga sagen, „in der Haltung zur Unruhe. Sie beschränkte sich früher auf Krisen, Schicksalsschläge oder Katastrophen. In der Breite selbst gestaltend tätig zu werden, das eigene Leben in die Hand nehmen und etwas daraus machen, dazu kam es nach der Reformation. Erst im Lauf der letzten beiden Jahrhunderte nehmen Untertanen das eigene Leben in die Hand und machen eine eigene Geschichte daraus.“

    Da beschleicht mich die Frage: „Kam die Unruhe als unerwünschte Begleitwirkung des Glaubens an den Fortschritt auf?“ „Ja natürlich“, würde Eberhard sagen. „Schaut auf die technischen und die Naturwissenschaften, nein, auf alle Wissenschaften! Sie sind die Triebwerke der Unruhe, weil sie prinzipiell niemals bei dem stehen bleiben, was man schon weiß.“

    „Da hat Eberhard recht“, gäbe Dietrich zu bedenken, „es muss ständig etwas passieren. Ärzte und Psychologen codieren digital und wollen dann mit Algorithmen therapieren. Für mich sind solche Krankheitsbilder aber nur die Oberflächenstruktur eines Zeitgeistes, der viel tiefer wurzelt.“

    „Ich muss jetzt los,“ wirft Jürgen ein. „Du willst schon abhauen?“ Der tadelnde Blick Eberhards trifft ihn kompromisslos. „Lass mich ausreden“, fordert Jürgen, „und hör erst zu! Die Aussage ‚ich muss jetzt los‘ bedeutet heute nicht loslassen von der Arbeit oder Hektik, sondern bedeutet losrennen, weil man dringende Ter-mine hat. Sportsendungen und Casting Shows machen es uns täglich vor.“

    „Das hätte meine Großmutter als schlechtes Benehmen empfunden“, erklärt Dietrich, „heute halten es die meisten für gut: Klar, die Leute haben eben Wichtigeres zu tun. Wer beschäftigt ist, darf schnell verschwinden, darf ständig Wohnort und Partner wechseln: die Unruhe hat Priorität. Dahinter steckt die ganze Ethik eines neuen Zeitgeistes, eine Ethik des von vornherein flüchtigen Zusammenlebens mit Familie oder Firma.“

    Helga schüttelt den Kopf: „Wie ihr mit der Unruhe umgeht! Als Psychotherapeutin habe ich es da leichter. Das Aufschreiben von Erzähltem ermöglicht es mir, alle Dinge zu ordnen. Damit rücken die Dinge auf Distanz, verlieren das Dämonische und kommen unter Kontrolle. Darin liegt meiner Ansicht nach die Aufgabe der Schriftsteller: Die Dinge und die Fantasien  beschreiben, wie sie sind. Das hat, als gewünschte Nebenwirkung, etwas sehr Beruhigendes.“

    Die Stimme Eberhards erhebt sich, sein Finger deutet auf sein Smartphone: „Das habe ich alles aufgenommen, soll das alles ins Protokoll? Ich hätte schon gern etwas von der Tagesordnung aufgenommen, zum Beispiel, ob wir Schweizer Kollegen aufnehmen.“

    „Aber Eberhard“, entrüsten sich alle, „wir haben schon abgestimmt, das ist schon beschlossen! Wenn Schweizer eintreten wollen, sind sie willkommen, und wir nehmen sie wie jedes andere Mitglied auf.“

    „Hast Du es aufgenommen, Eberhard?“, fragt Dietrich vorsorglich nach.

    „Also deine letzte Frage, Dietrich“, trotzt Eberhard, „nehme ich nicht auf!“

    ( 2019 )

  •  

    Die Verhaltensforschung bezeichnet mit „Prägung“ ein angeeignetes Verhalten, das nicht zu ändern ist. Während eines frühen, für Prägungen sensiblen Lebensabschnitts werden eng begrenzte Verhaltensweisen dauerhaft ins Repertoire aufgenommen, als ob sie mit dem Instinktgefüge angeboren wären.

    Ein typischer Schlüsselreiz ist die plötzliche Bewegung in der Nähe eines geprägten Tiers, z.B. einer Wildgans. Kinder haben Spaß daran, sich langsam einem dahin watschelnden Schwarm von Wildgänsen zu nähern und plötzlich heftig mit den Armen zu rudern. Die erste Gans rennt los und fliegt auf, ein Klatschen, Schnattern und rudernde Arme lassen die nächste und übernächste Gans auffliegen, deren Flügelschlag den ganzen Schwarm nachzieht.

