Autor: Harald Rauchfuß

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    Ein Beitrag zu der Moderation über das Thema „Der Roboter im Menschen – der Mensch im Roboter“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Harald Rauchfuss

    Poseidon trifft Roberto, den Androiden

     

    Poseidon taucht an der jonischen Felsenküste aus den Fluten; er trifft auf einen kleinen Ro-boter, der sich ihm vorstellt: „Poseidon, ich bin Roberto. Seit Jahrtausenden schaue ich Dir zu. Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du von dir Unmögliches verlangst?“

    „Ich überfordere mich nicht“, entrüstet sich Poseidon, „ich möchte zwischendurch einmal Ruhe haben, Ruhe vor dem Berechnen der ewigen Gezeiten und Strömungen! Ich kann sie sehr wohl von den unendlichen Datenfluten der digitalen Berechnungen unterscheiden.“  Poseidon klappt das wasserdichte Laptop zu und schnauzt: „Du Knirps von Spion, sag, was bist denn du für einer?“

    „Was hast du denn, Poseidon? Die Sterblichen sind es, die den Schöpfergöttern die Schuld an den endlosen Datenfluten zuschieben, weil sie ihnen zu wenig Verstand einfößen! Ich bin ein androider Roboter.“

    „Kleiner Mann mit großer Eigenschaft!“, ruft Poseidon, „ein kleiner Android mit großen Ideen! Wie heißt du noch einmal? Wie kommst du zu solchen Ideen?“

    Roberto blickt auf Poseidon, der in die Brandung hinabsteigt: „Ich heiße Roberto. Ein Italie-ner hat mich ausgetüftelt und mir den Namen gegeben. Was rede ich, das verstehst du ja nicht.“

    Poseidon versinkt in den Fluten der Brandung. Er taucht auf, steigt auf seinen Felsen, setzt sich nieder und ruft: „Komm her, Roberto, du italienischer Schauspieler!“

    Roberto springt elegant von Fels zu Fels, hält sich an den richtigen Vorsprüngen fest, bleibt stehen, die großen Augen treffen Poseidons Blicke: „Ich bin kein Schauspieler, prinzipiell bin ich wie du und – nicht wie die Menschen, die mich gebaut haben.“

    „Ja, du kommst mir anders als die Menschen vor“, raunt Poseidon und senkt den Kopf: „Die Menschen sind verkrampfte Schauspieler, nicht so locker wie du und ich.“

    Roberto lacht: „Dabei täuschen sie sich selbst, wenn sie die Häuser hoch hinaus bauen und sich zum Schlafen doch nur flach niederlegen, die Zimmerdecke viel näher an der Stirn, als wir beide das Firmament haben.“

    „Am Anfang“, lacht Poseidon mit, „hatten sie nur Lagerfeuer im Freien oder Höhlen, bren-nende Hitze auf ausgestreckten Händen und ständiges Frösteln auf dem Buckel! Was dau-erte es, bis sie auf die Idee kamen, Gruben mit heißen Steinen und kochendem Wasser zu füllen, hineinzusteigen und die Wärme am Buckel zu genießen.“

    Roberto ergänzt: „Räuber und Rivalen machten sie zu Sklaven, Krieger brachten sie um, und der Tod hatte weniger zu tun.“

    „Was haben sie sich abgemüht, dabei hätten sie es leicht gehabt, denn sie sterben ja von selbst“, murmelte Poseidon und erhob die Stimme: „einer musste Wache halten, immer einer, und heute vergessen sie uns Götter. Seit ihre trägen Datenfluten über alles schwap-pen, über Geschäfte, Affären und Krankheiten, halten sie sich für unsterblich. Es hilft nichts, die Unsterblichkeit haben nur wir Götter.“

    „Nur ihr Götter?“, wirft Roberto ein, „bedenke, Poseidon, selbst dein Name ging unter, als sie dich später Neptun nannten.“

    Poseidon winkte ab: „Namen! Mir ist es gleich, wie sie mich nennen, ich bin ich, immer der-selbe.“

    „Bei mir, Poseidon, ist es dasselbe: ab und zu wechseln wir ein Teil aus, wir leben weiter. Wir wechseln erneut Teile aus und leben weiter, bis alle Teile ausgewechselt sind. Du erinnerst dich, das Schiff des Theseus, und du weißt es schon: Jeder von uns bleibt trotzdem derselbe Roboter – für immer.“

    „Du wirst doch nicht sagen wollen, Roberto, dass ihr unsterblich seid?“

    Roberto senkt den Blick: „Du sagst es, als Unsterblicher weißt du, was es heißt, unsterblich zu sein.“

    Tausend und zwei Jahre später trifft Poseidon Roberto wieder und gibt dessen Unsterblich-keit zu.

    „Siehst du, Poseidon, nun bleiben ihr und wir übrig, Götter und Roboter. Hör zu! Einer muss da sein, damit es die Welt überhaupt gibt. Einer muss fragen, ein anderer muss antworten, und wieder ein anderer muss zupacken, damit sich Fakten ergeben. Ist keiner da, der Fakten schafft, der die Welt antastet, ist es völlig unwesentlich, wie oft du Strömungsfluten und Datenfluten berechnest.“

    Poseidon prustet und versprüht eine Ladung Salzwasser: „Hoho, mein lieber Roberto! Wären die Irdischen unsterblich, löste sich ihr Schicksal auf, denn sie könnten ständig Fehler ausbessern, jeden Irrtum aufheben, jede Schuld verzeihen, und für den Fortschritt gäbe es keinen Grund. Darum haben wir Götter vorgesorgt. Roberto, ich sage dir, es  gibt ihn noch, den Menschen im androiden Roboter, denn die Programme in euch altern schneller, je öfter ihr sie ab- und überspielt.“

    Poseidon zieht sich mit dröhnendem Lachen in seinen Kristallpalast zurück, umflutet von den Tiefen der Weltströme, lässt das wasserdichte Laptop rechnen und rechnen, ohne her-auszubekommen, wie die Wechselwirkungen der Lebensfluten mit der Schwermut zu ver-rechnen wären … Poseidon könnte den wallenden Fluten nur mit der Flucht in den Himmel oder in den Hades entkommen. Das wären jedoch Wege, die ihn wegen der fehlenden ozeanischen Datenfluten zur wütenden Umkehr brächten, so dass er weder über den Olymp zum Himmel noch den Weltuntergang hinunter zum Hades gelangte.