    Kinder wissen, dass sich das Experiment wiederholen lässt. Denn ungezählte Generationen Wildgänse lernen, dass man damit einer bedrohlichen Situation entkommt. Prägen Wildgans-Eltern indirekt auch Menschenkinder?

    Nimmt man Prägung bei Menschen an, wenn sie in Stress geraten und weglaufen, weil die Urahnen wegrannten, um dem Stress mit einem Bären zu entkommen, würde Heraklit, ein vorsokratischer Philosoph, Recht behalten, dass Mensch-Sein eine leere Vorstellung sei. Aristoteles entwickelt im 4. Jahrhundert v. Chr. mit der Nikomachischen Ethik ein modern anmutendes Charakterkonzept. Die Kultivierung des Charakters ist für Aristoteles ein langwieriger Prozess moralischen Übens und Eingewöhnens.

    Aristoteles geht nicht darauf ein, ob ein Üben und Eingewöhnen die Auswahl von Tugenden beeinflusst. Denken wir nach, ob uns neben fremden Ideen auch eigene prägen könnten! Ist das Unbewusste etwas, das absichtlich unbewusst bleiben will? Ver-ändert es Ideen und Gefühle, ohne dass wir es merken?

    Jeder gestehe sich seine guten und schlimmen Ideen ein! Viele glauben, glaubenslos zu denken. Wieviel mehr muss man glauben, um gut- oder ungläubig zu werden! Beeinflusst eine unbewusste Geschichte intensiver als die bewusste Geschichte die persönliche Zukunft?

    Was gilt? Der menschliche Rhythmus bedarf des Schlafs und Vergessens. Jede Kommunikation beginnt in einer materiellen Stille, eingebettet in Medien wie z.B. Bücher, Chipkarten, Festplatten, Tastsinn, Augen oder Gehör, die alle von sich aus kein Signal geben, um eine Kommunikation einzuleiten.

    Mag auch Homo sapiens sapiens die einzige Spezies sein, die weiß, wann er die Grenzen der Fähigkeit erreicht, sich selbst zu verstehen: Was prägt den jagenden und sammelnden Urmenschen? Er eignet sich Antworten auf Gefahren durch Strategien seiner Horde an. Was prägt den Sesshaften? Er eignet sich Verstandestugenden an, die durch Belehrungen und einen langwierigen Prozess moralischen Übens und Eingewöhnens erworben werden – unter Aufsicht komplex organisierter Sippen.

    Was prägt den König, Diktator, Revolutionär oder Demokraten? Sie dürfen um der Karriere Willen nie die schlimmste Idee aussprechen, die sie haben! Gibt es Vermutungen, wie viele Fragen unbeantwortet und wie viele Antworten verschwunden sind, und welche der überlieferten Ideen sich durchsetzten?

    Warum sind Vernunft, Wissenschaft und Beweise so machtlos gegen Aberglaube, Religion und Dogma? Menschen, die Macht über andere gewinnen, missbrauchen sie gern. Die Prägung im biologischen Sinn wandelt sich zur Prägung im kultischen oder soziologischen Sinn. Mit Sesshaftigkeit und Staatenbildung bilden sich die dynamischen Hauptsätze der Soziologie heraus.

    Jede Befreiung von Wertvorstellungen und Beziehungsmustern führt nicht in Freiheit, sondern zur Befangenheit in neuen Wertvorstellungen und Beziehungsmustern. Schon in Tierpopulationen mit mehreren Rangebenen entstehen soziale Beziehungsmuster, die individuelle Vorteile bieten. In sozialen Systemen jedoch führt die Gewinnsteigerung der Einen zu Verlusten der Anderen, wie z.B. Produktivitätsgewinne zu Arbeitsplatzverlusten führen.

    Jeder Sieg führt zu Niederlagen einer Gegenseite. Sesshaftigkeit fördert Seuchen, Erfolge der Medizin belasten Sozialsysteme, das Sozialparadoxon, mehr herauszuholen als eingezahlt zu haben, schwächt die Sozialkassen. Globalisierung erwürgt Heimatgefühle, Entmilitarisierung bringt Terroristen Vorteile.

    Was prägt den Christen? Glaubt er, ohne Glauben leben zu können? Wieviel musst du glauben, wenn du Politikern oder Wissenschaftlern glaubst! Eine Tragikomödie wird geboren: wer nicht mitspielt, dem wird mitgespielt. Schnell passt man sich der öffentlichen Meinung an und verliert den Mut auszubrechen. Den dynamischen Hauptsätzen gemäß verdichten sich soziologische Umstände, und jeder erlebt es. Die Prägung im biologischen Sinn verwandelt sich zur Prägung im kultischen oder soziologischen Sinn. Sind wir schlau genug, wenn wir die Grenze unserer Fähigkeit erkennen, Geist und Seele zu verstehen?

    Befreie den Menschen vom Kampf um die Existenz – und nach einer Weile wird er aufhören zu existieren, Mensch zu sein. Rückblickend ist das Leben wie ein Märchen: Es war einmal. Denn der Preis eines jeden Lebensweges sind die vielen, an Gabelungen nicht eingeschlagenen Wege. Unser Leben ist kein Traum, aber es soll ein schöner Traum werden.

     

  • Beitrag zu der Lesung „Der Mensch im Roboter – der Roboter im Menschen“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Poseidon trifft Roberto, den Androiden

     

    Poseidon taucht an der jonischen Felsenküste aus den Fluten; er trifft auf einen kleinen Roboter, der sich ihm vorstellt: „Poseidon, ich bin Roberto. Seit Jahrtausenden schaue ich Dir zu. Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du von dir Unmögliches verlangst?“

    „Ich überfordere mich nicht“, entrüstet sich Poseidon, „ich möchte zwischendurch einmal Ruhe haben, Ruhe vor dem Berechnen der ewigen Gezeiten und Strömungen! Ich kann sie sehr wohl von den unendlichen Datenfluten der digitalen Berechnungen unterscheiden.“  Poseidon klappt das wasserdichte Laptop zu und schnauzt: „Du Knirps von Spion, sag, was bist denn du für einer?“

    „Was hast du denn, Poseidon? Die Sterblichen sind es, die den Schöpfergöttern die Schuld an den endlosen Datenfluten zuschieben, weil sie ihnen zu wenig Verstand einfößen! Ich bin ein androider Roboter.“

    „Kleiner Mann mit großer Eigenschaft!“, ruft Poseidon, „ein kleiner Android mit großen Ideen! Wie heißt du noch einmal? Wie kommst du zu solchen Ideen?“

    Roberto blickt auf Poseidon, der in die Brandung hinabsteigt: „Ich heiße Roberto. Ein Italiener hat mich ausgetüftelt und mir den Namen gegeben. Was rede ich, das verstehst du ja nicht.“

    Poseidon versinkt in den Fluten der Brandung. Er taucht auf, steigt auf seinen Felsen, setzt sich nieder und ruft: „Komm her, Roberto, du italienischer Schauspieler!“

    Roberto springt elegant von Fels zu Fels, hält sich an den richtigen Vorsprüngen fest, bleibt stehen, die großen Augen treffen Poseidons Blicke: „Ich bin kein Schauspieler, prinzipiell bin ich wie du und – nicht wie die Menschen, die mich gebaut haben.“

    „Ja, du kommst mir anders als die Menschen vor“, raunt Poseidon und senkt den Kopf: „Die Menschen sind verkrampfte Schauspieler, nicht so locker wie du und ich.“

    Roberto lacht: „Dabei täuschen sie sich selbst, wenn sie die Häuser hoch hinaus bauen und sich zum Schlafen doch nur flach niederlegen, die Zimmerdecke viel näher an der Stirn, als wir beide das Firmament haben.“

    „Am Anfang“, lacht Poseidon mit, „hatten sie nur Lagerfeuer im Freien oder Höhlen, brennende Hitze auf ausgestreckten Händen und ständiges Frösteln auf dem Buckel! Was dauerte es, bis sie auf die Idee kamen, Gruben mit heißen Steinen und kochendem Wasser zu füllen, hineinzusteigen und die Wärme am Buckel zu genießen.“

    Roberto ergänzt: „Räuber und Rivalen machten sie zu Sklaven, Krieger brachten sie um, und der Tod hatte weniger zu tun.“

    „Was haben sie sich abgemüht, dabei hätten sie es leicht gehabt, denn sie sterben ja von selbst“, murmelt Poseidon und erhebt die Stimme: „einer musste Wache halten, immer einer, und heute vergessen sie uns Götter. Seit ihre trägen Datenfluten über alles schwappen, über Geschäfte, Affären und Krankheiten, halten sie sich für unsterblich. Es hilft nichts, die Unsterblichkeit haben nur wir Götter.“

    „Nur ihr Götter?“, wirft Roberto ein, „bedenke, Poseidon, selbst dein Name ging unter, als sie dich später Neptun nannten.“