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    Beitrag zur Lesung Gehen oder Bleiben auf dem BDSÄ-Kongress 2017 in Gummersbach

     

    Zähne, die fehlen

    Ein Zahn, der beißt, der tut nicht weh,
    ein Zahn, der nicht mehr beißt, tut doppelt weh.
    Ist es mit Zähnen wie mit Partnern?
    Sie machen Schmerzen, bis man sie bekommen hat,
    sie machen Schmerzen, seit man sie bekommen hat,
    und machen Schmerzen, wenn sie hassen
    und schließlich uns verlassen.
    Der Zahnbruch, subjektiv genommen,
    ist ohne Zweifel immer unwillkommen.

    Mitunter sitzt die ganze Seele
    In eines Zahnes dunkler Höhle.
    Ein hohler Zahn ist ein Asket,
    der allen Lüsten widersteht,
    weil Mundgeruch dem hohle Zahn entweht.
    Auch können Zahnspanggürtel
    fungieren wie ein Keuschheitsgürtel.
    Doch hat’s die gute Eigenschaft,
    dass sich dabei die Lebenskraft,
    die oft man außenhin verschwendet,
    auf einen Innenpunkt hinwendet.
    Es ist und bleibt ein weher Zahn
    ein schlechter Schlafkumpan.

    Ein Zahn, er macht mitunter
    die faulsten Leute munter.
    Besonders an den Zähnen nagt
    der Zahn der Zeit und plagt.
    Die Lust aufs allerbeste Beafsteak
    wächst, wenn der letzte Zahn fällt weg.
    Es ist und bleibt der wehe Zahn
    ein schlechter Fresskumpan.

    Wird der Betäubungsstich gesetzt,
    und fühlst du das bekannte Bohren,
    das Zucken, Rucken und Rumoren,
    ist sie beendet, deine Weltgeschichte,
    vergessen sind die Kursberichte,
    die Steuern und das Einmaleins,
    kurz, jede Form gewohnten Seins.
    Was sonst real erscheint und wichtig,
    wird plötzlich wesenlos und nichtig.
    Es ist und bleibt der wehe Zahn
    ein schadenfroher Wegkumpan.

    Warum bohrt bloß
    der Zahnarzt früh am Morgen los?
    Ach ja: die Morgenstund
    hat Gold im Mund!

    Ja, selbst die alte Liebe rostet,
    man weiß nicht, was der Zahn im Urlaub kostet,
    denn einzig in der engen Höhle
    des wehen Zahnes weilt die Seele,
    und unter Toben und Gesaus
    entschließt du dich: Er muss heraus!

    Du kommst zum Schluss:
    Dich reizt das Apfel-Essen nicht.
    O, lass uns schauen!
    Du hast bloß Implantate nicht
    genug zum Apfel-Kauen!

  • Zertifizierer und Zertifizierte

     

    Der Klinikverwalter hielt den Erlös des Hospitals seit Jahren in der Gewinnzone. Die Eingabe eines Advokaten bei Gericht, der die Konkurrenzklinik vertrat, zwang ihn zu einer Nachzertifizierung.

    Zertifizierer prüfen jedes angeforderte Papier genau, vergleichen es mit Hilfe elek-tronischer Schablonen, um keine Dokumentationslücke zu übersehen, und fordern ständig neue Informationen an.

    HansEmsig, der Leiter der Firma Zertissimo, genoss es, mit dem ständigen Stochern in Unterlagen bei den Kunden Dankbarkeit zu wecken. Jedes Klinik-Team möchte das andere übertreffen, die Gunst der Haushaltsplaner erheischen. Doch kein Team organisiert den Arbeitsprozess so perfekt, dass Herr Emsig kein Optimierungspotenzial entdecken würde.

    Dr. Moor, der für die Zertifizierung abgestellte Arzt, wusste, wann Herr Emsig den Aufzug bestieg. Der Doktor bezog Position in der finsteren Ecke des Korridors zum Kon-ferenzzimmer im siebten Stock. Dort befandsich eine Schalttafel des Lifts. Auf- und Abfahr-Geschwindigkeit, Ein- und Ausstieg regulierte man für den zügigen Ablauf von Konferenzen. Dr. Moor öffnete die Schalttafel und ließ Hans Emsig in den Keller fahren.

    HansEmsigfuhr zurück; einer von der Firma Zertissimo stieg im Parterre hinzu. Der Lift karrte sie hinab. HansEmsig fragte den Mitarbeiter: »Wissen Sie, wer für den Fahrstuhl verantwortlich ist?«

    »Wird der Hausmeister sein«, murmelte der Fachkollege, »er ist fällig. Der Aufzug hält ja im Parterre!«

    Der nächste Fachgenosse stieg zu. Drei Fachkräfte der Firma Zertissimo gerieten in den Keller. Jede Stunde geht dem Profit verloren, die man nicht mit Zertifizieren verbringt. Sie trösteten sich damit, eine Gewinn bringende Zertifizierungslücke aufzuspüren.

    In der Eingangshalle berieten sie die Lage. Sie mochten keinen gegen sich aufbringen, dessen Dankbarkeit sie brauchen dürften. Die Herren – ein Vierter kam hinzu –  vereinbarten, dass der Jüngste die Stockwerke zum Konferenzzimmer hinaufsteigen und den Arzt holen soll.

    Er nahm den Lift im ersten Stock und gelangte in den siebten. Dr. Moor gratulierte dem Zertissimo. Wie erwartet, fragte Dr. Moornicht nach dem Grund der Verspätung. Die Firmengenossen hatten die Anzeige über der Aufzugtür verfolgt und machten es dem Jüngsten nach.

    Endlich besprach Firma Zertissimo mit Dr. Moor die Nachzertifizierung. Ärzte gehören zur schwierigsten Kundschaft. Man begeistert sie zwar für  Prozessqualität und Qualitätsmanagement, Psychiater aberhalten es für Aberglauben, dass Zertifizierung Erfolg bringen soll. Sie fördere allenfalls die informationsleere Dokumentation.