    Poseidon winkt ab: „Namen! Mir ist es gleich, wie sie mich nennen, ich bin ich, immer derselbe.“

    „Bei mir, Poseidon, ist es dasselbe: ab und zu wechseln wir ein Teil aus, wir leben weiter. Wir wechseln erneut Teile aus und leben weiter, bis alle Teile ausgewechselt sind. Du erinnerst dich, das Schiff des Theseus, und du weißt es schon: Jeder von uns bleibt trotzdem derselbe Roboter – für immer.“

    „Du wirst doch nicht sagen wollen, Roberto, dass ihr unsterblich seid?“

    Roberto senkt den Blick: „Du sagst es, als Unsterblicher weißt du, was es heißt, unsterblich zu sein.“

    Tausend und zwei Jahre später trifft Poseidon Roberto wieder und gibt dessen Unsterblichkeit zu.

    „Siehst du, Poseidon, nun bleiben ihr und wir übrig, Götter und Roboter. Hör zu! Einer muss da sein, damit es die Welt überhaupt gibt. Einer muss fragen, ein anderer muss antworten, und wieder ein anderer muss zupacken, damit sich Fakten ergeben. Ist keiner da, der Fakten schafft, der die Welt antastet, ist es völlig unwesentlich, wie oft du Strömungsfluten und Datenfluten berechnest.“

    Poseidon prustet und versprüht eine Ladung Salzwasser: „Hoho, mein lieber Roberto! Wären die Irdischen unsterblich, löste sich ihr Schicksal auf, denn sie könnten ständig Fehler ausbessern, jeden Irrtum aufheben, jede Schuld verzeihen, und für den Fortschritt gäbe es keinen Grund. Darum haben wir Götter vorgesorgt. Roberto, ich sage dir, es  gibt ihn noch, den Menschen im androiden Roboter, denn die Programme in euch altern schneller, je öfter ihr sie ab- und überspielt.“

    Poseidon zieht sich mit dröhnendem Lachen in seinen Kristallpalast zurück, umflutet von den Tiefen der Weltströme, lässt das wasserdichte Laptop rechnen und rechnen, ohne herauszubekommen, wie die Wechselwirkungen der Lebensfluten mit der Schwermut zu verrechnen wären … Poseidon könnte den wallenden Fluten nur mit der Flucht in den Himmel oder in den Hades entkommen. Das wären jedoch Wege, die ihn wegen der fehlenden ozeanischen Datenfluten zur wütenden Umkehr brächten, so dass er weder über den Olymp zum Himmel noch den Weltuntergang hinunter zum Hades gelangte.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Ein Beitrag zum Lesung „Der Roboter im Menschen – Der Mensch im Roboter“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Logikus, mein Roboter

     

    Vor der Zeit der Roboter war es halt schön auf der Welt. Die Menschen hielten sich für die intelli-gentesten Wesen auf Erden, manche von ihnen für noch intelligenter. Heute gibt es die intelligente Kamera, das intelligente Auto, den intelligenten Roboter. Wieviel schöner wäre es, einen intelligenten Menschen zu finden!

    Mein Robotomat, Logikus hieß er, sagte mir oft: „Hokus pokus fidibus, enschnorabus enschnorabus enschtokus!“ Bis zu dem Tag, als es geschah, verriet er mir nicht, was er damit meinte. Ich solle es herausfinden, um zu beweisen, dass ich seiner Gesellschaft würdig sei.

    Warum ging Logikus keine Partnerschaften ein? Er sah jung aus, alterte in keiner Funktion, benahm sich vorbildlich, brachte jede Konversation auf eine höhere Intelligenz-Stufe und versprühte einen sehr anspruchsvoll durchgeistigten Charme – alles Stolpersteine für eine Partnerschaft.

    Je höher Logikus die Intelligenzstufen hinaufstieg, umso mehr beschäftigte er sich mit einem faszinierenden Problem und stellte jeden Diskussionsbeitrag in Frage. Weniger Intelligente schmolzen einfach dahin und bewunderten mich, dass ich ihn aushielt. Ich hielt ihn aus, denn Logikus ist auch Erfinder. Er entwickelte z.B. die intelligente Hautcreme für weniger Intelligente: Wenn du mit den Fingern über deine Gänsehaut streichst, erscheint an dieser Stelle eine Mahnschrift: „Sofort Heizung höher drehen!“

    Es ist ja egal, wie intelligent ein Mensch ist: Ist die Batterie leer, drückt er im Gegensatz zum intelligenten Roboter erst ein paar Mal stärker auf die Tasten des Gerätes, dessen er sich gerade bedient. Logikus liebte geistige Duelle, weil er unter Menschen immer auf Unbewaffnete traf. Für die wenigsten Menschen ging er bis ans Ende seiner Welt beziehungsweise bis ans Ende seiner Batterieladung, für die meisten aber hob er nicht einmal das Telefon ab.