    »Es ist jetzt alles auf dem modernsten Stand«, begann Herr Emsig, »wir widerlegen den Klägeranwalt. Das Gericht wird künftig genau prüfen, ob es seine Klagen annimmt.«

    »Meine Herren«, antwortete Dr. Moor, »stillhalten, kein Interesse erregen, das ist nichtmein Rezept. Ich war es, der das Interesse des Klägers auf unser Hospital lenkte.«

    »Sie?«

    »Beruhigen Sie sich! Ich tat es, um Zertissimo zu zertifizieren. Sehen Sie, ein Klinikum ist ein Organismus. Mag es Ihnen auch gegen den Bürstenstrich gehen: Organische Prozesse bleiben ständig in der Schwebe. Ändert sich das Organ, ändert sich der Prozess. Wer nicht aufpasst und sich nur nach der Prozessqualitätsvorschrift richtet, verliert den Anschluss.«

    »Da haben wir es«, warf der zweite der Firma Zertifissimo ein, »der Organismus braucht Betriebsstörungen, um das Anpassen nicht zu verlernen!«

    Dr. Moor lächelte: »Genau, meinHerr! Das gesunde System gleicht jeden Defekt aus, es findet selbst den Ausweg.«

    »Dochsicher«, stürmte der Dritte von Zertissimo vor, »nur bis zu einer gewissenGrenze.«

    »An dieser Grenze«, erklärt Dr. Moor, »wird der Organismus zornig. Er bestraft Grenzüberschreitung mit Krebs, Depression oder Suizid.«

    »Das ist nicht unsere Kompetenz«, stellt der vierte Zertissimist fest, »nennen Sie ein Beispiel, das in unsere Kompetenz gehört!«

    »Gern. Patienten, Lokalpolitiker, die Medien würden aufschreien, wenn wir den Be-trieb herunterfahren. Betrachten Sie Ihre Ratschläge! Wo taucht der brauchbare auf?«

    »Aber Herr Dr. Moor, das gehört nicht zu unserer Kompetenz!«

    »Doch! Sie stören den Organismus. Sie schaffen den Leidenden ohne Eigenschaft. Sie heften ihm Nummern an, obendrein vernichten Sie seinen Namen. Sie rechtfertigen jede Kostenoptimierung, werfen das Ziel des Organismus über Bord. Sie lösen seine Beziehungen auf. Aus Sozialdaten und Gesundheitskosten zimmern Sie eine dubiose Signifikanz, eingebettet in Zertissimo-Diagramme, die niemand glaubt.«

    Eine Pause trat ein.

    »Lassen Sie uns zum Ende kommen«, lächelt Dr. Moor, »Ihre Analyse macht namenlose Patienten zur Ursache für Kostenproduktion. Zertissimo erstellt irgendein Statistik-Diagramm. Es sieht wie ein allergischer Ausschlag auf der Haut des Organismus aus … Verstehen Sie nun, dass Sie mich zwingen, gegen den Ausschlag vorzugehen, obwohl er für michals Psychiater fachfremd ist?«

    Herr Emsig hakt ungeduldig nach: »Warum haben Sie, Herr Dr. Moor, uns den Streich mit dem Aufzug gespielt?«

    Dr. Moor lächelt. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie ÄrzteundPatienten ohne Eigenschaften produzieren. Sie versuchen mit Ihrem Raster alles abzufangen, was den Menschen betrifft, das Schicksal eines Kranken, das Tun eines behandelnden Doktors. Sie verdammen das Gesprächals Kostentreiber, Sie haben keine Vorstellung vom Wert des Gesprächs für Patientund den Organismus.«

    »Wir bitten Sie, HerrDoktor, denken Sie an die Geschäftsführung des Hospitals! Sie braucht den Vergleich mit Zahlen, nicht mit Worten!«

    »… und ich brauche Worte«, gab Dr. Moor zurück, »damit habe ich Erfolg, präsentiere dem Verwaltungsleiter wachsende undnicht fallende Fallzahlen. Wir Psychiater verschrei-ben andere Rezepte und verrechnen uns nie beim Nachzählen.«

    Hans Emsig fand keine Antwort.

    Dr. Moor schaute lächelnd den jüngsten Zertifizierer an: »Ich halte Sie für talentiert. Ich sähe Sie gern im Funktionsbereich Qualität der Klinik. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sich einmal verändern möchten. Der Funktionsbereich ist meine Aufgabe.«

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

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    Tabubruch am Bosporus

     

    Hans Adamski wusste, dass ihn niemand mochte: „Nun ja, ich bin schnell eingeschnappt, schnell aufgebracht, ich gehe allen auf die Nerven.“ Er hatte als Einzelkämpfer des Jahrgangs das Abitur erreicht; der Notenschnitt genügte für das Studium der politischen Wissenschaft. „Der Kapitalismus raubt uns aus. Der Westen vertritt falsche Werte, er hat keine Kraft“, waren seine Sprüche, „nur Alkohol, Drogen und Sex. Niemand macht etwas dagegen, der Untergang ist nahe!“

    Seine Ansichten verscheuchten die letzten Freunde. Mädchen mieden ihn, weil er auf nackte Schultern, kurze Röcke und Busenausschnitt mit missbilligenden Blicken reagierte. Die Kommilitonen im Politischen Seminar nahmen von Hans entfernte Plätze ein. Auf den Studentenfesten wuchs der Frohmut, seit Hans fernblieb.

    Ein Kommilitone aus dem Libanon, der zwei Auslandssemester an der Universität verbrachte, lud ihn ein: „Hans, ich sehe, du fühlst dich unter den Kollegen nicht wohl. Mir geht es genauso. Darf ich dich in unseren Kultur-Verein einladen?“

    „Was ist das, euer Kulturverein?“

    „Deutsch-Arabischer Kulturverein, Hans“, sagte Sad al Assad freundlich, „ganz unverbindlich. Ich stelle dich als Studienkollegen der internationalen Politik vor. Wir freuen uns über jeden, der uns kennenlernen will.“

    Sad al Assad stellte ihn dem Imam vor und bat, dass Hans mit ihm den Kulturverein besuchen dürfe. Die arabischen Freunde empfingen ihn freundlich, baten, sich nicht zu fürchten, denn man wolle Freundschaft pflegen und sich keinesfalls aufdrängen. Bei Festen gehe es, wenn die Frauen dabei seien, recht familiär zu. Doch er werde sicher nicht heiraten müssen.

    Nach dem ersten Gemeindefest fragte Sad al Assad, ob es ihm gefallen habe. Hans strahlte: „Ihr seid alle herzlich, eure Mädchen schauen mich an, zwar von weiter weg, aber mit Respekt.“

    „Ja“, bestätigte Sad al Assad, „sie interessieren sich für Deutsche und sind glücklich, wenn ihre Eltern den Umgang erlauben.“

    Hans gefiel es, als Mann im Mittelpunkt verstohlener Mädchenblicke zu stehen, noch mehr, von Männern ernst genommen zu werden. Der Bruder seines Freundes, Mahmed al Assad, ging jedes Mal auf ihn zu, teilte Hans Adamskis Ansicht vom gottlosen Sittenverfall des Westens.