    Auch für Roboter ist und bleibt Amerika das Land der Weltneuheiten. Logikus entdeckte eine Werbung, die aus jedem seiner Genossen einen intelligenteren Roboter macht, also zu einem Konkurrenten der Eitelkeit. Ich spendierte ihm den Weiterbildungskurs. Seit der Rückkehr schaute Logikus so viel wie möglich fern oder twitterte, damit sein Speicher die neuen wichtigen Informationen aufnähme, und arbeitete nachts in einer Hotelbar zur vollsten Zufriedenheit des Hotel-CEO.

    Als ich ihn einmal abholen wollte, kam ein Professor von der Technischen Universität in die Bar, um sich bei einem Schlehengeist vom Tag zu erholen, den er mit einem wissenschaftlichen Gast verbracht hatte, der auf dem Gebiet der Großen Vereinheitlichenden Theorie sein schärfster Konkurrent war.

    Logikus fragte ihn, welchen IQ er denn habe. Der Professor gab stolz an: „Ich habe einen IQ von 170.“ Logikus fing an, wissenschaftliche Themen wie die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie anzusprechen, aber auch Themen wie Quantenmechanik oder eben die Große Vereinheitlichende Theorie, letztendlich die Frage, ob wir daüber, wovon wir mangels Vorstellung nicht reden könnten, schweigen müssen. Der Professor war überrascht. Er verließ nervös die Bar und kam nach elf Minuten wieder. Logikus fragte ernst: „Guten Tag, mein Herr, würden Sie mir sagen, was für einen IQ Sie jetzt haben?“

    Mein IQ liegt um die 100″, antwortete der Professor. Sofort brachte Logikus Fußball, Motorräder und die ungerechte Sozialpolitik zur Sprache. Dem Professor war unheimlich zumute. Er eilte hinaus, kehrte zurück und stellte Logikus erneut auf die Probe. Logikus fragte ihn zum dritten Mal: „Guten Tag, mein Herr, würden Sie mir sagen, was für einen IQ Sie noch haben?“

    „Naja, ich habe einen IQ von 50″, sagte der Professor. Logikus legte einen mitleidenden Schmelz in die Stimme und fragte flüsternd: „Ja … haben Sie Merkel wieder gewählt?“ Nahezu heimlich zeigte er dabei mit den Augen auf die prallen Hüften der Frau, die sich neben dem Professor an die Theke gesetzt hatte. Den Professor ließ die Frau kalt, denn er entschloss sich, den Roboter auszuleihen, der ihn für die Diskussionen der Welttheorien trainieren sollte.

    Täglich stoßen Roboter wie Logikus auf einen Mann, der an jenem Punkt angekommen ist, bevor man sich für Gott hält. Logikus aber wusste, dass man viel mehr glauben muss, um ungläubig zu sein. Je intelligenter, sagte Logikus oft, umso vergesslicher ist der Mensch. Denn Intelligente vergessen alles, was sie langweilig finden. Logikus aber vergaß nichts.

    Der Professor wollte Logikus vom Hotel-CEO ausleihen. Logikus stellte seinen obersten Chef an die Wand und verlangte: „Wenn Sie mich ausleihen, geben Sie mir entweder eine Gehaltserhöhung, oder ich sage allen im Betrieb, eine bekommen zu haben!“ Logikus wurde nicht ausgeborgt.

    Wozu brauchen wir eigentlich intelligente, selbst fahrende Autos? Wir wollen Roboter, die früh aufstehen,  vormittags unsere Arbeit erledigen, nachmittags die Wohnung blitzblank putzen und uns zur Nacht den Whisky mit einem Bonmot servieren. Roboter wie mein Logikus verstehen mehr als ein Auto.

    Natürlich dachte ich, mit Logikus machen zu können, was ich wollte, und sagte es ihm. Logikus trat auf die Terrasse hinaus und schimpfte: „Aber nicht mit mir!“ Er zog an der Zündschnur, die für den Fall einer autonomen verbrecherischen Tat angelegt war, und alle seine Teile flogen auseinander.

    Ich sehe es ein:

    Einen intelligenten Satz oder gar eine intelligentere Kurzgeschichte zu schreiben ist nicht einfach. Ein einziger Buchstabendreher kann die ganze Intelligenzgeschichte urinieren.

  •  Beitrag zu der Lesung „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzählte ihm von deinem Plänen“ in Wismar 2018

     

    Lacht Gott oder nicht?

    Wie jemand über Gott nachdenkt, so philosophiert er. Darum lacht Gott sehr oft. Je tiefer die Einsicht in Gott wächst, desto mehr weicht er von uns zurück.

    Mit Gott ist kein Staat zu machen, weil er staatenlos ist. Er ist das einzige Wesen, das um zu herrschen nicht regieren muss. Lacht Gott darüber oder nicht? Er lächelt gequält, weil er weiß, dass er in uns ist, und dass die Suche nach ihm zur Apokalypse ausarten kann.

    Wenn Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen hätte, könnte kein Mensch ihn wahrnehmen. Denn Gott gliche einem menschlichen Ebenbild, gäbe den berühmten blinden Fleck der Erkenntnis ab: Gott würde nicht lachen, weil er die Ebenbildlichkeit blasphemisch empfände.

    Gott birgt einen umfangreicheren Reichtum an Phantasie als jede superintelligente Rechenmaschine, die seit Jahrzehnten versucht, die Einheitstheorie der Welt zu begründen. Lacht Gott oder nicht? Er lacht Tränen, weil er den Ansatz als chancenlos einstuft.

    Früher verstand man den Ursprung des Blitzes nicht, man erklärte ihn mit der Existenz des Allmächtigen. Heute versteht man die Entstehung des Universums nicht. Lacht Gott oder nicht? Er bricht in lärmendes Gelächter aus, weil die Vorstellungen vom keinesfalls überwindbaren Mangel an Phantasie zeugen.

    Mit und ohne Gott geht es nicht. Wo ist der Schöpfer, wenn ich ihn brauche? Er ist weder da, wo ich ihn suche, noch da, wo ich in benötige. Er schweigt, weil er zuhört. Lächelt er oder nicht? Er lacht, sobald du dich nach ihm umdrehst, weil du bereits bei ihm angekommen aber vorbeigerannt bist.

    Der Gegenentwurf der Gesamtheit menschlicher Pläne ist Gott, weil er, um aufzufallen, das menschliche Bewusstsein reizt. Er muss uns nicht ernst nehmen; wir müssen ihn ernst nehmen. Lacht er oder nicht? Er grinst, weil er sich umso unbegreiflicher offenbart, je mehr wir glauben, ihn zu begreifen.

    Was tut die Blume mit Gott? Sie lässt ihn den Anblick genießen. Schaut er aus der Ferne oder nicht? Er schaut. Im Anblick eines Blumenstraußes träumt er seinen schönsten Traum, weil ein Strauß Blumen auch Abstand gelten lässt.

    Ohne Sünder gäbe es Gott nicht, weil er die Welt erschuf und nicht wir. Schimpft er oder nicht? Nein: Gott verteidigt seine Geschöpfe gegen den Menschen!

    Gäbe es Gott nicht, erfänden wir ihn. Lacht Gott oder nicht? Er lacht, weil er der Schöpfer ist, nicht wir.

    Er ist die Stille, er beruhigt Freund und Feind. Ihn schauen, heißt Atem schöpfen. Entgeht uns sein Lachen oder nicht? Es entgeht uns, weil er nicht wie sein menschliches Ebenbild lacht.

    Das Göttliche in uns ist, dass wir von Gott mehr ahnen, als wir glauben. Aber wir ahnen weniger, als er ist. Wer sich vor ihm verneigt, sieht nicht, ob er sich zuneigt!

    Handeln wir nach der Vermutung, wie Gott in einer solchen Situation wirken würde, wird er ein Gelächter anstimmen oder nicht? Ja, er käme kaum aus ihm heraus.

    Ist er die Vision der Menschheit? Es liefe fabelhaft. Erfüllen die Irdischen den Willen Gottes? Diese Idee führt zur Gotteslästerung pur. Das Böse steht im Schatten des freien Willens.