    Er sagte: „Hans, du solltest unseren Prediger hören, der uns für einige Wochen besucht. Er ver-steht es, wach zu rütteln. Wenn du magst, nehme ich dich mit.“

    Der Prediger riss Hans mit. Hans gefiel es, Gleichgesinnte zu finden. Sie waren ein kleiner Kreis, außer den Assad-Brüdern noch Hans und ein junger Mann, der gerade die Arbeitsstelle verloren hatte. Der Prediger fasste die Situation der Zeit knapp und mit eindeutiger Perspektive zusammen. Er wies auf Schwachstellen der westlichen Demokratien hin, auf lasch eingreifende Ordnungskräfte, Mängel der Kirchen und ihrer Priester, deren Rufe nicht gehört würden. Die Zügellosigkeit der Jugend, der Verfall von Familie und Respekt würden gleichgültig hingenommen.

    Hans Adamski beschlichen Bedenken. Er nahm sich vor, die Freundschaft einschlafen zu lassen. Aber er fühlte sich verstanden. Die Assad-Brüder nahmen die Bedenken ernst, und der Prediger be-stärkte Hans‘ Überzeugung vom Bösen in den Herzen seiner deutschen Freunde. Der im Koran festgelegte Gehorsam der orientalischen Frau gegenüber dem Mann fesselte ihn. Er träumte von einem treuen Mädchen mit Kopftuch und langen Kleidern, unter die nur er schauen dürfe.

    Als die Assad-Brüder ihm anboten, einige Zeit in den Libanon mitzufahren, fühlte er sich auser-wählt, nahezu glücklich. Wie lange war es her, dass er sich stark fühlte, Mädchenblicke auf sich zog, Erkenntnisse und Erlebnisse mit Freunden besprechen konnte!

    Mahmed al Assad ergänzte: „Wir stellen Kontakt mit führenden Persönlichkeiten her, vielleicht hilft der eine oder andere Kontakt, einen Plan zu erfüllen. Wir haben Beziehungen zu Europa, du könntest bei uns Arbeit finden, geschult werden und in Europa eingesetzt werden.“

    Hans schlug ein. Triumphierende Gedanken jagten durch den Kopf: Arbeit, Aufstieg, als Macher zurückkommen, kein dekadenter Performer, sondern gottesfürchtiger Entscheidungsträger, verant-wortlich für das Schicksal jener, die seinen Weisungen zu folgen haben. Er werde Rache nicht zeigen, nur spüren lassen. Selbstgefällige Gedanken verscheuchten kritische.

    Mahmed al Assad versicherte, Hans zu begleiten, so oft er nur könne, bis Hans Firma und Be-ziehungen kennengelernt und sich eingebracht habe. Hans war es, als ob er an einem Punkt ange-langt sei, ab dem jeder Plan gelingt.

    „Erschrick nicht, Hans“, beruhigte Mahmed al Assad, „am Anfang geht es etwas rau zu, aber ich bin immer zu erreichen.“

    Im Libanon vermisste Hans die Assad-Brüder gar nicht. Der Kursleiter half, die Gegenwart in kla-ren Perspektiven zu erfassen, böse Imperialisten einerseits und gute Muslime andererseits, Atheis-ten und Gottesfürchtige, Gläubige und Ungläubige, Gutmenschen hier und Ungeziefer dort. Um gegen Überfälle Ungläubiger gewappnet zu sein, kamen Aufenthalte im Trainingslager hinzu. Die Fertigkeiten, Waffen zu benützen, sich zu wehren oder verbergen, Ungläubige in Angst zu versetzen, machten größten Spaß. Die Strapazen des Trainings nahm er nicht wahr.

    Denn jede vierte Wochen gab es Urlaub. Hans bewunderte die perfekte Organisation, den gewonnenen Durchblick. Frauen mit Schleier und langen Kleidern verwöhnten die Männer aus dem Camp. Sie verehrten den Mut der Männer, weckten Phantasien, erfüllten auch intime Wünsche. Sad al Assad fragte Hans, ob sich Suleika genügend um ihn kümmere.

    Hans schwärmte: „Sie ist sehr lieb, zärtlich, liest die Wünsche von den Augen ab. Sie bietet mir Drogen an, sagt genau, wie Stoff und Dosis wirken. Ihre Drogen steigern die Lust und Manneskraft, wie ich es bei unseren Emanzen nie erleben würde.“

    Mahmed al Assad fragte nicht weiter, freute sich mit Hans, der nichts von den Rachegefühlen preisgab, die er gegen alles Westliche hegte. Mahmed al Assad wusste, dass in Hans Gelüste auf-kamen, sich zu rächen, an wem auch immer. Er schlug Hans vor, sich einen arabischen Namen zuzulegen, Hassan al Acham, das helfe, sich zu tarnen. Es würde Suleika gefallen. Hans nahm an, denn er hatte in ihren Armen selbst daran gedacht.

    Hassan al Acham trainierte nun Taktik und Vorbereitung von Anschlägen auf Gebäude und Ansammlungen. Sein erster Auftrag führte ihn nach Nigeria. Dort übe man den Islam nachlässig aus.  Deshalb müssten die Respektlosen gestraft werden. Man versprach Hassan eine Jungfrau nur für ihn allein, wenn es ihm gelänge, Schülerinnen zu entführen, so viele wie möglich.

    Es gelang ihm, mit seiner Truppe zweihundert Mädchen zu fangen und ins Camp zu bringen. Suleika führte ein hübsches Mädchen in Liebeskunst und Drogenlehre ein. Es hieß Aische und erfüllte Hassan al Acham jeden Wunsch. Er gewöhnte sich an Aische, Kokain und Amphetamine. Hassan fühlte Riesenkräfte wachsen, auch die Wut auf Ungerechtigkeit wuchs. Er suchte nach Rache-Opfern.