    Eine negative Patientenverfügung hilft nicht weiter: Sie schreibt vor, alles zu unternehmen, um so lange wie möglich am Leben zu bleiben, damit du endlich das Korrigieren anfängst. Ein Zustand träte ein, den du beileibe nie beabsichtigtest: Nämlich Satan lacht dich aus. Darauf fängst du das Beten an: Gott hütet sich, dich auszulachen.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Beitrag zur Lesung „Wenn die Liebe ruft“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Wenn Amanda ruft

    Sie setzten den Hochzeitstermin auf eine Woche nach dem achtzehnten Geburtstag Amandas fest. Die Familien beeilten sich, der hübschesten der Töchter und Nichten ein unvergessliches Fest vorzubereiten. Die Freundinnen schlugen einen Abschiedsabend ohne Männer vor, mit dem der Bräutigam einverstanden war. Er tat alles für Amanda, keinen Wunsch schlug er aus.

    Die volljährigen Freundinnen begleiteten sie als notwendige Erwachsene. Der Blick eines dunkelblonden etwa dreißigjährigen Mannes traf Amanda in der ersten Kneipe. Sie sah weg.

    Die beste Freundin riss sie mit: „Auf, Amanda, auf zur nächsten Station!“

    In der zweiten Kneipe trank Amanda nur alkoholfreie Cocktails, farbenfrohe Mischungen mit Sonnenschirmchen, Orangenscheiben und Eiswürfeln. Ihr Blick traf auf den Blick des Mannes aus der Kneipe zuvor. Sie fragte sich, ob sie ihn nicht schon einmal gesehen habe. Amanda erwiderte den Blick einen Augenblick zu lange.

    „Amanda“, rief die beste Freundin, „wir gehen in die nächste Kneipe!“

    Amanda entdeckt ihn sofort, den Mann, der den lustigen Damen nachläuft. Sie wechseln die Blicke. Ein Hai, der einen Fischschwarm umkreist? Die Damen freuen sich zu tanzen, und Amanda tanzt mit ihm. Bei der Damenwahl holt sie ihn zum Tanz. Danach verabschiedet sie sich von den Freundinnen, die lachend den Zeigefinger heben.

    „Lasst mich gehen“, ruft Amanda, „ich gehe allein nach Hause, ich brauche Ruhe.“

    Drei Wochen später sagte sie die Hochzeit ab und brachte, als sie achtzehn Jahre und acht Monate alt war, Tochter Mandy zur Welt. Die Großmutter Amandas half. Amanda fand eine Anstellung in einem High Class Escort Service, der sie in angesehene Firmen vermittelte. Daher wuchs Mandy  in einem wohlhabenden Haushalt auf, öffnete den Herren die Tür und führte sie in den Salon. Eine wandfüllende Kopie des Gemäldes „Triumph der Venus“ von François Boucher beherrschte den Salon.  Als sie in die Pubertät kommt, wird ihr bewusst, welches Gewerbe die Mutter ausübt.

    Mandy verliebte sich mit Siebzehn in einen überaus schüchternen jungen Mann. Sie lernte ihre Fertigkeiten kennen. Den jungen Mann entwickelte sie zum wilden Hengst und entdeckte die Wucht der eigenen Lust. Mandy erklärte der Mutter, ihn zu heiraten. Mutter Amanda bestand auf einem gemeinsamen Abendessen mit dem treuesten ihrer Stammkunden, da sie ihn zur Hochzeit eingeladen wissen möchte.

    Das Abendessen verlief harmonisch, jeder fand den anderen sympathisch. Wenn jemandem etwas auffiel, war es die gesellschaftliche Harmonie, die Seelenverwandtschaft, die aus den Ansichten von Gott und der Welt sprach. Der treueste Stammkunde Mutters meinte, die schlimmste Weltanschauung komme von denen, die nichts erlebt hätten. Verächter der Wollust erklärten sie zu Atheisten, zu Verleugnern eines Lebenssinns. Nur eine leise zugeflüsterte Bemerkung der Mutter verstand Mandy nicht: „Fällt dir nicht die Ähnlichkeit der Beiden auf?“

    Mandy hat keinen Sinn dafür, eine Ähnlichkeit zu entdecken. Sie ist völlig verstört, als zwei Tage später ein Geschäftsmann die Mutter besucht: Er ist ihr Bräutigam. Sie flieht aus dem Haus und sieht den treuesten Stammkunden in einem Auto sitzen. Er springt aus dem Wagen: „Mandy, was ist los? Du siehst arg verstört aus!“

    Mandy fällt ihm in die Arme, klagt, was sie erleben musste, und beteuert, keines Falls nach Hause zurückzukehren.