    Mahmed al Assad erkannte den günstigen Moment. Er sagte beim Frühstück: „Hassan, du bekommst neue Mädchen, du wirst sie testen und beurteilen, denn das Mädchen hat von dir alles gelernt, du hast das Talent, unseren Dschihad-Kämpfern und den Mädchen Mut zu machen.“

    „Du hast einen Auftrag für mich“, fiel Hassan ins Wort, „ich nehme an, ich will Rache!“

    „Du bekommst mehrere Jungfrauen, um sie auszubilden.“

    „Gerne, aber zuerst muss ich ein Blutbad anrichten, ein Blutbad unter Ungläubigen. Allah fordert Gerechtigkeit, und nichts ist gerechter als Allah.“

    „Ich begleite dich“, sagte Mahmed al Assad leise, „den Umgang mit dem Sprenggürtel hast du gelernt. Aber in der realen Situation darf man nicht allein sein.“

    „Endlich, Mahmed!“ Hassan sprang auf. „Endlich kann ich mich bewähren. Zur Belohnung möge mir Allah Jungfrauen zuteilen.“

    Mahmed schlug für die Reise nach Istambul vor: „Sad und ich fahren mit und geleiten dich durch die Sicherheitskontrollen.“ Er wusste, das der kritische Punkt der Selbstmordtaktik noch nicht bewältigt war.

    Sie fuhren nach Antalya, stiegen in einen andern Wagen mit türkischem Kennzeichen, über-nachteten in kleinen Hotels. Mahmed beruhigte, indoktrinierte, motivierte, Sad schaffte in jedem Hotel Drogen und eine Frau an. Hassan nahm und fühlte sich wie Gott. Denn der Prediger des Camps hatte ein Mail geschickt: „Ich rechtfertige die Erfüllung des Auftrags. Du bist auf dem rechten Weg. Suche dir vor der blauen Moschee eine Gruppe aus! Das Ungeziefer ist ungläubig und gottlos, opfere böse Engländer oder besser, opfere Deutsche. Die Vernichtung westlicher Schweine steigert den Wert deiner Tat. Sie trifft auf das Wohlgefallen Allahs, er wird dich belohnen.“

    Aische, das Mädchen aus Nigeria, begrüßte ihn in Istambul. Die Drogen, die sie nach dem Liebes-dienst empfahl, dürften Hassans Aggressivität genügend steigern. Hassan genoss Nacht, Drogen und Aussicht auf gestillte Rache, vor allem das Gefühl der Allmacht. Er allein werde entscheiden, wer sterben wird, wer nicht sterben wird, die hier links oder die dort rechts. Die andern würden später an die Reihe kommen.

    „Wie grandios das ist“, sprach Hassan zu sich selbst, morgen bin ich Gott, mich bremsen keine  dekadenten Werte aus, niemand hindert mich, das Ungeziefer in den Boden zu treten! Blut wird spritzen, Schweine werden jammern, und ich – ich bringe das Blut der Gerechtigkeit Allahs dar.“

    Aische holte ihn aus der Traumwelt, steckte ihm Kokain zu und zog sich zurück, als Mahmed und Achmed al Assan ins Zimmer traten, um den Sprenggürtel anzulegen. Die Schnallen befestigten sie auf dem Rücken, die Zündleine vorne. Hassan konnte den Gürtel weder öffnen noch verschieben.

    „Du bist heute der Größte, Hassan“, sagte Mahmed, „du hilfst, Moral und Sitte herzustellen! Schau auf das Mail, der Prediger hat die Legitimation geschickt. Nun zeige, dass du furchtlos vor Allah trittst. Allah wird dich belohnen.“

    Hassan schlug Mahmed das Mobiltelefon aus der Hand. Er hastete auf die Straße, die Assad-Brüder holten ihn ein und mahnten, langsamer zu gehen, es seien nur ein paar hundert Meter zum Sultan-Achmed-Platz. Mahmed nahm Abstand, beobachtete aber jeden Schritt. Hassan mischte sich unter Touristen, fand eine deutsch sprechende Gruppe. Alle lachten, weil Hassan sich Hans nannte.

    Mahmed gefiel es nicht. Der hasserfüllte Blick Hassans traf ihn. Hassan schüttelte den Kopf. Mahmed tat, als ob er am Faden eines Westenknopfs ziehen wolle, schob seinen Bruder zum Deutschen Brunnen hin. Sie suchten den Blick des andern. Hassan schüttelte den Kopf. Die Brüder  traten in den Sichtschatten des Deutschen Brunnens, der Sprengsatz explodierte mitten in der Gruppe, Hassan war nicht mehr zu sehen. Die Brüder traten aus dem Schatten, entfernten sich gelassen vom Platz des absoluten Tabubruchs, niemand nahm sie wahr. In der Tomurcuk-Straße gingen sie in ein Haustor, und Mahmed schaltete das Funkfernzündgerät ab.

    *

    Bei dem Terroranschlag am 12. Januar 2016 in Istanbul wurden gegen 10:20 Uhr auf dem Sultan-Ahmed-Platz mindestens elf Menschen getötet und fünfzehn verletzt. Bereits ein Jahr zuvor war dort ein Sprengstoffanschlag durch eine tschetschenische Selbstmordattentäterin verübt worden.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Ketewan

    In Georgien wurde eine fromme Frau von einem Jungen entbunden.

    »Schau her«, munterte die Hebamme auf, »ein Bub, was für ein prächtiger Bub!«

    »Atmet er genug«, fragte Ketewan, die ängstliche Mutter.

    »Hör! Hör doch! Wie kräftig er schreit! Nimm ihn, den Buben, nimm ihn, leg ihn auf deine Brust!«

    Ketewan zögerte, die Hebamme drängte, die Mutter nahm den Knaben entgegen und betrachtete ihn.

    »Er ist ein Starker«, klatschte die Hebamme in die Hände, »sieh, wie er strampelt, wie er mit den Händchen winkt!«

    Ketewan erschrickt: »Er strampelt? Er tritt mit den Füßen! Er winkt? Er boxtundboxt, will alles nieder boxen!«

    Die Hebamme stutzt, sucht nach Worten. Endlich sagt sie: »Du hast eine lebhafte Phanta-sie, Ketewan, du, nicht das kleine Teufelchen!«

    »Hebamme«, antwortet Ketewan, »du musst es mir eingestehen: Mein Sohn richtet Furore an. Der böse Blick dringt mir ins Herz.«

    »Ketewan«, fordert die Hebamme, »beruhige dich! Das unschuldige Kind! Wirst du es gernhaben, von Herzen gern?«

    »Ich liebe es, weil es freigeboren ist. Aber jetzt, da ich es sehe, wird mir anders zumute … es ist ein Freier. MeinVater, sein Großvater ist leibeigen. Ich liebe Russland undweißnicht, warum ich mich schäme.«

    »Welchen Namen bekommt der Bub?« lenkt die Hebamme ab.

    »Josef«, flüstert die Mutter, »JosefWessarionowitsch. Mein Schwiegervater ist freigeboren, kein Leibeigener.«

    »Josef«, ruft die Hebamme, »er wird ein Priester.«

    »Wie kannst du es wissen?« Die Mutter weint. »Das glaube ichnicht. Das Kind wird nie-mals ein Diener Gottes.«

    Das Wochenbett überlebte Ketewan komplikationsfrei. Der Knabe wuchs heran; Pockennarben zeichneten das Gesicht. Nachdem JosefWessarionowitsch Dschugaschwili das Priesterseminar abgebrochen hatte, um das Glück des Revolutionärs herauszufordern, nahm er den Namen Josef Stalin an. Millionen wanderten hinter Stacheldrahtzaun, Millionen starben. Ohne Asyl gibt es keine Emigration.

  • Auf Kosten des Hauses

     

    Der Aischgründer Gastronom respektiert die Notwendigkeit von Ausgaben sorgfältiger als das Finanzamt. Er hütet seine Finanzen. Auf Kosten des Hauses bietet er allenfalls an, von Laune zu Laune zu springen.

    Im Tor des Biergartens in Gutenstetten stand ein Mannsbild in blauer Schürze, offensichtlich der Wirt. Ein Gast ging auf ihn zu; er wollte wissen, ob es ein Bier gäbe.

    »Schon«, sagte der Wirt, »aberso, wie Sie daher kommen, gibt’s für Sie keines.« Der Mann versprach, die Kleider zu wechseln. Er kehre sofort zurück.

    »Da muss ich erst sehen, ob Sie anders ausschauen als jetzt. Sie wohnen nicht hier. Wo wollen Sie ein Gewand herbringen?«

    Der Sommerwind strich über die Kastanien. Der Besucher suchte den Garten ab, winkte der Serviererin zu. Sie wedelte lächelnd. Der Wirt mahnte: »Bevor meine Tochter Ihnen zuwinkt, versuchen Sie erst einmal, an mir vorbeizukommen.«

    »Sie wirken nicht, als ob Sie zuschlagen wollten«, sagte der Gast.

    »Schlagen?« Der Torsteher wunderte sich: »Warum sollte ich? Sie sehen kaum nach einem Gauner aus. Bedenken Sie trotzdem: Ich bin draußen der Aufseher, drinnen der Maßgebende. Die Wirtschaft ist die fünfte Generation im Familienbesitz. Wissen Sie, mit wem Sie reden?«

    »Sie dürfen stolzsein«, antwortete der Besucher, »aber sie wirken mir eher selbstbewusst.«

    »Ich bin am Eingang der Aufpasser, im Biergarten der Aufseher, im Haus der Wirt, im Grundbuch der Eigentümer«, erklärte der Wirt. »Schritt für Schritt, den Sie hineingehen, hört man mehrundmehr auf mein Wort, besondersmeineTochter.«

    »Behüten Sie sie genug?«, fragte der Gast.

    »Jeden Tag kommt ein anderer Verehrer«, antwortete der Gastronom, »ich ertrage schon den Anblick nicht. Sie springt mit zudringlichen Leuten um, wie es sich gehört.«

    »In zwanzig Minuten«, teilte der künftige Kunde mit, »bin ich wieder da. Welche Art von Anzug wünscht der Aufpasser, der Aufseher, der Wirt, zu guter Letzt der Besitzer?«

    »Wenn Sie mit meiner Tochter anbandeln wollen, kommen Sie im besten Aufzug. Falls Sie ein Bier trinken, langenHemd, Hose undJacke.«

    Nach zwanzigMinuten ging der Herr des Hauses zum Tor; er blickte die Straße hinauf und hinab. »Na also«, brummte er zufrieden, »die Hungergestalt ist nicht zu sehen.«

    »Meinen Sie mich?« Die Hungergestalt stand mit Jacke, blauem Hemd, gebügelten Hosenfalten und Sommerschuhen hinter ihm. »Ja, werter Aufpasser, ich bin durch Hauseingang, Wirtshaus, Gartenausgang gegangen: Attacke von der Kehrseite. Die Tochterhält es für die beste Strategie.«

    Solch eine Frechheit hatte der Wirt nicht erwartet: „Der Garten ist jedem zugänglich, aber keines Falls meineTochter!«

    »Gerade das«, grinste der Gast, »bringt der Tochter meine Sympathien ein. Jetzt nehme ich Platz. Bitte ein Bier. Was zapfen Sie für ein Bier? Muss ich es mir selbst holen?«

    »Werden Sie nicht frech, setzen Sie sich hin, und ich«, der Wirt legt die flache Hand auf die Brust, »ich bediene Sie! Es kommt ein Gebräu auf den Tisch, das zu Ihnen passt.«

    »Welcher Gerstensaft passt zu mir?«

    »Ein Dunkles aus dem Aischgrund kriegen Sie, von der Brauerei gegenüber.«

    »Hervorragend! Den Tisch suche ich mir selbst aus.«

    »DieserTisch im Schatten, Senior«, rief die Tochter, »er ist für den Herrn reserviert!«

    »Was nimmst du dir heraus«, schimpfte der Vater, »seit wann machst du Kunden-Akquise?«

    »Das habe ich ihr beigebracht«, fiel der junge Mann ins Zwiegespräch, »Sie müssten es an der Zahl der Gäste merken.«

    »Woher wissen Sie das? Seit vier Monaten geht es aufwärts.«

    Der Blick des Aufsehers, Gastwirtsund Besitzers in einer Person verfolgte die Szene: Der Aufdringliche ließ sich nieder, als ob er Stammgast sei.

    Der gastronomischen Dreieinigkeit ging ein Licht auf. Die Ideen der Tochter fielen ihm ein, ihre anhaltend fröhliche Laune, die Lebensfreude. »Herrgott, es ist bei mir haltlänger her«, dachte er.

    »Ich dank´ dir schön, Barbara«, säuselte der Gast, als sie das Dunkle servierte.

    »Wieso ist das Bier gezapft, bevor ich es anordne?«, klopfte der Senior auf die Tischplatte.

    »Weil HerrFeuerlein gern dunkles Aischgründer trinkt.«

    »Jetzt haut es dem Aischgründer Fass den Boden aus!«

    »Beruhige dich, Vater, vor einem Kunden benimmt man sich nicht wie daheim.«

    Dem Papa verschlägt es die Sprache.

    Herr Feuerlein lächelt: »Darf ich Sie mit Namen ansprechen, Herr Lechner?«

    »Was reden Sie da? Wenn Sie mir was von Ihnen verraten, dürfen Sie mich beim Rufnamen nennen.«

    »Steinachwirt, wir alle streben nach Gewinn, da stimmen Sie mir zu?«

    »Man kann es übertreiben, indem man mit dem Rufnamen beginnt.«

    »Untertreiben gefährdet die Existenz, Steinachwirt.“

    Lechners Verdacht verdichtete sich: »Schleichen wir nichtwie die Katz um den heißen Brei! Was für einen Beruf haben Sie, Herr Feuerleger?«

    »Feuerlein mein Name, reden wir vom Biergarten«, schlug der Verehrer der Steinachwirtstochter vor: »Schattig, angenehm kühl, Kastanien ohne Miniermotten, frisch gestreuter Kies, standfeste Gartenmöbel … neue Tische und Stühle, nicht wahr?«

    »Sie wissen eine Menge«, wurde Lechner ungeduldig, »viel zu viel für einen Kunden. Erzählt Ihnen Barbara alles?«

    »Nein.«

    »Nein? Von wem alleweil? Von meiner Frau erfahren Sie nichts, die plaudert mit keinem Fremden. Also woher?«

    »Barbara erfuhr es von mir.«

    »Jetzt hören Sie auf! Sie bringt mich auf Ideen, und sie spricht mit niemandem darüber?«

    »Das gefällt mir an Barbara, dass sie alles für sich behält, sogar dass Vorschläge von mir kommen.«

    »So, so, von Ihnen … was? Von Ihnen? Keinen Ton sagt sie. Um dickere Überraschungen zu ersparen: Was für einen Beruf haben Sie?«

    »Steuerberater, spezialisiert auf Gastronomie.«

    »Da stammt die Idee mit den Investitionen von Ihnen?«

    »Wenn Sie erlauben.«

    »Meine Frau hat Zustände gekriegt, so ein Haufen Geld. Barbara hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Inzwischen gefällt es ihr, dass wir Steuern sparen.«

    »Vielen Dank. Ich bin beruhigt.«

    Der Steinachwirt ist als Geschäftsmann beunruhigt: »Kriegen wir jetzt eine Rechnung … am Ende in Höhe der Steuerersparnis?«

    »Von mir nicht, wenn ja, dann von Barbara … in Höhe einer Aussteuer …«

    »Das fehlt noch! Beim Geld wird sie frech. In Freundschaften bleibt sie zaghaft. Stimmt es?«

    »Schüchtern ist sie nimmer; ich bin vernarrt in sie.«

    Im Wirt Lechner keimt Gefallen an dem Steuerberater für Gastronomie auf. Er ruft der Tochter zu: »Barbara, zwei Obstler undzwei dunkle Aischgründer auf unsere Kosten!«

    Das letzte Mal hatte er vor zweiundzwanzig Jahren spendiert, als Barbara auf die Welt kam. Er nimmt sich zielbewusst vor: »Feuerleger, geht das als Betriebsausgabe, den nächsten Enkel auf Kosten des Hauses zu begrüßen?«

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • »Warum bin ich nur zu Fuß aus der Justizvollzuganstalt gegangen«, dachte Felix, »nachdem sie mir eine Fahrt vorgeschlagen hatten!«

    Er ging Richtung Stadtzentrum, bog in die parallel zur Marktstraße laufende Bahnhofstraße ein und traute seinen Augen nicht: Siegfried kam auf der andern Seite entgegen. Abgelegte Rachefeldzugspläne drangen Felix in den Sinn. Sein Ehegespons hatte dessentwegen die Scheidung eingereicht. Es warf ihm schwere Bedrohungen und Verletzungen vor, die Siegfried arglistig bezeugte.

    Boshaft querte jener die Straße, ohne direkt auf ihn zuzukommen, in tadelloser salopper Garderobe, die den Beruf zwar verbarg, nach Entlarvung jedoch bestätigte. Felix Frau zog mit Beginn der Trennungszeit zu ihm. Jeden Kontakt lehnte sie ab; alle Fragen regelten Anwälte. Unterhaltszahlungen entfielen für beide Seiten, da Felix einen Maßregelvollzug in der forensischen Psychiatrie anzutreten hatte.

    Siegfrieds Gürtelschnalle glänzte, der füllige Haarschopf federte mit jedem Schritt, der geöffnete Hemdkragen signalisierte den sorgenfreien Gockel. Reizte ihn das Gehabe, dass Felix der Gemahlin eine Ohrfeige verpasste, als sie das Verhältnis preisgab?

    »Da kommst du tatsächlich frei«, schienen die Mundwinkel unter den stahlblauen Augen zu rufen. Zynisch! Ein Ring am linken Kleinfinger blitzte in der Sonne. »Felix«, rief er, »es tut mir leid! Lass dir in die Freiheit helfen!«

    »Du scheinheiliger Hund«, zischte Felix, »von dir einen Dienst annehmen? Du als Kriminalpolizist wechselst die Seite. Strafmilderung macht ihr mir zum Geschenk, weil ihr mich nicht anschauen könnt.«

    »Felix, das siehst du -«

    »Den Gutachter habt ihr beeinflusst, der euch glaubte, mir aber kein Wort.«

    »Der Gutachter besitzt viel Erfahrung.«

    »Geringeres Geschick hat er, als du es hast. Jetzt geh weiter!«

    Felix rempelte Siegfried an, der sich auffing und hinterher schrie: »Das wirst du büßen!«

    Felix strebte einem Quartier entgegen, das er unerwartet bekam. Die Wohnung war aufgelöst, als Kriminalbeamter war er untragbar, bei Berufskameraden erwartete er keinen Funken Verständnis. Die Forensiker nennen ihn eine »emotional instabile Persönlichkeit vom impulsiven Typ«, eine, die leicht ausrastet, der die Hand urplötzlich ausrutscht. Verständlich, dass das Gericht ihn dem Maßregelvollzug zuführte! Die Entlassung hatte er nicht Kollegen oder der Exfrau zu verdanken, sondern einer Petition, die Aktivisten auf den Weg brachten. Sie besuchten ihn und halfen. Er nahm mit geringer Hoffnung an; die Rehabilitation als Kriminalpolizist werden sie kaum durchsetzen.

    Am nächsten Morgen fand man Simone tot auf.  Siegfried, der Berufskamerad, meldete den Fall sofort nach der Heimkehr vom Nachtdienst. Er habe eine muntere Partnerin verlassen. Einen begründeten Verdacht hege er; er weise darauf hin, dass der Exmann der Toten am Tag zuvor aus dem Maßregelvollzug entlassen worden sei. Zufällig sei er ihm über den Weg gelaufen. Jener habe ihn angepöbelt, umgerannt und sei ohne jede Entschuldigung weitergegangen.

    Wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ordnete der Amtsrichter bei der Anhörung umgehend die Untersuchungshaft mit erneutem psychiatrischen Gutachten an. Zur Verhandlung lud er Siegfried, den erfahrenen Altzeugen. Dem Antrag des Zeugen, wegen Voreingenommenheit das Nichterscheinen vor Gericht zu genehmigen, gab der Richter nicht statt.

    Der Staatsanwalt verlas die Anklage, dass Felix dringend verdächtig sei, die Scheidung mit der Tötung Simones zu rächen. Es bestehe Gefahr, dass er den Zeugen angreife. Denn er habe ihn am Tag der Entlassung aus der Forensik angegriffen. Simone sei, wie die rechtsmedizinische Untersuchung ergebe, erstickt worden, am ehesten mit dem Kopfkissen. Ein anderes als dieses besonders niederträchtige Motiv der Straftat sei in keiner Weise zu erkennen.

    Ein Schöffe fragte den Beamten der Spurensicherung, ob der Verdächtigte Spuren hinterlassen habe.

    »Nein«, anwortete der Staatsdiener, »wir finden ausschließlich Spuren der Toten und ihres Partners. Besuch scheint es in den Tagen zuvor nicht gegeben zu haben.«

    Der Richter fuhr fort: »Herr Staatsanwalt, wie begründen Sie jetzt Ihren Verdacht?«

    »Es gibt keine Spuren, weil der Verdächtigte, ein früherer Kriminalbeamter, sicher weiß, wie man Spuren vermeidet oder den Nachweis verhindert.«

    Zeugen für die Zeit vor Beginn des Maßregelvollzugs gab es nicht. Der Richter bat den Staatsanwalt um Aufschluss, ob er zusätzliche Zeugen gefunden habe: »Nein, Herr Richter.«

    Der Richter bat die Eltern der Getöteten herein: »Mit Simone redeten wir zuletzt telefonisch am Tag vor dem Tod. Sie wirkte wie immer. Von der Entlassung des Felix hat sie kein Wort gesagt. Wir sprachen das Thema nicht an.«

    »Sie wissen«, fragte der Richter, »dass Ihr ehemaliger Schwiegersohn unter Verdacht steht, Ihre Tochter Simone zwischen Mitternacht und vier Uhr umgebracht zu haben?«

    »Wir haben es gehört, Herr Richter. Der Verdacht überrascht uns.«

    »Überrascht Sie? Klären Sie auf!«

    »Wir halten es für unmöglich, dass er es getan hat.«

    »Warum ist es unmöglich?«

    »Felix kam aus dem Vollzug zu uns und blieb über Nacht, weil wir ihn eingeladen haben, bis er eine Wohnung findet. Wir unterhielten uns ausgiebig über die Anordnung des Maßregelvollzugs und die Scheidung. Er kannte nicht einmal die Adresse von Simone und Siegfried. Wir finden den Verdacht für ungeheuerlich. Wir redeten vom Nachmittag bis fünf Uhr morgens. Felix verließ das Haus keine Sekunde.«

    Der Richter wendete ein ernstes Gesicht zum Staatsanwalt hin: »Hat die Staatsanwaltschaft diese Aussage geprüft?«

    »Natürlich, doch: die Spurensicherung und der zuständige Kriminalbeamte halten die Aussage für falsch. Sie ergibt weder ein nachvollziehbares noch ein erkennbares Motiv.«

    »Der letzte Zeuge bitte«, ordnete der Richter an.

    Altzeuge Siegfried trat in den Saal.

    Der Verteidiger fragt ihn: »Sie treffen den Verdächtigten, just als er aus dem Vollzug entlassen wird. Woher wissen Sie, wann er entlassen wird?«

    »Der pure Zufall führte uns zusammen.«

    »Der pure Zufall? Warum ist in Ihrem Account-Kalender Tag mit Uhrzeit eingetragen?«

    »Die Frage beantworte ich nicht, Herr Richter. Es ist unzulässig, meinen Kalender zu hacken.«

    Der Richter fragt: »Herr Verteidiger, Sie kennen unzulässige Beweismittel. Wie kamen sie an den Kalender?«

    »Darf Ihnen mein Mandant antworten?«

    »Ich bitte darum.«

    Felix erhebt sich: »Die Eltern benutzen ein Mobiltelefon, das Simone bei ihnen hinterlegte, falls sie das andere verlieren würde. Der Kalender synchronisiert automatisch auf beiden Telefonen. Die Eltern sagten, dass zusätzlich der Kalender des Mobiltelefons von Siegfried synchronisiert sei.«

    Der Richter sieht den Altzeugen an: »Ich sehe, dass ihre Hemdtasche ein Mobiltelefon abzeichnet. Würden Sie es bitte Ihrem Anwalt übergeben?«

    Der Anwalt öffnet den Kalender und bestätigt überrascht den Eintrag. Der Richter gibt dem Antrag des Verteidigers statt, Siegfried nicht als Zeugen zuzulassen. Der Staatsanwalt beantragt, das Verfahren auszusetzen, bis die unerwarteten Erkenntnisse ausgewertet seien, und dem Zeugen aufzutragen, wegen Falschaussage zur Verfügung zu stehen.

    Die Ermittlungen führten zum Geständnis des Kriminalkollegen Siegfried. Er bezeugte für Felix eine emotionale Impulsivität, um Simones Falschaussage zu verbergen. Simone liebte es, wenn er in Eifersucht fiel. Sie gab mehrmals Anlass hierzu. Um die Trennung zu verhindern, habe er den Verstand verloren.

    Das Gericht erkannte keine schwere seelische Abartigkeit, sondern Schuldfähigkeit für eine nüchterne Vorsatzbildung aus niederen Motiven. Felix wurde beruflich rehabilitiert. Im ersten Verfahren enthielt man dem psychiatrischen Gutachter vor, dass Siegfried als Amtskollege heftig in die erotische Konkurrenz geriet.

     

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

    Der Text wurde vorgetragen bei der BDSÄ-Jahrestagung 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Titel „Fehler“