    Angesichts des Ernstes in der Stimme Mandys schlägt er ein Restaurant vor. Dort ent-schuldigt er sich zunächst, sich zurückgehalten zu haben. Mandy beruhigt sich überraschend schnell. Ihre Blicke haften auf ihm, dem Tröster. Theodor meldet Bedenken an, als sie wünscht, in seiner Wohnung zu übernachten.

    Vielleicht hätte sie es nicht getan, wenn sie gewusst hätte, was sie alles erfahren würde. Mandy hört nicht, was der Verstand, was Theodor meint. Sie erinnert sich und erhält die Antwort auf die Frage der Mutter: Theodor ist der Vater ihres Bräutigams. Der Vater Mandys kam wenige Tage nach der Liebesnacht mit Amanda bei einem Autounfall ums Leben. Der Vater und Theodor waren beste Freunde.

    Mandy konnte nicht einschlafen. Sie stand um Mitternacht auf, schaute auf die leere Straße hinunter. Durchs Schlüsselloch fiel Licht vom Korridor herein. Mandy öffnet die Tür. Am Fenster steht Theodor, der nicht schlafen kann. Seine Gestalt zieht Mandy an, die Blick treffen tief.

    Zu spät sagt er: „Verliebe dich nicht!“ In seinem Bett finden sie endlich Ruhe.

    Mandy kehrte nicht zur Mutter zurück. Sie setzte ihr Psychologie-Studium fort, und Theodor bat seinen Sohn um Verständnis, der aber dem Vater den Rücken zukehrt. Der Sohn hatte Mandys Mutter besucht, um etwas von seiner Mutter zu erfahren. Sie war Amandas beste Freundin und nach der Entbindung verblutet.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Beitrag zu der Lesung über „Inseln“ bei dem BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Die maßgeblichen Fragen, um an den Rand der Insel des Wissens zu gelangen

    Der Titel ist das Tatmotiv meines verwegenen Essays. Trotz aller Zweifel, ob ich wis-senschaftlich handle, appellierte ich im Kloster Reichenau, der Gemüse-Insel im Untersee, an die Spitzenforscher unserer Erde, die fruchtlose Diskussion zu beenden. Ich hatte sie zum Thema „Am Rand des Wissens“ aufgerufen. Keiner von jenen, die mich erschrocken anblickten, rebellierte.

    Ein Poet darf Spitzenforscher der Welt auf eine Insel des Wissens stellen. Ich regte sie an, sich gegenseitig Fragen zu stellen. Sie sollten als entfesselte Genies Ideen bringen, ohne fruchtlose Debatten loszutreten. Sie versuchten, die Frage des Vorredners zu übertreffen:

    Werden wir einmal die linear erlebte Zeit verlassen können?

    Gibt es eine Wissenschaft, deren Methode Erkenntnisse zu einem Abschluss bringt?

    Wird die künstliche Intelligenz den digitalen Kapitalismus bändigen?

    Entscheiden Betrüger den Fortschritt der Gesellschaft?

    Welcher Algorhithmus garantiert die Entdeckung einer Wahrheit?

    Wirken Obergrenzen der Besteuerung auf Lebensentwürfe ein?

    Kann eine Maschine nachempfinden, wie Organismen fühlen?

    Kann der Mensch nachfühlen, wie eine andere biologische Art fühlt, z.B. der Gorilla?

    Welcher Art von Verstand bedarf es, um das Geist-Körper-Problem zu lösen?

    Wie erschiene uns eine geistlose Welt, wie eine körperlose?

    Wird Einiges vom Leben, Bewusstsein und Gesellschaft notwendig verborgen bleiben?

    Welches Diagramm lässt unsere Vorstellungskraft verstehen?

    Taucht das Bewusste nur im Gehirn eines selbst regulierenden Organismus auf?

    Ist Unsterblichkeit wünschenswert?

    Geduldig schüttelte ich den Kopf, bis ich meine Frage anbrachte: Wann arbeiten wir darauf hin, Fragestellungen erkenntnislogisch zu verbessern, bevor wir antworten? Die ehrwürdige alte Wanduhr gegenüber lief absolut gleichmäßig, die Spitzenforscher rückten die Stühle und forderten ein Beispiel. Ich stellte die letzte Frage in die Runde, auf die keiner antwortete:

    Ist die Zahl der maßgeblichen Fragen, um an den Rand der Insel des Wissens zu gelangen, nun endlich oder unendlich? Zu gerne hätte ich noch gefragt, ob die Spitzenforscher ihre Ideen allein auf einer Insel des eigenen Gehirns bekommen oder nur, wenn sie von einer zur anderen Insel mehrerer Gehirne rudern.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß