Autor: Waltrud Wamser-Krasznai Dr. med. Dr. phil.

  •     Der Anblick eines vorgewölbten Augapfels/Bulbus bei antiken Figuren (Abb. 1) lässt engagierte Mediziner*innen  an das Symptom des Exophthalmus denken. Da den vielen in gleicher Weise gestalteten Augen bei archaischen Statuen gewiss keine krankhafte Bedeutung zukommt, wollen wir in entsprechenden Fällen die pathologisch stigmatisierte Bezeichnung Exophthalmus lieber in Gänsefüßchen setzen. Unter einer Ptosis verstehen wir bekanntlich ein auffallend weit herunter gezogenes Oberlid, das als Merkmal bei antiken Statuen[1] ebenfalls keinen Krankheitswert besitzt und daher mit  Anführungszeichen versehen werden soll.   

                

     Abb. 1: Der Kuros vom Heiligen Tor, Athen, ca. 620-600 v. Chr.,      
                                          Aufnahme der Verfasserin

        Ein Glanzlicht der Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts   auf dem Athener Kerameikos war 2002 der „Kuros vom Heiligen Tor“ (Abb. 1)[2], der wegen seiner engen Vergleichbarkeit mit dem 1916 aufgefundenen Dipylon-Kopf[3] dem sog. Dipylon-Meister zugeschrieben worden ist. Beide Köpfe zeichnen sich durch eine gleichartige Haar-Teilung  über der hohen Stirn sowie durch große vorgewölbte, von schmalen scharfkantigen Lidern eingefasste Augäpfel aus. Während sich das Oberlid über eine sanfte Mulde mit der Augenbraue verbindet, setzt sich das Unterlid deutlich von der Wangenpartie ab.

        Der ‚Exophthalmus‘ ist in archaischer Zeit ein Merkmal beider Geschlechter. Fragt man sich, warum die Künstler dieser Epoche die Augenpartie ihrer Statuen derart von der Natur abweichen ließen, so denkt man an das sog. archaische Lächeln (Abb. 2), das ähnliche Fragen aufwirft. Wir sehen darin ein Mittel zur Belebung der Gesichter bei Personen, die im Begriff sind, den Dialog mit dem Betrachter aufzunehmen[4].

     Abb. 2: Attische Kore, Altes Museum Berlin, gegen 600 v. Chr.,  
                                              Aufnahme der Verfasserin

        Möglicherweise ist diese Annahme auch auf die riesigen vorgewölbten Augen zu übertragen.

        Spätestens in der Frühklassik verliert sich das Merkmal des vorgewölbten  Bulbus, der nun allmählich in die Augenhöhle zurücktritt[5].

    Am Übergang von der römischen Republik in die Kaiserzeit begegnet bei einzelnen Porträts des Octavian/Augustus[6] sowie bei denen der Livia und deren Sohn Tiberius ein mäßiger ‚Exophthalmus‘. Die Bildnisse von Mutter und Sohn sind darüber hinaus durch eine große Distanz zwischen den Augen und eine breite Stirn miteinander verbunden[7].   

        Der Blick aus den Augen antoninischer und severischer Zeit wird bald als melancholisch verschleiert, bald als besonders intensiv beschrieben[8]; eine Fundgrube für die Ikono-Diagnostik!

        Die Bildnisse der Faustina maior, Gattin des Antoninus Pius, sind meist durch große, etwas hervorquellende Augen gekennzeichnet, die von schweren Oberlidern beinahe zur Hälfte bedeckt werden [9].

                  Abb. 3: Porträt aus der Zeit der Faustina maior, 140-150 n. Chr.

                                           Nach: Fless 2006, 175 Abb. 471

        Private Porträts nähern sich den kaiserlichen Bildnissen an (Abb. 3), sowohl in der Haartracht als auch in der Physiognomie[10]. ‚Exophthalmus‘  und ‚Ptosis‘ der  älteren Faustina werden noch übertroffen von denen ihrer Tochter, Faustina minor [11].

                         Abb. 4: Faustina minor. Nach Hafner 1993, 118 Abb. b.

        Eines von den 12 Kindern der jüngeren Faustina ist der spätere Kaiser Commodus, dem sie die vorquellenden Augen vererbt habe[12]. Es wurde auch vermutet, dass Mutter und Sohn an der Basedow’schen Krankheit gelitten hätten. Wegen dessen „Halsleidens“ nämlich[13] habe Faustina den berühmten kaiserlichen Leibarzt Galen konsultiert. Dieser schreibt dazu: Von meiner Behandlung des Commodus wird erzählt, sie sei äußerst bemerkenswert, aber sie ist alles andere als das. Der Knabe hatte eine schwere Mandelentzündung und wurde nach konsequenter Applikation einer Mischung aus Honig und Rosenwasser wieder gesund[14]. Im Übrigen sollten wir uns vor einer diesbezüglichen retrospektiven Pathographie hüten, denn die Ptosis gehört nicht zu den Symptomen der Merseburger Trias[15]; vielmehr ist der Basedow-Exophthalmus mit einer weiten Lidspalte und einer Retraktion des Oberlids[16] vergesellschaftet.

        Schon die Jugendbildnisse des Commodus sind durch vorquellende Augäpfel und weit herabhängende Oberlider bestimmt (Abb. 5).                                        

                  Abb. 5: Der junge Commodus (Regierungszeit 180-191 n. Chr.) 

                          Nach: Bianchi Bandinelli 1970, 282. 293 Abb. 329

    Die ungewöhnliche Augenpartie war offenbar so charakteristisch, dass sie für die Gestaltung aller fünf  Bildnistypen einschließlich der berühmten Halbfigur des Kaisers als Hercules[17] übernommen wurde.  

       Die vier Porträts seines Vorgängers und Vaters geben den Kaiser Marc Aurel (Regierungszeit von 161-180 n. Chr.) ebenfalls mit stark hervortretenden Augen wieder; die besonders enge Lidspalte dagegen scheint auf die beiden späteren Bildnistypen beschränkt zu sein[18].

                            Abb. 6: Marc Aurel, Rom, Kapitolinische Museen

                                        Nach Bergmann 21988, 17 Abb. B.

        Damit weisen vier Mitglieder einer Familie einen vorquellenden Bulbus, ‚Exophthalmus‘ und ein mehr oder weniger hängendes Oberlid[19], ‚Ptosis‘, auf (Abb. 3-6): Faustina maior (=die Ältere, Gattin des Kaisers Antoninus Pius), Faustina minor (=die Jüngere, beider Tochter, Gattin Marc Aurels), Kaiser Marc Aurel (Adoptivsohn des Antoninus Pius), Kaiser Commodus (Sohn der Faustina minor und – wahrscheinlich – des Marc Aurel). Der Vorbehalt basiert auf Gerüchten vom ausschweifenden Lebenswandel der jüngeren Faustina[20]. Allerdings ähnelt die Augenpartie des Commodus – bei aller sonstigen physiognomischen Verschiedenheit – der Augendarstellung des jugendlichen  Marc Aurel[21].  

    Nach der Ermordung des Commodus und einem turbulenten Mehr-Kaiser-Jahr  führen die Severer formal und inhaltlich die antoninische Tradition fort[22]. Julia Domna, die Gattin des Kaisers Septimius Severus (Regierungszeit 193-211 n. Chr.) stammt aus Syrien und wurde als Tochter einer angesehenen Familie mit erblichem Priesteramt geboren. Ihre Porträts weisen einen ausgeprägten ‚Exophthalmus‘ und dickliche Lider[23] auf (Abb. 7), doch sind ihre Augen im Gegensatz zur ‚Ptosis‘ des Marc Aurel z. b. im 4. Bildnistypus (Liebieghaus – Capitol[24]) weit geöffnet.

                          Abb. 7: Julia Domna (160-217 n. Chr.) Athen, Agora

                                             Nach Harrison 1960, Abb. 23

        Ihre  Perückenfrisur ist unverkennbar, doch lässt das Nackenhaar vermuten, dass die Umarbeitung von einem Damen-Porträt antoninischer Zeit in eines der  severischen keine allzu großen Probleme aufwarf[25].

        Was nun die häufige Darstellung des ‚Exophthalmus‘ und der ‚Ptosis‘ in der antoninisch-severischen Epoche betrifft, so können wir einerseits von einem verbreiteten zeitspezifischen ‚Schönheitsideal‘ ausgehen – dafür spricht schon die Übernahme von Merkmalen kaiserlicher Bildnisse in das Privatporträt[26] – andererseits von einem „gewissen realistischen Hintergrund in der Physiognomie“[27](Faustina minor – Commodus, Marc Aurel – Commodus, Abb. 4-6 und Bergmann 21988, 23 Abb. 26. Dazu in augustäischer Zeit: Livia – Tiberius, s. o. Anm. 7)

        Exkurs zum „Annette von Droste-Hülshoff-Syndrom“:

    Diese Bezeichnung ist bei aller Plastizität wenig gebräuchlich. Der Essener  Ophthalmologe Prof. Dr. G. R. E. Meyer-Schwickerath hat sie Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts geprägt. Er erkannte bei der Dichterin ein „echtes psycho-physisches Syndrom…in dessen Mittelpunkt die Frühgeburt, der Augenschaden und die ungewöhnliche Intelligenz gehören“. Der „Augenschaden“ habe in einer hochgradigen Myopie von 10-15 Dioptrien mit dem zugehörigen myopischen Schein- Exophthalmus und einem Pseudostrabismus divergens bestanden[28].    

    Als eigentliche Bedrohung und Limitierung ihres Lebens galt die Tuberkulose[29], auch wenn diese Diagnose nicht ausdrücklich gestellt wurde. Von ihrem jüngeren Bruder Ferdinand dagegen heißt es, er sei an der Schwindsucht gestorben. Während seiner letzten Lebensmonate hatte die Droste ihn hingebungsvoll gepflegt und war nach seinem Tod selbst so schwer erkrankt, dass ihre Schwester Jenny um ihr Leben fürchtete. In Briefen erwähnt die Dichterin häufig Krankheiten und Empfindlichkeiten, sehr heftige Kopfschmerzen…dass ich meine Geisteskräfte der Zerrüttung nahe glaubte[30]Die kalte Kellerluft der Kirchen ist etwas Entsetzliches für Gesichtsschmerzenmein bekannter Äquinoktialhusten, …Fieber und Beklemmung und dabei halbtot husten…  Fieber… mutterseelen allein…fiebernd und würgend, …wenn ich gerade im Fieberschweiß lag…als ich so elend aus dem Wagen stieg und..ohnmächtig wurde…die inneren Krämpfe…ich fühlte mich sehr krank, glaubte nicht an Besserung und wollte bei den Meinigen sterben…meine Nerven in einem Zustande der Überreizung…ungeheuer schwach…meine Phantasie arbeitet nur zu sehr…Gott, dürfte ich jetzt schreiben, d. h. diktieren, wie leicht würde es mir werden[31].

    Den Ärzten bringt die Droste weniger Vertrauen entgegen als ihrem homöopathisch orientierten Therapeuten. Dieser hält Symptome penibel in einem Krankenblatt fest: Sehr bedeutende Abmagerung mit Hinschwinden der Kräfte; verdächtige Röte auf den eingefallenen Wangen; beständige Stiche in der linken Seite, fortwährende Brustbeklemmung wie von

    zusammengeschnürtem Brustkasten, dabei große Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit hinsichtlich der Genesung[32].

    All das ist wenig spezifisch, keine Rede von Blutsturz oder Bluthusten. Selbst wenn sie bisweilen davon überzeugt gewesen sein sollte, „sich bei der Pflege

    ihres Bruders an der Schwindsucht angesteckt zu haben“[33], so zögert sie nicht, sich von Geschichten zu distanzieren, deren Heldin eine solche zarte, überspannte Zehrungsperson ist… Ich wollte neulich eine Novelle schreiben und hatte den Plan schon ganz fertig. Meine Heldin trug schon zu Anfang der Geschichte den Tod und die Schwindsucht in sich und löschte so nach und nach aus. Dies ist eine gute Art, die Leute tot zu kriegen, ohne dass sie brauchen den Hals zu brechen oder an unglücklicher Liebe umzukommen.

    Sie gibt den Plan auf, nachdem sie vier gleichartig tragische Geschichten aus der Leihbibliothek hat lesen müssen[34]. Nun schließen derartige Betrachtungen der Droste eine entsprechende Krankheit nicht aus, sind aber geeignet, alle  retrospektiven Diagnostiker zu einer gewissen Vorsicht anzuhalten. Exophthalmus und Pseudo-Strabismus divergens hingegen lassen sich an wenigstens sieben Annette-Porträts erkennen[35]

                            Abb. 8: Nach einem Porträt von J. J. Sprick, 1838

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    Abgekürzt zitierte Literatur und Abbildungsnachweis:

    Andreae 1989: B. Andreae, Die Kunst des alten Rom (Freiburg – Basel – Wien 1989)

    Alexandridis 2004: A. Alexandridis, Die Frauen des römischen Kaiserhauses (Mainz 2004)   

    Bergmann 21988: M. Bergmann, Marc Aurel, Liebieghaus Monographie 2 (Frankfurt am Main 21988)     Abb. 6

    B. Beuys, Blamieren mag ich mich nicht. Das Leben der Annette von Droste-Hülshoff  (München 2002)

     Bianchi Bandinelli 1970: R. Bianchi Bandinelli, Rom. Das Zentrum der Macht (München 1970)     Abb. 5

    Fittschen – Zanker 1983: K. Fittschen – P. Zanker, Katalog der römischen Porträts in den Capitolinischen Museen und den anderen kommunalen Sammlungen der Stadt Rom III  (Mainz 1983)

    Fittschen – Zanker 1985: K. Fittschen – P. Zanker, Katalog der römischen Porträts in den Capitolinischen Museen und den anderen kommunalen Sammlungen der Stadt Rom I (Mainz 1985)

    Fless 2006: F. Fless – K. Moede – K. Stemmer (Hrsg), Schau mir in die Augen…Das antike Porträt. Abguss-Sammlung (Berlin 2006)     Abb. 3

    Hafner 1993: G. Hafner, Bildlexikon antiker Personen (Zürich 1993)    Abb. 4

    Harrison 1960: E. B. Harrison, Ancient Portraits from the Athenian Agora (Princeton 1960)     Abb. 7

    Johansen 1994: F. Johansen, Greece in the Archaic Period. Ny Carlsberg Glyptotek (Copenhagen 1994)

    Johansen 1995: F. Johansen, Roman Portraits II (Copenhagen 1995)

    Martini 1990: W. Martini, Die archaische Plastik der Griechen (Darmstadt 1990)

    Meyer-Schwickerath 1984: G. Meyer-Schwickerath, Das Annette von Droste-Hülshoff-Syndrom, Klin. Mbl. Augenheilk. 184, 1984, 574-577

    Niemeier 2002: W.-D. Niemeier, Der Kuros vom heiligen Tor (Mainz 2002)

    Pasinli 21992: A. Pasinli, Archäologische Museen Istanbuls (Istanbul 21992)

    Richter 1988: G. M. A. Richter, Kouroi (New York 1988 Reprint 31970)

    Wamser-Krasznai 2012/13: W. Wamser-Krasznai, „Wär ich ein Mann doch mindestens nur…“ Aus Leben und Dichtung der Annette von Droste.Hülshoff, in: Auf schmalem Pfad (Budapest 2012/13) 39- 54 

    Zschietzschmann 1968: W. Zschietzschmann (Hrsg. H. Busch – G. Edelmann), Römische Kunst (Frankfurt am Main 1968)


    [1] Männliche Exemplare: Kopf Rayet, Kopenhagen; Kuros aus Anavyssos, beide Martini 1990, 80 f. 84 Abb. 21. 24; Kuros von Volomandra, Kopf Istanbul, Richter 1988 Kouroi, 80 f. 110 Abb. 208. 369 f.; Weibliche Exemplare: Kopf Milet, Berlin, Richter 1988 Korai 59 Abb. 293-295; Kore vom Siphnier-Schatzhaus ebenda 66 f. Abb. 320; Peploskore, ebenda 72 f. Abb. 351 f. und Abb. 355-357; Nike von Delos, LIMC VI, 853 Nr. 16 Taf. 559

    [2] Niemeier 2002, 5. 40-44 Abb. 51 f.

    [3] Niemeier 2002, 46 Abb. 57-59; Richter 1988, 46 f. Abb. 50-53.

    [4] Martini 1990, 85.

    [5] z. B. Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit (Berlin – Bonn 2002) 212. 219 . 223. 235-239 jeweils mit Abb.

    [6] Fless 2006, 116 Abb. 293. 121 Abb. 310.

    [7] Livia z. B. Alexandridis 2004, 115 Nr. 1. 2 Taf. 3. 123 f. Nr. 21 Taf. 7, 1; Tiberius z. B. Fless 2006, 123 f. Abb. 316-318.  

    [8] Hafner 1993, 180 f. Bergmann 21988, 3.

    [9] Fittschen – Zanker 1983, 13-20 Taf. 17-23.

    [10] Alexandridis 2004, 113.

    [11] Vor allem beim 7. und 8. Bildnistyp, Fittschen – Zanker 1983, 21-23 Taf. 27-31; Johansen, Porträt II, 207 Abb. 84.

    [12] Fittschen – Zanker 1985, 82.

    [13] Hafner 1993, 118.

    [14] V. Nutton, Galeni De Praecognitione  (Berlin 1979) 131. Hinweise dazu verdanke ich dem Medizinhistoriker Prof. Dr. K. D. Fischer, Mainz.

    [15] Merseburger Trias: Struma, Tachykardie und Exophthalmus mit Retraktion des Oberlides. Dagegen ist die Ptosis mit einer verengten Pupille, Miosis, und einem in die Augenhöhle gesunkenen Bulbus, Enophthalmus, verbunden. Horner-Syndrom, Symptom einer Stellatum-Blockade.

    [16] Hoch gezogenes Oberlid.

    [17] Bildnis im 5. (letzten) Typus, Fittschen – Zanker 1985, 85-90 Taf. 91. 92, 78; Zschietzschmann 1968, 132 f.

    [18] Fittschen – Zanker 1985, 74; Bergmann 21988, 24-27 Abb. 26. 28. 32. 34-38; „schmale Augen“ eines   überlebensgroßen Porträtkopfes aus Kalkstein, Kaiserzeitliche Porträts in Aquincum (Budapest 1999) 16 f.   

    [19] Hängender Blick, Alexandridis 2004, 71.

    [20] Hafner 1993, 118.

    [21] Bergmann 21988, 23 f. Abb. 26. 28; A. Demandt, Marc Aurel: der Kaiser und seine Welt (München 2019) 64 Abb. 2 Typ 1. 2; Fittschen – Zanker 1985, 74 Nr. 61. 62. Taf. 72 f. Eine „deutliche Familienphysiognomie“, Alexandridis 2004, 71; ihre [der Faustina minor] „vorquellende Augen, die sie…auch dem Commodus vererbte“ Hafner 1993, 118; „Typenmerkmale…stark vorquellende Augen, die durch die weit herabhängenden Oberlider den auch für Faustina minor so charakteristischen verschleierten Blick erhalten haben“, Fittschen – Zanker 1985, 82; „das vorquellende Auge, das schwere Lid und die runde Braue identifizieren ihn [Commodus] als Sohn des Marc Aurel“, Fless 2006, 139 Abb. 362.

    [22] Alexandridis 2004, 71.

    [23] Weitere Beispiele: Alexandridis 2004, 199. 201 Nr. 217. 222 Taf. 49 f. Fless 2006, 181 Abb. 489.

    [24] Anders Bergmann 21988, 26: „die Augen groß, weit geöffnet“ Abb. 34. 37.

    [25] Alexandridis 2004, 205 f. Nr. 233 Taf. 60, 3.

    [26] Vgl. z. B. ein Jünglingsporträt nach Marc Aurel, Fless 2006, 163 Abb. 434 oder Nachahmungen der Faustina minor-Bildnisse, Fittschen – Zanker 1983, 79 Nr. 104 Taf. 131; 82 Nr. 111 Taf. 138 f.

    [27] Bergmann 21988, 22.

    [28] Im Klinischen Mitteilungsblatt für Augenheilkunde fälschlich „divergenz“ an Stelle des korrekten Adjektivs „divergens“, Meyer-Schwickerath 1984, 574-577.   

    [29] H. Eggart, Um die Krankheit der Annette von Droste-Hülshoff, Fortschr. Med. 30, 1933, 679; W. K. Fränkel, War die Krankheit der Annette von Droste-Hülshoff eine Tuberkulose? Med. Welt 25, 1933, 285-287; M. Terhechte, Das Krankheitsschicksal der Annette von Droste-Hülshoff, Droste-Jahrbuch 1959, 129-136; Wamser-Krasznai 2012/13, 44 f.

    [30] An Anna von Haxthausen, um 1820/21, in: H. Scheer (Hrsg.), Annette von Droste-Hülshoff. Spiegelbild und Doppellicht (Darmstadt 1983) 80. 

    [31] R. Schneider (Hrsg.), Annette von Droste- Hülshoff, Gesammelte Werke (Vaduz 1948) Briefe 328-333.  

    [32] Beys 2002, 232.

    [33] Beys 2002, 230.

    [34] An Anna von Haxthausen, Hülshoff, den 4ten Febr. 1819, in: H. Scheer (Hrsg.), Annette von Droste-Hülshoff. Spiegelbild und Doppellicht (Darmstadt 1983) 70.

    [35] Droste, Bilder aus ihrem Leben (Stuttgart 71974)  Bild auf dem Umschlag sowie Nr.  10. 17.24. 40. 50.

  • Nach Entwürfen zur Lesung „Eigene Gedanken und Taten“, Moderation H. Ganz, beim Kongress des Bundesverbandes Deutscher Schriftsteller-Ärzte, Stralsund 2020 (wegen Corona Pandemie vertagt)

    Zur eigenen Tat gibt es keine Alternative, wenn eine Sache, die mich selbst betrifft und mir nahe geht, getan werden muss. Auch wenn die Idee zu einer Tat auf fremdem Mist gewachsen ist, so kann mir niemand sonst etwas abnehmen, was ich nun einmal auf mich nehmen muss. Ich bin einem anderen Menschenkind nahe getreten und habe mich jetzt zu entschuldigen – da  kann ich doch keinen anderen schicken, der die Sache für mich erledigt?

    Wie war das mit der „Bürgschaft“? Damon hatte sich zum Tyrannen geschlichen, den Dolch im Gewande. Das soll er nun am Kreuze bereuen. Zum Sterben ist er bereit, doch will er vorher noch seine Schwester unter die Haube bringen. Der Freund bleibt als Bürge zurück in Syrakus. Dramatische Tage voller Hindernisse vergehen, bis der Todgeweihte wieder vor dem Despoten erscheinen kann, um sein Wort einzulösen. Auch hier gilt: Wenn man zum Tode verurteilt ist, muss man den eigenen Kopf auf den Richtblock legen, nicht wahr? Wir wissen, dass die Sache gut ausgeht. 

    Ich soll auf einen Knopf drücken und einen elektrischen Impuls auslösen, der ein menschliches Wesen, das ich nicht sehen, aber hören kann, vor Schmerzen schreien lässt. Ich drücke, es schreit. Bin ich jetzt ein Täter? Natürlich. Ist derjenige, der mir das angeschafft hat, ein Täter? Selbstverständlich. Ein Schreibtischtäter. Begeht er eine weniger gravierende Tat? Das hätten wir gern. Die Milgram-Studie ist bekannt und berüchtigt, doch wir wissen alle, dass es weit schlimmere Experimente gibt.   

    Und nun gar eigene Gedanken! Wo es doch so viele kluge Aussprüche gibt, hinter denen man sich verstecken kann. Selbst denken – vielleicht ein kleines bisschen reflektieren, zum Beispiel über Corona und kein Ende? 

    Sind wir nicht eine Schafherde, die den Gehorsam auf die Spitze treibt? Die Kneipen haben unter Auflagen wieder geöffnet. Man sollte meinen, dass sich jetzt lange Schlangen bilden, um endlich ein anständiges Schnitzel zu essen, ein Osso buco beim Italiener, Rinderleber beim Kroaten, Schweinelendchen mit Metaxa-Soße beim Griechen und zwar am Ort, damit die Gastwirt*innen wenigstens an den Getränken etwas verdienen. Man sollte meinen, die Telefone der Restaurants seien ständig besetzt, weil sich die Anmeldungen nur so häufen. Weit gefehlt.

    Es ist vielmehr so: Man kann sich unter den auf Abstand reduzierten leeren Tischen einen Lieblingsplatz aussuchen, wird nach Strich und Faden verwöhnt und zahlt, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr als sonst.  

    Wir sind erschrockene, eingeschüchterte Lämmer und trauen uns nicht. Punkt. Dabei haben die Vorsichtsmaßnahmen ihren Sinn und werden von einsichtigen Leuten akzeptiert. Schon gibt es die ersten Rückschläge in Form erneuter Schließungen, weil sich angeblich ganze Gruppen in den Armen gelegen und abgeküsst haben. Müssen wir das eigentlich – küssen und umarmen um jeden Preis? Und auch gleich noch dieses allgemeine Corona- Geduze, wo unsere  angelsächsischen Vorbilder doch auch das „Sie“ nicht kennen!  

    Gestern bin ich eine Strecke mit der Regionalbahn gefahren. Dort ist Abstand halten sogar bei dem derzeit geringen Personenaufkommen kaum möglich. Alle hatten ihre Mund-Nasen-Klappen an. Zwei schwarze Männer brüllten sich gegenseitig in einer mir unbekannten Sprache an, ich glaube weil einer seine Nase nicht mit bedeckt hatte. Ein einziges deutsches Wort verirrte sich dazwischen, bezeichnender Weise ein hässliches, das mit Sch… beginnt und   noch immer keinen Eingang in mein Vokabular gefunden hat. Immerhin wurden die beiden Kontrahenten nicht tätlich.  

    Meine Friseurin hat wieder ganze Arbeit geleistet, die Buchläden sind geöffnet, in den Bibliotheken funktioniert die Ausleihe. Aber was, wenn bestimmte Bücher nur im Lesesaal benutzt werden dürfen? Auf diese Frage waren die freundlichen technischen Angestellten nicht gefasst, sie murmelten etwas von Ausnahmen …  Aber jetzt können wir hoffen: Vom 2. Juni an wird es wieder  Leseplätze geben! Bis dahin muss ich altes Frauenzimmer mit meinem zwiespältigen Verhältnis zur digitalen Welt frei schwebend zwischen den Regalen herumturnen, in der einen Hand den Laptop, in der anderen einen Folianten, denn noch darf man sich nirgendwo hinsetzen. Dabei bin ich  privilegierte Eigentümerin vieler Bücher und habe zu Hause einen guten Arbeitsplatz.  

    Es zu Hause gut haben – das kann eine namhafte Zahl von Kindern nicht von sich sagen. Niemand unterstützt sie in ihrem Lerneifer oder sorgt für Anregungen. Düsteren Prognosen zufolge müssen sie mit einem Rückstand von mindestens zwei Halbjahren rechnen. Derartige Probleme – häusliche Gewalt ist noch gar nicht berücksichtigt – sind nicht auf die Vor- und Grundschulstufen beschränkt. Auch von den Studierenden werden nur die besonders hellen, entschlossenen, ehrgeizigen und Internet-tauglichen ohne Zeitverlust durch die Krise kommen.

    Sind wir nicht schon genügend verdummt? Nehmt einem Volk seine Sprache, und der Effekt wird größer und dauerhafter sein als die Annexion seines Terrains  – so ähnlich äußerte sich 1943 Winston Churchill (Robert Phillipson, Linguistic Imperialism Continued, New York – London 2009, 114). Die nicht nur vom damaligen britischen Premierminister vorgeschlagenen Maßnahmen, nicht anstelle sondern neben der Eroberung der Territorien, sind längst umgesetzt und werden durch fortwährende Infiltration erfolgreich vertieft. Schlimmer, wir sind es selbst, die in vorauseilendem Gehorsam und weil wir von uns selbst nicht besonders viel halten, unsere eigene Sprache, unsere eigene Musik aufgegeben haben. ‚Musik‘ besteht jetzt aus gesundheitsschädlichem Krach, allen Arten von Körperwerbung, glitzernden Farben, gleißenden Lichteffekten und englisch-amerikanischem Gegröle. Man nehme einen albernen Text, übersetze ihn ins Englische und schon bricht frenetischer Jubel aus. Eine Melodie ist nicht erforderlich, eher störend; allenfalls darf etwas Rhythmus sein.

    Wo bleibt – so fragen Sie jetzt – das obligatorische Eingeständnis meiner eigenen Schuld an dieser Situation? Hier ist es: Mea Culpa (natürlich im Rahmen des Kollektivs).

    Noch einmal zurück zu den Privilegien. Dazu gehört auch, dass ich mir diesen infernalischen Krach, genannt Musik, nicht anhören muss. Außerdem hatte ich 13 Jahre lang einen Schulweg von fünf Minuten und einen Vater, den wir schon beim Mittagessen sprechen und fragen konnten. Eine meiner Freundinnen wohnte im hohen Vogelsberg. Das über 22 km Luftlinie entfernte Gymnasium war nur auf Landstraßen 4. Ordnung zu erreichen. Der Bus fuhr nachmittags nicht bis hinauf. Für den zweiten Teil des Heimwegs konnte sie auf eine Mitfahrgelegenheit auf einem Leiterwagen oder einem Milchfuhrwerk hoffen. Der Ort für die Hausaufgaben war die väterliche Gastwirtschaft. Kam ein Gast, so unterbrach die Tochter ihre mathematischen Studien und zapfte ein Bier. Sie war natürlich fleißig und klug, dazu eine begabte Schauspielerin, die in manchen Schüler-Aufführungen brillierte. Dann ist sie Lehrerin geworden und hat später ihren Mann, einen Pfarrer, tatkräftig in der Gemeindearbeit unterstützt. Jetzt steht sie allein einer problematischen Familie aus vier Generationen vor; alle Fäden laufen bei ihr zusammen. In ihrem Leben wie in ihrer anrührenden Autobiographie hat der christliche Glaube einen hohen Stellenwert.

    Und wir? Was wollen, können, sollten wir tun? Weiterhin ein bisschen schreiben vielleicht!

  • Dieser Text war (ursprünglich vorgesehen für die Lesung Streifzüge, Moderation Dietrich Weller, Stralsund 2020)

    Eigentümlich faszinierend sind Bach und Fluss. Es darf das kleinste Rinnsal sein, etwa in Freiburg die „Bächle“ oder die Dreisam, die, weil sie ein wenig zum Ausufern neigte, durch eine endlose Folge von Stufen gebändigt wurde.  Hauptsache es fließt! Andere Wasser haben auch ihre Schönheiten, stille Wasser wie Teiche, Seen, Maare, und wilde Wasser wie die Nordsee oder der Atlantik. Aber was ist das schon gegen einen Fluss?

    Die Wetter entspringt im Hochmoor am Rande des Vogelsbergs und mündet  über die Nidda in den Main. Um schwimmen zu lernen ging man, bevor sich die Landräte durch den Bau von Bädern und Kreiskrankenhäusern zu profilieren begannen, an die Wetter, in das von uns so genannte „Bad Griedel“ bei Butzbach, zu dem es heute längst gehört. Das Wasser war warm und schlammig, gemütlich und ungefährlich. Auch später behielt die Wetter ihre Anziehungskraft. An einem Flussbogen in Trais Münzenberg begründeten wir ein Wasserheiligtum, wo wir den Nymphen Opfer in Form von Kupfermünzen darbrachten.     

    Der Sommer 1952 war so heiß und trocken, dass die Fluss-Schifffahrt vorübergehend eingestellt werden musste. Für die Ferien hatten wir Streifzüge an und auf der Weser vorgesehen. Unser Schiff setzte wegen des Niedrigwassers so häufig auf, dass wir zwischen Höxter und Hameln ausgebootet und auf kleinere Wasserfahrzeuge umgeladen wurden. Mutige machten sich einen Spaß daraus, den Fluss trotz der beachtlichen Strömung als Fußgänger zu überqueren.

    Östlicher Quellfluss der Weser ist bekanntlich die Werra – zwei Namen, ein und derselbe indogermanische Wortstamm. Beides bedeutet „fließen“.

    Wo Werra sich und Fulda küssen,
    sie ihre Namen büßen müssen.
    Und hier entsteht durch diesen Kuss
    deutsch bis zum Meer der Weser Fluss.

    Das aus einer sehr anderen Zeit stammende Verslein ist auf dem Weserstein in Hannoversch Münden oberhalb des Zusammenflusses zu lesen. Werra-aufwärts wechselte der mäandernde Fluss 40 Jahre lang von einem der beiden deutschen Staaten in den anderen, dass es nur so eine Art hatte. In Bad Sooden-Allendorf, wo man beim Passieren der Werra-Brücke den westlichen Teil des Landes nicht zu verlassen brauchte, erfanden wir ein Wortspiel mit französischen Wurzeln: Qui viverà verrà (die Zeit wird’s lehren) wurde zu: qui viverà Werra (der wird leben, dem es vergönnt ist an der Werra zu weilen). Jetzt verbindet sie wieder!                  

    Die Donau ist bekanntlich alles andere als „schön blau“, aber ihre Entstehungsgeschichte fasziniert. Als Ursprungsort gilt der dekorativ gefasste Quelltopf in Donaueschingen. Das überfließende Wasser sammelt sich in der Brigach, bevor diese sich mit der Breege vereinigt, um dann als Donau bei Immendingen im Karst des Weißen Jura zu versinken. Ein Teil des Wassers tritt im sprudelnden Aachtopf wieder an den Tag, fließt nach Westen über den Bodensee zum Rhein und damit in die Nordsee. Andere Quellbäche füllen das alte Flussbett auf und die neue Donau macht sich auf ihren langen Weg nach Osten zum Schwarzen Meer. Eine Wasserscheide? Ja, doch sie ist auch ein Bindeglied zwischen Norden und Osten. Nicht genug damit; bevor sie sich ins Schwarze Meer ergießt, teilt sie sich in viele Mündungs-Arme und gibt sich alle Mühe, die vier heutigen Nachbarstaaten miteinander zu verbinden. Einmal wurde ich gebeten, für jemanden von der Budapester Kettenbrücke herunter ins Wasser zu spucken; davor habe ich mich gedrückt, der Fluss war mir dreckig genug. Trotzdem ist die Donau ein majestätischer Anblick, wie sie mitten durch das schöne Budapest strömt, dessen Stadtteile sie allerdings heute, trotz der wunderbaren Brücken, faktisch trennt. Zu Stoßzeiten nämlich werden die Brücken zu Nerven-zerfetzenden Verkehrs-Fallen. Vom hoch gelegenen Buda in das geschäftige Pest ist man weit länger als eine Stunde unterwegs, gleich welches Fortbewegungsmittel man benutzt; auch die Straßenbahn kann nicht wie sie sollte. Es gibt keine Rettung außer dem Zweirad oder der U-Bahn, und die bringt einen nicht überallhin.

    Meine erste Begegnung mit der Elbe hatte ich 1942 in Dresden und im Elbsandsteingebirge, dessen Anwohner nicht alle etwas von der aufgezwungenen „Verbindung“ hielten. Das verstand ich damals noch nicht, aber an die mächtigen Felsen kann ich mich erinnern und vor allem an die rote Brauselimonade, die ich dort bekam. 1990 war endlich Gelegenheit, von Osten her über die Elbe nach Westen zu blicken. Wie lange hatte ich mir die Nase am Zaun plattgedrückt und von einem Aussichtsturm, der am Westufer errichtet war, auf die andere Seite hinüber gespäht. Noch waren die Dömitzer Brücken nicht wieder hergestellt, aber es gab genügend Fähren in beide Richtungen. Der Fluss verbindet wieder, wie es sich für ein fließendes Wasser geziemt.

    In Rom, im Tiber nahe der Cloaca maxima, beim Tempel des Asklepios liegt mein Carneol-Ring. Leider hat dieses kleine Opfer meine Freundin nicht vor schwerer Krankheit retten können.

    Der älteste Kult auf der Tiberinsel galt dem Flussgott Tiberinus. Als aber Rom 293 v. Chr. von einer schweren Seuche heimgesucht wurde, benötigte man die Hilfe eines Größeren, des Heilgottes Asklepios. Eine Gesandtschaft machte sich zu Schiff auf den Weg nach Epidauros, dem wichtigsten Kultort des Gottes. Auf der Rückfahrt hatte sie eine heilige Schlange an Bord, die bei der Tiberinsel in den Fluss tauchte. So bezeichnete sie den Ort, an dem der Asklepios-Tempel  errichtet werden sollte. Heute steht da die Kirche S. Bartolomeo. Hospitäler der Israeliten und der Barmherzigen Brüder setzen die Kontinuität der antiken Heilstätte fort. „Zu Bestrahlungen und Behandlungen wandern die Römer über die beiden kurzen Brücken ins uralte Hospital. Dort geht es…sauber zu, da wird der alten Heilüberlieferung noch immer Genüge getan“, schrieb Marie Luise Kaschnitz 1962[1]. Die Ostspitze der Insel erinnert an den Bug des Schiffes, mit dem die heilige Natter nach Rom gebracht wurde. Eine wohl auf das Jahr 62 v. Chr. zurück gehende Travertin-Verkleidung zeigt ein Relief des Äskulap mit seinem Schlangenstab und verbindet so den Tiber mit dem saronischen Golf, aber auch mit den vielen fließenden Brunnen, die zu einem Asklepios-Heiligtum gehören; denn „rein muss sein, der in den duftenden Tempel tritt…“[2].     

    Übrigens sind es von der Tiberinsel nur wenige Schritte zur Giudecca, und dort isst man die allerbesten Artischocken!


    [1] Schlange des Äskulap, in: Engelsbrücke (München 51983) 71 f.

    [2] Porphyrius, De Abstinentia II 19, zit. bei A. Krug, Heilkunst und Heilkult (München 1985) 130.

  • Aus: Platon, Der Staat (πολῑτεία)

    (Nach einem Referat im Hauptseminar Alte Geschichte (Prof. Dr. Helga Gesche, WS 1993/94)

    Platon, ein Sohn des Atheners Aristion und der Periktione, durch die er mit einer der führenden oligarchisch orientierten Familien Athens verwandt war, lebte von 427-348 v. Chr. Beim Tod des Sokrates 399 v. Chr. gehörte er seit acht Jahren zu dessen Schülern. Auf einer ersten großen Reise nach Unteritalien und Sizilien kam Platon in engen Kontakt mit den Pythagoräern. Er begegnete dem Tyrannen von Syrakus, Dionysios I. und soll versucht haben, ihn nach seinen in der Politeia formulierten Idealen zu beeinflussen. Nach seiner Rückkehr begründete er in Athen eine Akademie, eine Lebensgemeinschaft von Jüngern der Philosophie. Zwischen 366 und 361 v. Chr. reiste Platon erneut nach Syrakus.

    Fast alle platonischen Werke haben die Form des Dialogs. Sokrates entlarvt zunächst das Wissen seines Gesprächspartners als Scheinwissen und führt ihn dann, ständig fragend, induzierend, zu seinen Begriffen von den Haupttugenden.  Aristophanes verspottet ihn in den „Wolken“ als Sophisten, obwohl Sokrates sich in Gegensatz zu den sophistischen Lehren stellt.

        Das erste Buch der Politeia handelt vom Wesen der Gerechtigkeit. Dann entwirft Sokrates/Platon das Musterbild eines guten Staatswesens (472 d. e) in dem sich der Gerechte der Gerechtigkeit so weit wie möglich annähern soll (472 c). Im Gegensatz dazu steht die Ungerechtigkeit, die sich in den Zerfallsformen der Verfassungsarten zeigt und in den Seelen Derjenigen entsteht, die gezwungen sind, in einem derart degenerierten Staatswesen zu leben.  

        Oligarchie ist jene Verfassung, in der die Reichen herrschen und die Armen keine Macht haben. Außer den Herrschenden sind alle Bettler. Die Herrschenden aber gewöhnen sich und ihre Söhne von jung auf an Schwelgerei (556 b) und machen sie zu körperlicher und geistiger Arbeit unfähig, wenig tauglich im Ertragen von Lust und Leid (556 c) und träge dazu.

    Der Arme erkennt: die Männer gehören uns, sie sind ja nichts wert.

    Aus kleinem Anlass entwickelt sich ein Bürgerkrieg (556 d. e). 

        Demokratie entsteht, wenn die Armen siegen und ihre Gegner verbannen, alle übrigen aber nach gleichem Recht an Verfassung und Ämtern teilnehmen lassen. Fürs erste sind die Menschen frei, der Staat quillt über in der Freiheit der Tat und der Freiheit des Wortes und jedem ist erlaubt zu tun, was er will. Es gibt keinen Zwang zum Gehorsam, wenn du nicht willst; dass man dich nicht zum Krieg zwingt während eines Krieges oder zum Frieden, wenn du nicht Frieden halten willst; oder wenn ein Gesetz dir ein Amt oder eine Richterstelle verbietet, dass du dann nichtsdestoweniger Beamter oder Richter sein kannst, wenn dich die Lust dazu packt – eine angenehme, herrenlose und bunte Verfassung (557 a-558 c). Den Hochmut nennen sie Wohlerzogenheit, die Verschwendungssucht Großzügigkeit und die Unverschämtheit Mut (560 d). Kein ordnender Zwang waltet über dem Leben, doch süß nennt er und frei es und selig – und genießt es zur Neige (561d). Der Lehrer fürchtet in dieser Lage die Schüler und schmeichelt ihnen, die Schüler machen sich nichts aus den Lehrern. Zuletzt kümmern sie sich nicht einmal um die Gesetze, um nur ja nirgends einen Herrn über sich zu haben. Wie viel freier hier als anderswo das Leben der Tiere ist, das würde niemand glauben, der es nicht gesehen hat. ..die Esel gewöhnen sich gar frei stolz einher zu schreiten und stoßen auf der Straße jeden Begegnenden, der ihnen nicht ausweicht. Kurz, alles ist voll der Freiheit (563 a-e).

        Im demokratischen Staat gibt es drei Gruppen: die Drohnen, die Reichen –  auch als „Drohnenweide“ bezeichnet – und das arme, arbeitende Volk. Dies sind die meisten (564 d. e).

        Und sie werden einen Mann vor allen an die Spitze stellen, diesen aufziehen und aufpäppeln. Aus dieser Wurzel des Führertums wächst der Tyrann und aus keiner anderen. Er bittet das Volk um Wächter für seinen Leib, damit heil bleibe des Volkes Retter. Er beginnt immer neue Kriege, damit das Volk einen Feldherrn braucht (565 c-566 b). So folgt aus dem Übermaß an Freiheit die tiefste und härteste Knechtschaft, die Tyrannis (564 a).

        In dem Staat, den Sokrates den wahren, gesunden nennt, werden seiner Meinung nach die Leute in Frieden leben (372 c). Da nun die Menschen von Natur aus über unterschiedliche Anlagen verfügen und Besseres leisten, wenn sie ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden, braucht man eine genügend große Anzahl von Arbeitskräften in verschiedenen Berufen: Bauern und Handwerker (371 a), Händler und Lohnarbeiter (371 d. e).

        Doch die Gesprächspartner des Sokrates wünschen auch Annehmlichkeiten des Lebens, Bequemlichkeit, Luxus, Kunst, also einen „üppigen Staat“, τρυφώσαν πόλιν (372 e), der wachsen und mehr Menschen mit stärker differenzierten Berufen integrieren soll.  

        Darin liegt aber schon der Keim der Expansion, die Wurzel des Krieges (373 e). Dies erfordert einen besonderen Berufsstand, den des Soldaten (374 c) oder, wie ihn Sokrates nennt, den Wächter/φυλαξ (374 d). Ihm werden der  Grenzschutz sowie die innere Einheit und Sicherheit (Polizeidienst) anvertraut (423 b-d). Durch strenge Auswahl der Charaktere und sorgfältige zweigleisige musisch-gymnastische Erziehung soll die besondere Eignung der Wächter angestrebt werden (376 e), da sie den Feinden wachsam und scharf, ihren Angehörigen und Mitbürgern aber freundlich und verträglich gegenüber treten sollen.

        Neben dem sportlichem Training stehen der Unterricht in Arithmetik, Geometrie, Astronomie und den musischen Fächern (522 c. 526 c. 527 d). Die Wahl muss unter denen getroffen werden, die am meisten Verantwortungsgefühl für den Staat haben und davon überzeugt sind, dass der Vorteil der Polis zugleich auch der ihre ist (412 c. d).

        Da die Begabungen in beiden Geschlechtern gleich verteilt sind und die Frau ihrer Anlage nach für alle Berufe geeignet ist ebenso wie der Mann, nur dass sie schwächer ist als er (455 d. e), erhalten Männer und Frauen des Wächterstandes dieselbe Erziehung und nehmen gleichermaßen teil an der Sorge für den Staat und auch am Krieg (457 a). Beschäftigt mit dieser ihrer eigentlichen Aufgabe wird den Wächterinnen die Pflege ihrer Nachkommenschaft vollkommen von Ammen und Kinderfrauen abgenommen (460 d). Notwendige Folge des gemeinsamen Lebens für den Staat ist, dass diese Frauen den Männern gemeinsam angehören und auch die Kinder sind gemeinsam; weder kennt der Vater sein Kind noch das Kind seinen Vater (457 c. d).

        Geeignete Paare werden zusammengeführt und nur gesunde Kinder aus erwünschten Verbindungen sind der Aufzucht würdig (460-461 c). Die anderen sind an einem unzugänglichen und unbekannten Ort zu verbergen und so zu behandeln als sei für sie keine Nahrung vorhanden. Auch wer siech am Körper ist, den sollen sie [die Heilkundigen] sterben lassen, wer an der Seele missraten und unheilbar ist, den sollen sie sogar töten! (410 a)                      

        Nun fehlt im Entwurf eines Staates mit guter Verfassung noch das Wichtigste und Schwerste (473 b). Die besten Wächter müssen zu Philosophen gemacht werden, (503 b) sodass ihnen Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit als die höchsten Tugenden gelten (487 a. 503 c). Wer fähig ist,  Zusammenhänge zu erfassen (537 c), wird etwa fünf Jahre lang in der Dialektik geschult (539 c). Wenn er an die Reihe kommt, den Staat zu leiten, so tut er das um des Staates willen, nicht weil es schön, sondern weil es notwendig ist (540 b), und er hält andere zu gleicher Tüchtigkeit an. Das gilt auch für die Herrscherinnen, τας  ἇρχούσας, soweit ihre Anlage sie dazu befähigt (540 c).              

        Die beschriebene Staatsform könnte Königtum, βασιλεία, heißen, wenn ein einziger unter den Herrschenden hervorragt, Aristokratie dagegen wenn es mehrere sind (445 d). Der Gerechte ist nicht nur auf Erden der Glücklichste  (580 c), auch nach seinem Tod erwarten ihn große Freuden, denn so glaubt Sokrates und so rät er auch seinen Freunden zu glauben: die menschliche Seele ist unsterblich (621 c).

    Aus heutiger Sicht stellt der Denkentwurf Platons für einen Staat eine Mischung einerseits aus Realisierbarem und Erstrebenswertem, andererseits aus  Unrealistischem und Verabscheuungswürdigem dar. Die Bildung geistiger Eliten durch Auswahl- und Prüfsystem ist zwar unmodern, aber durchführbar  und m. E. auch wünschenswert.   

  • Im Grunde sind wir reich an Zeit; wir haben mehrere Arten davon.

    Da ist Chronos, die Zeit im absoluten Sinne, als Weltprinzip, lateinisch tempus. Das um 130 v. Chr. datierte römische Marmorrelief mit beigeschriebenen Namen zeigt Chronos als jugendlichen geflügelten Genius, in den Händen Buchrollen (Abb. 1). Neben ihm steht Oikoumene mit einer hohen Mauerkrone, die Personifikation der bewohnten Erde. Sie bekränzt den vor ihnen beiden thronenden Dichter Homer. Es ist zu vermuten, dass die beiden Schriftrollen auf die berühmtesten Epen Homers, Ilias und Odyssee, hinweisen[1]. „Solange Menschen auf Erden leben, sagt die Szene aus, ehren sie die Werke Homers“[2].

       Abb. 1: Apotheose Homers, Relief des Archelaos, Ausschnitt. Um 130 v. Chr.  
                                          Nach Pinkwart 1965, 57 Taf. 29 

    Spätestens seit dem Mittelalter wird der Gott greisenhaft dargestellt[3] und mit den Attributen Sanduhr und Sense (oder Sichel) versehen. Schon im Altertum setzte man ihn gleich mit dem Titanen Kronos, der seine Kinder, die Jahre, verschlingt. Im Hymnos „An Schwager Kronos“ meint Goethe zwar den Gott der Zeit, doch beginnt er den Namen konsequent mit dem Anfangsbuchstaben K (Kappa):

    Spute“ dich, Kronos, fort den rasselnden Trab…   

    Zurück zum lateinischen Aequivalent Tempus. In ihrem großen Zeit-Monolog im „Rosenkavalier“ setzt sich die Marschallin mit der endlichen Zeit auseinander[4]:

    Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding.

    In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie.
    In meinen Schläfen, da fließt sie.

    Lautlos wie eine Sanduhr.

    Manchmal steh ich auf  mitten in der Nacht
    Und lass die Uhren alle, alle steh’n.
    Dann, versöhnlich:
    Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten.
    Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.

    Harald Weinrich geht in seiner ebenso instruktiven wie fesselnden Abhandlung „Knappe Zeit“ der philologisch-philosophischen Verbindung zwischen Zeit: tempus und  Schläfen: tempora ausführlich nach[5]. Jeder Mediziner kennt das Schläfenbein, Os temporale und die Schläfenarterie, Arteria temporalis, wo man den Puls mindestens ebenso gut wie am Handgelenk ertasten kann. In heutigen lateinischen Wörterbüchern findet man für das Wort tempus außer „Zeit“ auch „Schläfe, Gesicht, Haupt“, die drei letzteren meist vom Plural „tempora“ abgeleitet.     

    Nahezu synonym mit Chronos[6] wird Aion gebraucht. Er vertritt die mit dem Menschen zusammen geborene Lebenszeit, symphytos aion[7]. Euripides nennt ihn des Chronos‘ Sohn[8]. Beide ähneln sich auch in ikonographischer Hinsicht. Wäre dem Relief eines sinnenden älteren Mannes nicht der Name beigeschrieben[9], könnte man ihn auch für Chronos halten. Ảιών verkörpert besonders lange Zeitspannen[10] und ist Herr über „Leben“ und „Lebenszeit“. In seinen letzten Augenblicken beschwört Goethes Faust selbstbewusst den heute wenig gebräuchlichen, von Aion abgeleiteten Ausdruck „Äonen“:

    …Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehen…[11]

    Seit Platon identifiziert man Aion mit dem Wort Ewigkeit, seit Cicero mit dem lateinischen Äquivalent aeternitas. Als dem „Erzeuger“ der Zeiten fügt er dem „Χρόνος“ nicht nur … „ein in Zahlen fortschreitendes bewegliches Abbild der Ewigkeit, Ảιών, hinzu sondern auch die  zyklische Auffassung von der Zeit, ἐνιαυτός[12]. Durch die Gliederung in Tage und Nächte, Monate und Jahre, in der engen Verbindung zum Zodiakos und zum Kreis der Jahreszeiten lassen sich die Zeit-Personifikationen, Χρόνοι, kaum von einander trennen[13].

    Ein Mosaik in Paphos gibt den durch ein goldenes Diadem und den Nimbus hervorgehobenen Aion als Richter in einem Schönheitswettbewerb wieder. Er und die Konkurrentinnen Kassiopeia und die Nereiden Thetis, Doris und Galathea sind namentlich gekennzeichnet[14].    

    Eniautós klingt im lateinischen annus wieder und steht, wie wir bereits wissen, für die „kreisenden Jahre“, eine zyklische Zeit-Auffassung[15], die den Menschen des Altertums bis in die Spätantike hinein geläufig war. Der große Zyklus, mégas eniautós, umfasst die Periode zwischen zwei Festzyklen. Sie beträgt acht Jahre.  Vier Jahre, die Hälfte davon, entsprechen dem Abstand zwischen zwei olympischen Spielen, der Olympiade. Das einzelne Jahr gliedert sich in die wiederkehrenden Jahreszeiten, die Horen[16]. Selbst der Tag „kreist“ zwischen dem Aufgang der Sonne und dem des Mondes.

    Zur Zeit Ptolemaios‘ II Philadelphos war die riesige Gestalt des Eniautós in Alexandria Teil der Prozession zu Ehren des Gottes Dionysos. Er wurde von einem Tragödien-Schauspieler auf hohen Kothurnen dargestellt. Auf einer apulischen Loutrophoros[17] dagegen erscheint er als beinahe nackter Jüngling, der ein Füllhorn mit Getreideähren im Arm trägt. Neben ihm thront die

    Ortspersonifikation von Eleusis mit einer Kreuzfackel, einem Attribut der Korngöttin Demeter/Ceres (Abb. 2).

              Abb. 2: Eniautòs und Eleusis, 330/320 v. Chr. Malibu, Getty-Museum.
                                           Nach Simon 1988, 68. 82 Taf. 7

    Beide Namen sind beigeschrieben.

    Von den drei bisher besprochenen Zeit-Personifikationen setzt sich Kairos, der junge Gott der qualitativen Zeit,deutlich ab. In einer Spanne von äußerster Kürze, dem flüchtigen Augenblick, drängt sich die ganze Fülle einer Lebens- und Welterfahrung zusammen[18], lateinisch occasio, auch fortuna. Als geflügelter Jüngling balanciert er eine Wage auf Messers Schneide. Wem es nicht gelingt, ihn vorn am Schopf zu packen, hat das Nachsehen[19]. Der kurz geschorene glatte Hinterkopf gleitet unter den Händen weg (Abb. 3). Jede weitere Aktion kommt dann παρὰ καιρὸν, zur Unzeit, wie es bei Platon heißt[20].

    Wer jedoch schnell reagiert und die günstigen Umstände zu nutzen versteht – carpe diem[21] –  hat gewonnen.

                                         Abb. 3:  Relief Turin, 2. Jh. n. Chr.
                                    Nach LIMC V, 1990, 922 Nr. 4 Taf. 597

    Marie von Ebner-Eschenbach fasste den Sachverhalt in einen treffenden Aphorismus:

    Wenn die Zeit kommt, in der man könnte,
    ist die vorüber, in der man kann.

    Daher rät Goethes Mephisto auch dem Schüler:

    Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen,
    doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen[22].

    So lange aber das Werk über die Zeit, le Temps[23] noch nicht in einem Buch in Sicherheit gebracht ist, mis en sȗreté, besteht die Gefahr, dass le temps, die Zeit, nicht ausreicht. Es ist also höchste Zeit, grand temps. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Wir schreiben schließlich für uns selbst. Schiller hat das in  einem 1797 verfassten Brief an Goethe formuliert: …da es einmal ein festgesetzter Punkt ist, dass man nur für sich selber philosophiert und schreibt, so ist auch nichts dagegen zu sagen; im Gegenteil, es bestärkt einen auf dem eingeschlagenen guten Weg …Seien wir geizig mit dem kostbaren Gut, denn: 

    die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont[24] . Trotzdem ist    nicht gesagt, dass in dem undurchsichtigen Sack Zukunft nicht auch ein Entzücken steckt[25]

    Abgekürzt verwendete Literatur und Bildnachweis:

    Bemmann 1994: K. Bemmann, Füllhörner in klassischer und hellenistischer Zeit (Frankfurt am Main 1994)

    Brommer 1967: F. Brommer, Aion, MarbWPr 1967, 1-5 Taf. 1-3

    Daszewski – Michaelidis 1989: W. A. Daszewski – D. Michaelidis, Führer der Paphos Mosaiken (Nicosia 1989)

    Fränkel 1968: H. Fränkel, Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: F. Tietze (Hrsg.), Wege und Formen frühgriechischen Denkens (München 1968) 1-22

    LIMC I, 1981: LIMC I, 1981, 399-411 Taf. 312-319 s. v. Aion (M. Le Glay)

    LIMC V 1990: LIMC V, 1990, 922 Nr. 4 Taf. 597 s. v. Kairos (P. Moreno)     Abb. 3 

    Pinkwart 1965: D. Pinkwart, Das Relief des Archelaos von Priene, AntPl  IV, 55-65   
    Abb. 1

    Simon 1983: E. Simon, Zeitbilder der Antike, in: Feier zur Verleihung des Ernst Hellmut Vits-Preises (Münster 1983) 17-41. 

    Simon 1988: E. Simon, Eirene und Pax (Wiesbaden1988)      Abb. 2

    Simon 2012: E. Simon, Die Apotheose Homers, in: dies., Ausgewählte Schriften IV (Wiesbaden 2012) 131-139 

    Wamser-Krasznai 2016: W. Wamser-Krasznai, Kairós – den rechten Augenblick ergreifen…in: dies. Beschwingte Füße (Budapest 2016) 117-121

    Weinrich 2008: H. Weinrich, Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens (München 2008)


    [1] Pinkwart 1965, 57 Taf. 29; LIMC  III (1986) 277 Abb. 1 Taf. 222, s. v. a. Chronos  (M. Bendala Galán); Simon 1983, 25.

    [2] Simon 2012, 134 Abb. 1.

    [3] RE 1899 ND, 2481 f.; Simon 1983, 17 f.

    [4] Text: Hugo von Hofmannsthal (1911), Komposition: Richard Strauss.  

    [5] Weinrich 2004, 229-238.

    [6] Simon 1983, 18.

    [7] Aischyl. Ag. 107.

    [8] Eur. Heraklid. 900; RE I, 1 (Stuttgart 1893) 1042.

    [9] Brommer 1967, 3 Taf. 3; LIMC I, 1981, 401 Nr. 7 Taf. 312 (M. Le Glay).

    [10] Hes. theog. 609.

    [11] Goethe, Faust II, 60, Großer Vorhof des Palasts.

    [12] Plat. Tim. 37 d-38 e.

    [13] s. LIMC I, 1981, 400 Nr. 2  Taf. 311; Simon 1983, 28-31 Abb. 15.

    [14] Daszewski – Michaelidis 1989, 67-70 Abb. 48.

    [15] Hom. od. 16.

    [16] Simon 1988, 78 f. (28 f.); LIMC VIII,1, 1997, 573.

    [17] Das Gefäß, in dem man das Wasser für das Brautbad transportierte, Simon 1988, 68 (18) Taf. 7.

    [18] Weinrich 2008, 54.

    [19] Wamser-Krasznai 2016, 117.

    [20] Politeia 546 b.

    [21] Hor. carm. 1, 11. Auf dem Mosaik in Paphos, Haus des Aion, Daszewski – Michaelidis 1989, 69 Abb. 48.sind zwei Formen der Zeit, Aion und Kairos, dargestellt, beide durch Beischrift gekennzeichnet.

    [22] Goethe, Faust I, Studierzimmer.

    [23] M. Proust, A la Recherche du temps  perdu, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; dazu ausführlich Weinrich 2008, 147-150.

    [24] I. Bachmann, Die gestundete Zeit, 1953.

    [25] M. L. Kaschnitz, Nidda, Fragment 1928/29. 

  • Nike oder anonyme Flügelfrau?

    Die in früheren Beiträgen von mir etwas stiefmütterlich behandelte Göttin Nike liegt mir jetzt umso mehr am Herzen, vor allem was Darstellungen mit Flügeln an den Beinen und Füßen betrifft. Wortbildungen und -Kompositionen wie Flügelschuhe, Fußflügel, Schuhflügel, Wadenflügel und geflügelte, beschwingte, befiederte Beine werde ich synonym verwenden. Manche Flügel wachsen scheinbar unvermittelt aus Fersen und Waden hervor, wenn nämlich die Farben aufgemalter Schuhe und Stiefel verblasst und vergangen sind. So drängen sich Bezeichnungen wie „Fußflügel“ oder „Wadenflügel“ auf.

    Die Äußerung, Nike sei zwar stets mit Rücken- aber nicht mit Fuß-Flügeln dargestellt worden, muss in dreierlei Hinsicht revidiert werden[1]:

    1. Für die Zeit vom 5. Jh. v. Chr. an lässt sich diese Regel bestätigen, jedoch mit Ausnahmen: ein um 480 v. Chr. datierter Karneol Skarabäus aus Marion/Zypern zeigt eine laufende Frauengestalt mit geflügelten Schultern, Hüften und Füßen. Das lange Gewand spricht für die Deutung als Nike. Eine Flügelfrau im kurzen Chiton, nur mit Libationsschale, wäre eher als Iris anzusprechen[2].

    2. Es gibt eine flügellose Nike, απτερος, die zu verifizieren der Betrachter auf eine Namensbeischrift, einen agonalen Kontext oder einen entsprechenden literarischen Hinweis angewiesen ist[3].

    3. In archaischer Zeit wurden laufende Flügelfrauen, die mit guten Gründen Nike zu nennen sind, sowohl mit Rücken- als auch mit Fußflügeln dargestellt (Abb. 1. 2. 6).

    Die göttliche Abstammung der Nike attestiert Hesiod:

    Styx, des Okeanos‘ Tochter, gebar, von Pallas empfangen,
    Zelos und Nike, die knöchelschöne, im hohen Palaste.

    Zusammen mit ihren Geschwistern unterstützt sie Zeus gegen die Titanen. Sie  hat fortan ihre Wohnstatt nicht fern von ihm[4].

    Νίκη ist die Göttin des Sieges κατ‘ ἐξοχὴν[5]. Das Orakel auf die Schlacht von Salamis preist neben Zeus auch die Herrin über den militärischen Sieg, πότνια Νίκη[6]. Literarische Quellen und archäologische Zeugnisse[7] feiern die überragende Bedeutung der Siegesgöttin beim sportlichen Wettkampf. Das gilt auch für den musischen Agon, wenn Bakchylides die Göttin mit Versen beschwört[8]. Vasenbilder illustrieren den Erfolg[9]. In der poetischen Dichtung sei Nike identisch mit Athena, sodass sie nie kurzweg Nike, immer Athena Nike genannt werde[10]

    Im Gegensatz zur römischen Victoria, die als Kultgottheit majestätisch thronend das Trankopfer empfängt[11], erscheint Nike eher in untergeordneter Stellung,  dienstleistend als Mundschenkin der Götter, Botin oder Opferdienerin. Sie geleitet den Stier zum Altar und führt auch das Opfer eigenhändig aus[12].   

    Darstellungen der Nike mit geflügelten Füßen und Beinen stammen  überwiegend aus archaischer Zeit.

    Eine unterlebensgroße weibliche Marmorstatue aus Delos (Abb. 1) ist im sog. Knielauf angegeben. Sie trägt ein langes Gürtelgewand und mächtige Rücken-Schwingen. An der rechten Wade erkennt man den Ansatz eines kleinen Flügels. Man hatte in der Nähe der Figur eine Basis mit der Weihinschrift des Archermos und seines Vaters Mikkiades aus Chios gefunden. Aus einem Scholion zu den „Vögeln“ des Aristophanes geht hervor, dass der Bildhauer Archermos aus Chios der erste gewesen sei, der Nike (und Eros) mit Flügeln dargestellt habe[13]. Plinius d. Ä. gibt für die Schaffenszeit der Künstlerfamilie die erste Hälfte des  6. Jhs. v. Chr. an[14]. Die Zusammengehörigkeit von Statue und Basis ist gelegentlich angezweifelt worden[15], doch im Allgemeinen gilt die Delierin als früheste inschriftlich gesicherte Nike-Statue[16]. Es dürfte sich bei ihr auch um eine der ersten Darstellungen mit geflügelten Beinen handeln.

                                     Abb. 1: Nike aus Delos, um 560 v. Chr.
                               Nach Isler-Kerényi 1969, 77. 80 Nr. 129 Taf.  13

    Zusammen mit anderen Architekturfragmenten fand sich eine Marmorfigur, die einmal den First des Apollontempels der Alkmaioniden in Delphi geschmückt hatte. Auch sie ist im Knielauf dargestellt. An der linken Wade setzt ein unvollständig erhaltener Flügel an (Abb. 2). Bei einer solchen Akroter-Figur mit beschwingten Beinen bereitet die Deutung auf Nike keine Schwierigkeiten[17].

                    Abb. 2:  Nike – Akroter-Figur vom Apollontempel in Delphi
                                    Nach Steward 1990, 88. 129  Abb. 204   

    Weitere archaische Akroter- und Sima-Figuren mit Flügelschuhen schließen sich an. Man denkt vor allem an die Terrakotta- Exemplare aus Großgriechenland[18]. Sogar die stark fragmentierte Gestalt der „Karlsruher Nike“ war einmal mit  Flügelschuhen versehen[19].

    Da in archaischer und frühklassischer Zeit verschiedene Wesen mit Schulter-und Wadenflügeln dargestellt wurden, ist die Benennung von einer Namensbeischrift abhängig, etwa bei Eris oder Kastor[20] (Abb. 3)

                     Abb. 3: Attisch-schwarzfigurige Schale, ca. 560-540 v. Chr.
                                      Nach Thomsen 2011, 261 f. Abb. 109

    Dämoninnen wie Gorgo Medusa oder die Harpyien (Abb. 4) lassen sich leicht nach ihrem mythologischen Zusammenhang benennen und sind nicht mit Nike zu verwechseln[21].

             Abb. 4: Harpyien (links die beiden ersten), von den Boreaden verfolgt
                Phineus-Schale Würzburg, nach Schefold 1978, 176 f. Abb. 232

    Unsicher ist die Deutung einer laufenden Flügelfrau ohne Attribute, im kniekurzen Gewand, auf einem kleinen Ton-Altar aus Sizilien (Abb. 5)[22].

    Die zierlichen Parallelexemplare aus demselben Kontext sind mit Reliefs von   Gorgonen im Knielauf und mit mit Fußflügeln versehen[23].

                   Abb. 5: Kleiner Tonaltar (Arula), Kassel, gegen 500 v. Chr.
                                Nach Gercke 1981, 198, 100-102 Abb. 54

    Auf einer schwarzfigurigen Halsamphora (ca. 510 v. Chr.) mit der Darstellung der Athena-Geburt kauert eine weibliche Gestalt unter dem Thron des Zeus[24]. Sie trägt Rücken- und Fußflügel. Einziger Hinweis auf Nike ist die enge Verbindung mit Zeus und Athena, die Benennung daher ungewiss. G. Richter bezeichnet sie als Iris[25].

    Im 3. Viertel des 6. Jhs. v. Chr. entstand eine schwarzfigurige Lekythos mit  einer weiblichen Gestalt in eiligem Lauf, mit weit ausgreifenden Schritten. Sie trägt große Schulterflügel und gegenständige Doppelflügel an den Stiefeln. Ihr Gewand ist ausnahmsweise kurz[26], doch die Kränze in den Händen der beiden flankierenden Personen sind Hinweise auf einen Agon und damit auf Nike.

    Eine Lekythos vom Anfang des 5. Jhs. v. Chr. zeigt zwei Frauen im kurzen Gewand mit Kränzen in den Händen, die in geflügelten Schuhen auf einen sitzenden bärtigen Mann zuschreiten[27].

    Die Tondofigur einer Schale des Töpfers Exekias ist im Knielauf nach rechts unterwegs. Sie trägt Flügelschuhe und wendet den Kopf zurück; dabei scheint sie die linke Hand grüßend zu erheben. Die Mitte des Bildes ist beschädigt, sodass sich nicht sagen lässt, ob die gesenkte rechte Hand einen Gegenstand hielt[28].  

    Auch spätarchaische bronzene Gerätefiguren sind häufig im Knielauf angegeben (Abb. 6). Eine Vertreterin dieser Gruppe trägt über dem Ärmelchiton einen Schrägmantel, der bis zum Gerät herunter reicht und die Figur stabilisiert. Nur die Fußspitzen berühren die bronzenen Voluten, von denen sich die Göttin gleichsam emporschwingt. Hinter ihr breiten sich große Rückenschwingen aus.  

            Abb. 6: Gerätefigur aus Bronze, Nationalmuseum Athen, ca. 510 v. Chr.                            Nach Isler-Kerényi 1969, 63 f. Nr. 114 Taf. 5 

    Der rechte Arm ist parallel zum Flügel angehoben. Die linke Hand liegt auf dem Waden-Flügel.  

    Sicherheit im Hinblick auf die Person der Siegesgöttin gewinnen wir also entweder epigraphisch[29] oder aus einem signifikanten Kontext. Νίκη fliegt mit Kännchen und Schale zur Trankspende herbei; vor allem assistiert sie dem obersten der Götter, Zeus. Trägt sie einen Botenstab, das Kerykeion, so konkurriert sie mit Iris[30]. Andere Spezifika sind Siegeszeichen wie Kranz und Zweig[31] oder ihre Tracht. Im Gegensatz zum kurzen Gewand der Iris[32] ist Nike im Allgemeinen mit einem langen Chiton bekleidet. Zuweilen fächert er hinter ihren Beinen flügelartig auf[33] (Abb. 7).

           Abb. 7: Nike bekränzt Theseus nach seinem Sieg über den Minotauros
         Attische Schale, ca. 470-450 v. Chr. nach Thomsen 2011, 180 Abb. 75 a.

    Auch der römischen Victoria dienen flatternde Gewandbahnen gelegentlich als  eine Art Äquivalent zu den fehlenden Fußflügeln. Der Stoff weht nach hinten, teilt sich auf[34] oder löst sich schwingen-artig von den Beinen, sodass diese wie nackt durch das eng anliegende dünne Gewand schimmern[35].

    Zusammenfassung:

    Weibliche Gestalten mit Fußflügeln bleiben mangels spezifischer Kriterien namenlos (Abb. 5).

    Eris ist durch eine Beischrift ausgewiesen (Abb. 3).

    Gorgonen und Harpyien (Abb. 4) kennzeichnet der mythologische Kontext.

    Nike mit Fußflügeln (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

    1. Weihgeschenk Delos (Abb. 1) In der Weihinschrift Name der Göttin nicht enthalten; andere Schriftzeugnisse.

    2. Weibliche Fußflügel-Gestalten, ’schwebend‘ in höheren architektonischen Regionen, daher als Niken unangefochten, Delphi (Abb. 2)[36].

    3. Bronzene Geräte-Figuren mit Fußflügeln[37], überwiegend im langen Gewand,  Motiv des Schwebens (Abb. 6). 

    4. Weibliche Flügelfiguren im agonalen Kontext[38].

    Quellen:

    Eur. Iph. T. 1497-1499
    Eur. Or. 1691-1693
    Eur.  Phoen. 1764-1766
    Hdt. 8, 77
    Hes. Th.: Hesiod. Theogonie. Werke und Tage. Griechisch und deutsch (Darmstadt 1991)
    Soph. Ant. 147 f.
    Abgekürzt verwendete Literatur und Bild-Nachweis:
    Arafat 1986: K. W. Arafat, Iris or Nike? BICS 33, 1986, 127-133     
    Boardman 41994: J. Boardman, Griechische Plastik. Die archaische Zeit (Mainz 41994)
    Danner 1997: P. Danner, Westgriechische Akrotere (Mainz 1997)
    Gercke 1981: P. Gercke, Funde aus der Antike (Kassel 1981)     Abb. 5
    Gulaki 1981: A. Gulaki, Klassische und klassizistische Nike-Darstellungen. Untersuchung Gur Typologie und zum Bedeutungswandel (Diss Bonn 1981)
    Hölscher 1967: T. Hölscher, Victoria Romana (Mainz 1967) 
    Isler-Krényi 1969: C. Isler-Kerényi, Nike. Der Typus der laufenden Flügelfrau in Archaischer Zeit (Zürich – Stuttgart 1969)     Abb. 1.  Abb. 6
    Kephalidou 1996: E. Kephalidou, Niketes (Thessaloniki 1996)   
    Knapp 1876: P. Knapp, Nike in der Vasenmalerei (Tübingen 1876) 
    N. Kunisch, Die stiertötende Nike (Diss Münster 1964)
    LIMC VI 1992: LIMC VI (1992) 850-904 Nr. 1-730 Taf. 557-606 s. v. Nike (A. Moustaka – A. Goulaki-Voutira – U. Grote)
    LIMC VIII 1997: LIMC (1997) 237-269 Taf. 167194 s. v. Victoria (R. Vollkommer)
    Orlandini 1959: P. Orlandini, Arule arcaiche a rilievo nel Museo Nazionale di Gela, RM 66,1959, 97-104
    Richter 1966: G.M. A. Richter, The Furniture of the Greeks, Etruscans and Romans (London 1966)
    Schefold 1978: K. Schefold, Götter-und Heldensagen der Griechen in der spätarchaischen Kunst (München 1978)     Abb. 4
    Schlesier – Schwarzmaier 2008: R. Schlesier – A. Schwarzmaier, Dionysos. Verwandlung und Ekstase (Regensburg 2008)
    Schürmann 1989: W. Schürmann, Kat. der antiken Terrakotten im Badischen Landesmuseum Karlsruhe (Göteborg 1989)
    Siegesgöttin in Kaisers Diensten. Die Victoria von Fossombrone. Staatliche Museen Kassel (Kassel 2004)
    imon 2016: E. Simon, Opfernde Götter ( Dettelbach 22016)
    Steward 1990: A. Steward, Greek Sculpture (New Haven – London 1990)     Abb. 2               
    Thöne 1999: C. Thöne, Ikonographische Studien zu Nike im 5. Jh. v. Chr. (Heidelberg 1999)  
    Thomsen 2011: A. Thomsen, Die Wirkung der Götter. Bilder mit Flügelfiguren auf griechischen Vasen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. (Berlin – Boston 2011)      Abb. 3 und 7 
    W. Wamser-Krasznai, Flügel an den Füßen, in: Streufunde (Filderstadt 2017) 84-141


    [1] W. Wamser-Krasznai, Beschwingte Füße (Budapest 2016) 48. 56; W. Wamser-Krasznai, Flügel an den Füßen, in: Streufunde (Filderstadt 2017) 124. 133.

     [2] LIMC VI, 857 Nr. 52 Taf. 562; Simon 2016, 95.

    [3]Bei Pausanias bezieht sich die Bezeichnung „Nike Apteros“ merkwürdigerweise auf die Reliefs am  kleinen Tempel “ rechts von den Propyläen“ auf der Athener Akropolis, Paus. 1, 22, 4; ungeflügelte Niken: Pyxis Berlin, Thöne a. O. Taf. 4, 1, Beischrift rechtsläufig; Münze aus Terina, einer Kolonie von Kroton:  ungeflügeltes Mädchen mit Zweig in der Hand, Beischrift Nika, Thöne 1999, 75; Thomsen 2011, 165-177 Abb. 68-73 und 74 d; im Übrigen berichtet Pausanias vom Weihgeschenk des Timon für einen Sieg im olympischen Wagenrennen, einem ehernen „Wagen, auf diesem steht eine Jungfrau, wie mir scheint eine Nike“ Paus. 6, 12. 6; dazu Quellenangaben bei Thöne 1999, 73.  

    [4] Hes. theog. 383-404; Thöne 1999, 15.

    [5] Enstsprechend: vorzugsweise, par ecellence, im eigentlichen Sinne, Knapp 1876, 3.

    [6] Hdt. 8, 77, 2; Pind. Nem. 5, 42. Isthm. 2, 26; Knapp 1876, 2.

    [7] Kephalidou 1996, 204-210. 236 f.  Abb.40-50. 56. 59. 61 b. 62-64. 68-76. 

    [8] Bakchyl. fr 48 (Bergk).

    [9] z. B. attische Pelike mit vier auf den Kitharöden herabschwebenden, inschriftlich bezeichneten Niken, ca. 440 v. Chr., Hölscher 1967, 176 Taf. 16, 8; mit einem Dreifuß auf den Altar herab schwebende Göttin, LIMC VI, 878  Nr. 335 Taf. 585; Simon 2016, 131; Thomsen 2011, 173 f.

    [10] Knapp 1876, 3.

    [11] Denar, 89 v. Chr., LIMC VIII, 252 Nr. 188 f. Taf. 180; Siegesgöttin in Kaisers Diensten, Staatliche Museen Kassel 2004, 53 Abb. 49; anders Knapp 1876, 6 f. mit literarischen Hinweisen auf  Priester der Göttin Nike.

    [12] Simon 2016, 131 und Anm. 63; Kunisch 1964, 7 f.; Hölscher 1967, 176; LIMC VI, 866 Nr. 17o. 171 Taf. 577.

    [13] Schol. Aristoph. Av. 574, Thöne 1999,  17, 32; Boardman 41994, 87 Abb. 103; Isler-Kerényi 1969, 77. 119; LIMC VI, 895-898, Nr. 16. 19; Thomsen 2011, 166 Abb. 67.

    [14] Plin. n. 36, 11 f.

    [15] Thomsen 2011, 165.

    [16] LIMC VI, 853.

    [17] Guide de Delphes. Le Musée (Athènes 1991) 55 f. Abb. 19; LIMC VI, 853. 897 Nr.19 Taf. 560; Steward 1990, 88 Abb. 204. 

    [18] Aus Paestum: LIMC VI, 854 Nr. 32; Danner 1997, 80 Nr. D1 Taf. 40, 1-4. Aus Lokri: Danner a. O. 38 Nr. A83 Taf. 19, 1.

    [19] LIMC VI, 854 Nr. 33 Taf. 561; W. Schürmann, Die Karlsruher Nike – ein Rekonstruktionsversuch, JbBad-Württ 25, 1988, 16-47 Abb. 1-20; ders.,1989, 93 f. Nr. 317 Taf. 54-56 Beil. 3; Antike Kulturen. Führer durch die Antikensammlungen des Badischen Landesmuseums (Karlsruhe 1995) 102 Abb. 97; Danner 1997, 53 f. Taf. 21.

    [20] Eris:Thomsen 2011, 261 f. Abb. 109; Wamser-Krasznai 2017, 124 f. Bild 30; Kastor: attische Randschale, Thomsen 2011, 58 Abb. 66; Wamser-Krasznai 2017, 132 Bild 37.

    [21] Gorgo: Wamser-Krasznai 2017, 86 Bild 2; Harpyien: ebenda 111 Bild 22.

    [22] Gercke 1981, 100-105 Abb. 54.

    [23] Orlandini 1959, 100 f. Taf. 31.

    [24] Isler-Kerényi 1969, 38 Nr. 72; LIMC VI, 857 Nr. 64.

    [25] Richter 1966, 17 Abb. 57.

    [26] Schwarzfigurige Lekythos, 2. H. des 6. Jhs. v. Chr., LIMC VI, 858 Nr. 75 Taf. 564. 

    [27] LIMC VI, 858 Nr. 69, ohne Abb.

    [28] LIMC VI, 852 Nr. 3 Taf. 557.

    [29] Letzteres ist auf die Flächenkunst beschränkt. Thomsen 2011, 165-177. 198 f. Abb. 68-74. 84.

    [30] Thomsen 2011, 169  Abb. 69; ebenso 187 f. Abb. 79 f. „Iris and Nike share a function“, Arafat 1986, 129.  

    [31] Kephalidou 1996, 236 Nr. 132 Abb. 73; LIMC VI, 890 f. Abb. 9 f. 53.57.99.148.156.215.290.301.321.361.415.421.424.446.455 u. v. a.

    [32] Auch hier gibt es Ausnahmen, z. B. Iris bedrängt von Satyrn, Schlesier – Schwarzmaier 2008, 173 Kat. 23.

    [33] Simon 2016, 95; Wamser-Krasznai 2017, 124.

    [34] LIMC VIII, 242 Nr. 27 Taf. 169, einen Schild in den hoch erhobenen Händen, 2.-3. Jh. n. Chr..

    [35] LIMC VIII, 242 Nr. 22 Taf. 169; S. 245 Nr. 65 Taf. 171. S. 245 Nr. 69 Taf. 172.

    [36] Großgriechische Terrakotta-Figuren, z. B. Danner 1997, 80 Nr. D1 Taf. 40, 1-4. Aus Lokri: Danner a. O. 38 Nr. A83 Taf. 19, 1.

    [37] Isler-Kerényi 1969, 56-76 Taf. 5-11.

    [38] Thöne 1999, 80-96 Taf. 8, 2. 3 b. 9, 1. 2a. 10, 3.

  • Grand Tour 1958

    Beim Wieder-Lesen von D. Richters „Goethe in Neapel“[1] bin ich diesmal an dem Begriff „Grand Tour“ hängengeblieben. Damit ist die Kavaliersreise gemeint. die Aristokraten-Sprösslinge, später auch Söhne von wohlhabenden Bürgern, im 18. und 19. Jahrhundert nach Italien, und dort vor allem nach Venedig, Rom und Neapel unternahmen. In Begleitung der hoffnungsvollen jungen Männer waren oft Kunstgelehrte und Literaten, meist Dienerschaft und immer reichlich Gepäck, denn die Reise ging über viele Wochen und Monate. Nicht alle hatten einen so generösen fürstlichen Mäzen wie Goethe, den der Herzog von Sachsen – Weimar – Eisenach bei vollen Bezügen für weit länger als ein Jahr beurlaubte. Man bewegte sich mit der Postkutsche gemächlich vorwärts.

    Als mir mein Vater zum Abitur 1958 eine Italienreise schenkte, nahmen wir natürlich den Zug, und die erste Station war nicht Venedig sondern Florenz. Außerdem mussten die Osterferien, an die Papa als aktiver „Oberstudienrat“  noch gebunden war, ausreichen. Dennoch lässt sich das Unternehmen viele Jahre vor Beginn des Massentourismus, exakt geplant und wohl vorbereitet durch Lektüre und Kartenmaterial, als unvergessliches Erlebnis durchaus mit einer „Grand Tour“ vergleichen.

    Wir brachen gegen Abend aus unserer kleinen Stadt auf und hatten dann  stundenlang Aufenthalt in Frankfurt, bis unser „D-Zug“ abfahren sollte. Es gab ein Kino, und ich erinnere mich, angesteckt von meinem ‚geologischen‘ Vater, an einen faszinierenden Schwarz-Weiß-Film über das Nördlinger Ries. Dorthin machten wir später einen Ausflug, mit Photoapparat und Geologen-Hammer in der Tasche.

    Ende der 50-er Jahre verfügten die „Schnellzüge“ noch über richtige Speisewagen mit eigener Küche. Ein Kellner ging herum und legte einem Bratkartoffeln nach, toll! Auf dem Brenner standen wir mehr als eine Stunde lang im verschlossenen Zug, Höhepunkt der Südtirol-Krise. Kurz zuvor war ein halbes Postamt mit Bediensteten und Bombenpaket in die Luft geflogen. Polizei und Zöllner durchsuchten alles gründlich, sogar die Seifenschachteln mussten geöffnet werden.

    Gegen 17.00 Uhr waren wir in Florenz und pilgerten zu Fuß, die Koffer in der Hand, auf unsere Pension zu. Einmal fragte mein Vater in seinem besten Italienisch ein altes Mütterchen nach dem Weg. Es antwortete: „I bin do a frimd, aber i hob a Kartn in dera Taschn“, das half uns doch! In der Pension gab es „Table d‘ Hȏte, in Anwesenheit der Padrona di Casa. Man wartete mit dem Essen, bis sie „Buon Appetito“ gewünscht hatte. Das Wasser und der ausgezeichnete Wein waren inclusive. Abends wurden die Schuhe vor die Tür gestellt, und morgens holte man sie geputzt herein.

    Am meisten beeindruckte mich der Ausflug nach Fiesole. Die Uffizien haben mich gelangweilt. Palazzo und Ponte Vecchio waren und sind natürlich wunderschön.

    In Rom hatten wir die Empfehlung der Florentiner Pension an ein vergleichbares Etablissement. Es lag im Vatikan-Viertel. Am Gründonnerstag fand eine allgemeine Papst-Audienz in der Peterskirche statt. Pius der XII, sehr gebrechlich – er starb noch in demselben Jahr – wurde hoch an uns vorüber getragen. Zum ersten Mal erlebte ich in einer Kirche Applaus und lautstarke Begeisterung, Evviva!!! Man reichte ihm weiße Mützen hinauf, die er kurz aufsetzte und nach dieser rituellen Geste zurückgab. An Ostern hielt er seine Rede in fünf Sprachen; sein Deutsch war besser als sein Französisch. In der Pension gab es Schokoladeneier und Biskuit.

    Ich sah Tivoli, die Glanzlichter des Nationalmuseums mit dem  Diskuswerfer, damals noch in den Thermen des Diokletian, das Forum und den Palatin, die Caracalla-Thermen und die Michelangelo-Skulpturen, für die ich allerdings rennen musste, weil unser Zug nach Neapel nicht warten würde und die Heiligen ja erst am Ostersonntag wieder enthüllt wurden.

    Neapel und sterben? Na ja. Es war dort etwa 10 Grad kälter als erwartet. Wieder Fußmärsche zu unserem neuen Hotel, das einsam und allein auf einer öden Fläche lag. In jedem Zimmer gab es zwei Heizrippen, die sich sogar mehrmals am Tag erwärmten. Das war dringend nötig! Ich lehnte mich mit dem Rücken daran, wenn ich Postkarten schrieb.

    Papa lief zur Hochform auf: die Flegräischen Felder, Pozzuoli, der Bradyseismos, Monte Nuovo, Vesuv; aber natürlich auch Paestum, Pompeji, Herkulaneum, Capri. Wir wurden überall angestarrt, wohlwollend eigentlich, padre e figlia! Nicht alltäglich. Meine Schuhe – weiße vorn gerundete Ballerina-Slippers – erregten Aufsehen und Heiterkeit. Die Neapolitanerin trug schwarze spitze, hochhackige Schuhe. Was für ein Kontrast! In Rock und Pumps balancierte sie im Damensitz als Sozia auf der Vespa ihres Kavaliers. Helm? Das war noch sehr fern.

    Gefährdet fühlten wir uns nie. Das kam später. 1991 wurden meine Freundin und ich von Halbwüchsigen mit Steinen beworfen, als wir uns zu weit auf ihr Territorium vorgewagt hatten. 1998 traute ich mich in Neapel nur auf die Straße, wenn ich wie eine Athena Promachos gerüstet war, in der Hand nicht einmal eine Plastiktüte.

    Bei unserer Grand Tour hatte auch Ischia auf dem Programm gestanden, war aber buchstäblich ins Wasser gefallen. Ich bin seither noch nicht dort gewesen, habe es aber für den kommenden März gebucht, bei Leben und Gesundheit und wenn die Welt noch steht.

    Ich freu‘ mich ja so!

    [1] Berlin 22013, 9.

  •  

    Im Gegensatz zur Liegestellung in mehr oder weniger horizontaler Körperhaltung, ggf. mit leicht unterstütztem Kopf, meint das „Lagern“ eine Position mit halb aufgerichtetem Oberkörper und erhobenem Kopf, englisch „reclining“, also zurückgelehnt lagern. Dabei stützt sich der Protagonist auf den linken Arm und streckt die Beine, vom Betrachter aus gesehen, nach links. Die Beinhaltung selbst variiert, was zur Unterscheidung in ein „östliches“ und ein „westliches“ Liegeschema führte[1]. Im letzteren Fall ist das linke Bein ausgestreckt, das rechte mit gebeugtem Knie aufgestellt (Abb. 1). Diesem Lagerungsschema folgen die meisten Vertreter einer besonders großen westgriechischen Gruppe, der Tarentiner Symposiasten[2].

     

    Abb. 1: Terrakottafigur eines gelagerten jungen Mannes, Tarent.  Gegen 500 v. Chr. Nach Langlotz 1963, 61 Taf. 23[3].

    Beim „östlichen Schema“ liegen die Beine Seite auf Seite übereinander. Die Stellung der Knie variiert von einer ausgeprägten Beugung (Abb. 2) über Zwischenstufen[4] bis zur unphysiologischen Überstreckung (Abb. 4).

     

    Abb. 2: Bronze. Samos, um 550 v. Chr.
    Nach: Die Antikensammlung Berlin (Mainz 1992) 85 Kat. Nr. 132.

    Gelagerte Frauen sind, wie Fehr konstatiert, in der Plastik selten[5]; auch bestand nicht immer Einigkeit unter den Autoren hinsichtlich der Geschlechtsbezeichnung. So nennt Marangou ein figürliches Gefäß in Form einer gelagerten Person „reclining woman“[6]. Die Gestalt, deren Kopfbedeckung zu einem Ausguss umgestaltet ist, lagert im östlichen Schema, mit leicht gebeugten Knien, ein Rhyton in der linken Hand. Auf die Brust fallen lange Strähnen, eine geschlechtsneutrale Haartracht der Früharchaik (Abb. 1. 2). Weibliche Körperformen sind nicht zu erkennen und das Rhyton wäre ein ungewöhnliches Attribut in der Hand einer Frau. Ähnliches gilt für eine aus Kamiros/Rhodos stammende ausgestreckte Gefäßfigur in London, die in einem früheren Katalog für weiblich gehalten worden war[7]. A. Plassart deutet die Figur einer östlich gelagerten Person mit niederem Polos und Bruststrähnen aus dem Votivdepot des Heiligtums der Hera auf Delos als die Göttin selbst, die hier unter dem Aspekt einer Schirmerin und Repräsentantin der Ehe erscheint[8]. Brüste hat sie nicht, dafür aber einen runden Bauch, ähnlich einer Gelagerten-Figur aus Samos[9]. Dazu hält sie in der linken Hand ein Rhyton. Wie der Autor selbst bemerkt, sind männliche Statuetten als Weihgaben an die Göttin nichts Ungewöhnliches[10].

    S. Besques behilft sich im Zweifelsfall mit einem unbestimmten „personnage“, wie bei einer im östlichen Schema gelagerten Figur mit unspezifischem Oberkörper, langen Locken und einem Rhyton in der Hand[11]. Auch Stillwell bezeichnet Matrizen aus dem Töpferviertel von Korinth vorsichtig als „reclining figure“[12]. Vor allem Haartracht, Polos und Schleier des Exemplars 57 suggerieren Weiblichkeit, während die Formen des nackten Oberkörpers keine klare Bestimmung erlauben[13]. Dass der Polos nicht immer und überall auf Weiblichkeit deutet, zeigt eine ebenfalls aus dem Töpferviertel von Korinth stammende Terrakotta-Gruppe. Der nach östlichem Schema gelagerte Mann trägt einen Polos mit herabfallenden Tänien[14]. Am Fußende der Kline thront eine mit Peplos und Mantel bekleidete Frau. Die Terrakotten aus diesem Viertel datieren in das 4. und 3. Jh. v. Chr.

    Statuetten in Form gelagerter Frauen werden bereits in archaischer und frühklassischer Zeit gefertigt.

    Im „Östlichen Liegeschema“:

                                     Abb. 3: Kerameikos/Athen, ca. 480/70                         Nach: Vierneisel-Schlörb 1997, 36 Nr. 117 Taf. 24

     

    1. Aus einem Skelettgrab vom Kerameikos/Athen stammt der Torso einer nackten auf ihre linke Seite „gelagerten Hetäre“ (Abb. 3). Am jünglingshaften Oberkörper deuten sich kleine Brüste an. Die Beine liegen mit gestreckten Knien locker auf einander. Scharf abgewinkelt zeigen die Arme nach oben; dabei ist der linke Ellenbogen auf eine Art Kissen gestützt, der rechte berührt die Hüfte. Die Hände sind verloren. Stilistisch entspricht die Statuette einer durch den Grabkontext bestätigten Entstehungszeit um 480/70 v. Chr.[15]
    2. Die Figur einer gelagerten jungen Frau (Abb. 4) im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe[16] soll aus Thessalien stammen, dürfte jedoch, nach Landschafts-Stil und Tonfarbe, aus einer attischen Werkstatt hervorgegangen sein. Auch hier ergänzen Frauenbrüste einen schmalhüftigen männlichen Körper. Ein bis auf das angedeutete Schultermäntelchens nacktes Mädchen ist entstanden. Sowohl die Haartracht als auch die Proportionen des Kopfes weisen in die Zeit des Strengen Stils (gegen die Mitte des 5. Jhs. v. Chr.)

    Abb. 4: Gelagertes Mädchen, Terrakotta, 2. Hälfte d. 5. Jhs. v. Chr.                                  Nach Frey-Asche 1997, 38 f. Abb. 21

    3. Eine Parallele aus Orvieto in Paris unterscheidet sich vom letzteren nur durch eine Haube und die abweichende Gestaltung des Stirnhaars, das sich aus Registern von Buckellocken zusammensetzt[17]. Hinweise auf ein Gewand finden sich nicht.

    4. Ebenfalls nur mit dem Schultermäntelchen bekleidet ist eine Frauenfigur in Thessaloniki, die den Typus etwas modifiziert. Die Knie sind leicht gebeugt. Der Kopf neigt sich so weit zur linken Seite, dass eine fehlerhafte Zusammensetzung der Fragmente zu vermuten ist[18].

    5. Bei einer „im Kunsthandel photographierten“ Gelagerten[19] tritt die Diskrepanz zwischen dem plastisch modellierten athletischen Männerkörper und den weiblichen Brüsten besonders stark hervor. Die Beine sind ausgestreckt, mit leicht gebeugten Knien. Vor dem niederen Diadem rollt sich das Stirnhaar zu Buckellocken.

    6. Auf separat gearbeiteter Kline ruht eine voll bekleidete Frau, deren Körper freihändig modelliert ist, während der nach links gewandte Kopf aus einer Matrize abgeformt wurde. Außer einem Chiton trägt sie einen Mantel, der sich an der linken Flanke andeutet und von dem eine Stoffbahn über den Kopf drapiert ist. Die Knie sind leicht gebeugt. Unter dem Schleier treten Buckellocken und ein niederes Diadem hervor. Der Statuetten-Kopf reiht sich in eine große Gruppe thronender und stehender weiblicher Gewandfiguren ein[20], deren Ursprünge vermutlich in Attika liegen. Nach Müller weise die Tatsache, dass ein um etwa 500 v. Chr. datierbarer Kopf mit einem „freihändig und sehr flüchtig“ modellierten Körper verbunden wurde, auf eine böotisch-provinzielle Werkstatt hin[21].

    Im „Westlichen Liegeschema“:

    7. Diese oft beschriebene und abgebildete Statuette (Abb. 5) zeigt einen athletisch gebildeten Jünglingskörper mit weiblichen Merkmalen[22]:

     

    Abb. 5: ca. 490 v. Chr. Berlin, Altes Museum, Inv. 8256

    Aufnahme der Verfasserin[23].

    Am Original sind Spuren eines rot gemalten, an den Seiten herabfallenden Schultermäntelchens zu erkennen[24]. Das in Register aus Buckellocken differenzierte Stirnhaar tritt als dicker Wulst unter dem mäßig hohen Diadem hervor. Die Statuette soll aus Megara kommen, ist jedoch unzweifelhaft in einer attischen Werkstatt im Umkreis der Athener Akropolis[25] entstanden.

    8. Eine vermutlich in Großgriechenland konzipierte bronzene Gefäßrandfigur[26] stellt eine junge gelagerte Frau in vollständiger Kleidung dar. Sie trägt einen durchsichtigen Chiton mit Überschlag und einen faltigen Mantel, der die linke Schulter bedeckt und sich, wie die Rückansicht zeigt, um ihre Beine schlingt. Die Krotalen (Kastagnetten) in den Händen kennzeichnen sie als „ausruhende Tänzerin“[27]. Der leicht gesenkte Kopf wendet sich nach rechts. Das lange Haar ist über der Stirn und im Nacken eingerollt, ein während der Zeit der Frühklassik ein überwiegend an männlichen Gestalten dargestellter Frisurentypus[28]. Auch die Form des Kopfes und das Haltungsmotiv des Oberkörpers weisen in die Zeit zwischen 480 und 460 v. Chr. (Abb. 6).  

     

    Abb. 6: Nach Jantzen, 1937,  4. 18 f. Nr. 26 Abb. 8.9 Taf. 2

    9. Bleiben wir noch bei den bronzenen Gerätefiguren, begeben uns aber nach Etrurien. Vollständig verhüllt, einschließlich des Mundes und der Hände, ist die Statuette einer gelagerten Frau in Hannover wiedergegeben[29].

    Abb. 7: Hannover,  Kestner-Museum

    Nach Gercke 1996, 199 Abb. 253

    Das rechte Bein ist aufgestellt, das linke in liegender Position gegeben. Beide Knie sind gebeugt. Vermutlich entstand die Figur am Übergang vom 5. zum 4. Jh. v. Chr.

    10.  Ebenfalls in Hannover befindet sich ein bronzenes Geräteteil, das ein Mädchen auf dem Rücken eines Widders darstellt[30]. Die nach westlichem Schema Gelagerte hat den linken Arm auf den Kopf des Tieres gelegt. Dieses ‚kniet‘ auf drei gebeugten Beinen und streckt das rechte Hinterbein weit zurück, als ob der Widder dem Mädchen das Lagern auf seinem Rücken hätte bequemer machen wollen. Über Schoß und Beine ist ein Mantel gebreitet. Der unbedeckte Oberkörper zeigt weibliche Merkmale (5./4. Jh. v. Chr.).  

    11. Die Statuette einer jungen Frau in München[31] steht motivisch den Figuren bärtiger Symposiasten aus dem Kabirenheiligtum bei Theben nahe[32]. Wie ihre männlichen Parallelen ist sie nach westlichem Schema gelagert. In der linken Hand hält sie eine Lyra, in der rechten ein männerspezifisches Salbgefäß, den Aryballos. Der Oberkörper ist nackt, „die Brüste sind“, als der Ton noch feucht „und leicht zu bearbeiten war, dem männlichen Körper auf modelliert worden“[33]. Gewelltes Haar, ein Merkmal aus der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr., ist nicht auf weibliche Exemplare beschränkt[34]. In ihrer detaillierten Ausführung übertrifft die profilierte Kline diejenigen der Symposiasten aus dem Kabirenheiligtum. Trotz der motivischen Ähnlichkeit können die drei Stücke kaum aus derselben Matrize hervorgegangen sein, selbst wenn man ihre Bearbeitung nach dem Herausnehmen aus der Form, in „lederhartem“ Zustand, einkalkuliert. Allein die Drehung der Frau aus der Frontalebene heraus spricht gegen die Abformung aus ein und derselben Form. Die Koroplasten hatten vermutlich Skizzenbücher, nach denen sie sich richten konnten, wenn sie sich nicht nur auf ihren eigenen Gestaltungswillen verlassen wollten.

    12. Eine jugendliche Gelagerte aus Apulien ist mit der Bezeichnung „Personnage…allongé à gauche“ nicht auf ihr Geschlecht hin festgelegt[35]. Der Kopf mit Kurzhaarfrisur wurde hinzugefügt. Die Kleidung, Chiton und Mantel, sowie die Körperformen sind die einer Frau. Anders als bei den Abb. 3 und 5 können die Brüste nicht einfach nachträglich appliziert worden sein. Die Statuette soll Ende des 1. Jhs. v. Chr. entstanden sein.

     

    Kleiner Exkurs zu Deutungs-Fragen:

    Wie wir bestätigen können ist die Zahl der Statuetten in Form gelagerter Frauen klein; sie muss auch in der Antike überschaubar gewesen sein[36]. Offenbar war der Bedarf gering. Zudem konnte man einen männlichen Körper mit geringer Mühe in einen weiblichen umbilden (Abb. 4 und 5). So konnten Aufträge zur Anfertigung einer Gelagerten von den Koroplasten „just in time“ ausgeführt werden.

    Im Allgemeinen interpretierte man die Figuren weiblicher Gelagerter  als Hetären. Eine Darstellung wohlanständiger bürgerlicher Frauen mit entblößtem Körper ist im griechischen Kulturkreis nicht denkbar. Das gilt sogar für Göttinnen, wenigstens in archaischer und frühklassischer Zeit. Ungeachtet der weitgehenden Nacktheit hält E. Rohde die Gelagerte Berlin, Inv. TC 8256 (Abb. 6) für eine Göttin. Sie begründet das mit dem Diadem, das dem Kopfschmuck thronender und stehender weiblicher Terrakotta-Figuren von der Athener Akropolis vollkommen gleicht. Einige dieser Statuetten tragen auf der Brust eine Aegis und belegen so ihre besondere Nähe zur Stadtgöttin Athena[37].

    Eine andere Deutung, nämlich als Brautvotive oder Beigaben in Gräber unverehelichter Mädchen schlägt A. Schwarzmaier vor, wobei sie ebenfalls von der Statuette Berlin 8256 (Abb. 6) ausgeht. „Stephané und Schleier passen zu einer Braut besser als zu einer Hetäre.“ Dem wäre leichter zu folgen als der kulturanthropologischen These[38], nach der die Weihung einer weiblichen Figur „in aufreizender Haltung“ als Ersatz für die Ehe- und Mutterschaftsfreuden, die einem Mädchen während seiner allzu kurzen Lebenszeit entgangenen seien, zu gelten hätten.

    Im Laufe der Jahre und mit wachsender Entfernung von den griechischen Kernlanden hat anscheinend die Bereitschaft, gelagerte Frauen mit Göttinnen zu assoziieren, ein wenig zugenommen.

    12. Bei den Terrakotten von Morgantina/Sizilien führt ein kleiner Schritt von einer stehenden Kore mit Polos und Schleier, Fackel und Ferkel zu einer Gelagerten, die ebenfalls mit Polos und Schleier geschmückt ist und als „reclining Persephone“ bezeichnet wird.

    Wie in Korinth ist auch in Westgriechenland und Sizilien das Tragen eines Polos nicht auf weibliche Figuren beschränkt. In Tarent zum Beispiel dient dieses Attribut auch zur Bekrönung unzweifelhaft männlicher Symposiasten[39]. Möglicherweise gilt das ebenso für Morgantina, wo manche/r Gelagerte auf Grund der unklaren Oberkörper-Verhältnisse für beide Geschlechter in Anspruch genommen werden kann[40].

    13. Kekulé beschrieb gelagerte Frauen mit üppigen weiblichen Merkmalen aus Akrai, Centuripe und Syrakus[41]. Eine von ihnen, auf deren Schulter ein kleiner geflügelter Eros hockt, ist sicher als Aphrodite anzusprechen. Wegen ihrer reizenden Formen gäbe man diesen Namen gern noch einer zweiten Figur aus demselben Kontext. Sie trägt einen Polos und lüftet kokett den Schleier. Eine dritte hält in der linken Hand ein Ei oder eine Frucht[42].

    14. Das Fragment einer Artemis mit Hirschkuh kann in diesem Zusammenhang nur unter Vorbehalt genannt werden, denn der untere Teil der Gruppe fehlt und das Haltungsmotiv der Göttin ist unklar. Die vorhandenen Beispiele einer Artemis auf dem Rücken von Hirschkühen reichen vom Ritt im Damensitz bis zum entspannten Lagern[43].

    15. In dem Fall eines Terrakotta- Fragments in Amsterdam geht R. A. Lunsingh Scheurleer von einer auf der Kline gelagerten Artemis aus. Bogen, Jagdkleidung und die Kopfbedeckung, eine Löwenfellkappe, definieren sie als Italische Artemis[44]. Dass die Göttin als Lagernde gedacht ist, geht aus dem angedeuteten Schwung ihres Körpers hervor; worauf sie sich aber stützt, bleibt völlig unklar[45].

    16. Mit einem Figurengefäß in Form einer nach westlicher Manier gelagerten hässlichen Alten befinden wir uns bereits im fortgeschrittenen Hellenismus[46]. Vor der Vettel, die ein Trinkgefäß an den Mund setzt, steht eine Lagynos. Für Nachschub ist also gesorgt.

    Weitere Überlegungen zur Deutung:

    Bei der Kat.-Nr. 9 handelt es sich offenbar um Helle, die Schwester des Phrixos, deren tödlicher Sturz in die Meerenge der Dardanellen den zweiten Namen gab: Hellespont. Hier entspricht die gelagerte Frauenfigur also einer Heroine.

    Wenn wir nun die „ausruhende Tänzerin“ (unsere Kat.-Nr. 8, Abb. 6) als Werktätige im ältesten Gewerbe der Welt betrachten, müssen wir ihr innerhalb der Berufsgruppe wenigstens eine gewisse Spezialisierung zubilligen.

    Die in unserer Kat.-Nr. 10 besprochene bronzene Gerätefigur einer gelagerten Frau zeichnet sich durch eine Ganzkörperverhüllung einschließlich der Hände und des Mundes aus. Nur die Augen und die Stirnpartie sind unbedeckt (Abb. 7). Im Katalog firmiert sie ohne Weiteres als Bankett-Teilnehmerin[47]. Das verwundert schon deshalb, als ihr die eingewickelten Hände eine Teilhabe an Speis und Trank verwehren. Die Ärmste müsste sich denn füttern lassen. Den ggf. mythologischen Hintergrund kennen wir nicht. Haben die patriarchalisch-griechischen Gepflogenheiten im 4. Jh. v. Chr. die ‚freieren‘ etruskischen Sitten bereits so weit beeinflusst, dass eine Frau, wenn ihr schon die Teilnahme am Symposion erlaubt wird, wenigstens kein Vergnügen dabei haben soll? Oder – falls es sich um eine Hetäre handelt – lag vielleicht ein besonderer Reiz in einer subtotalen Verhüllung?

    Die jugendliche Gelagerte aus Apulien (Kat.-Nr. 11) wurde von Besques in die Nähe der Jünglinge Louvre D/E 3604 und 3605 gerückt, doch die Vergleichbarkeit beschränkt sich auf die Mantel-Drapierung über der linken Schulter[48]. Das Mädchen, das weder einer Hetäre noch einer Göttin zu entsprechen scheint, war vielleicht eine Grabbeigabe oder das Weihgeschenk einer Adorantin.

    Die bauchige Weinflasche vom Gefäß in Form einer gelagerten Alten (Kat. Nr. 16) ist eng mit den in Alexandria zu Ehren des Dionysos gestifteten Lagynophorien, dem Flaschenfest, verbunden[49]. Man denkt an die Statue der Trunkenen Alten, die in römischen Kopien des 1. und 2. Jhs. n. Chr. überliefert ist und bald als heruntergekommene Hetäre, bald als ehemalige dionysische  Amme oder Priesterin gedeutet wird[50].

    Ein Kapitel für sich bilden die in Gruppen mit Männern oder zusammen mit  Geschlechtsgenossinnen gelagerten Frauen.

    1.Eine Terrakotta-Gruppe in München setzt sich aus einem zum Symposion gelagerten Paar und einem kleinen am Ende der Kline stehenden Mundschenk zusammen[51]. Der Mann ist mit einem Wulstkranz, die Frau mit einer kunstvoll drapierten Haube geschmückt. Sie halten Trinkschalen in den Händen (nur beim Mann erhalten). Beide sind mit nacktem Oberkörper wiedergegeben. Obwohl kein Zweifel an der Profession der Gefährtin[52] besteht, belegt der gemeinsame Mantel, der über Schoß und Beine gebreitet ist und zwischen den Schultern sichtbar wird, eine über das Geschäftliche hinaus gehende Harmonie des jungen Paares. Die Gruppe entstand in Athen, etwa in der 1. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.

    2.Das Schulterbild auf einer Hydria des Malers Phintias gilt als Darstellung zechender Hetären. Die mit entblößtem Oberkörper gelagerten Frauen geben sich dem Kottabos-Spiel hin[53] (Abb. 8). Dabei gilt es, den letzten Tropfen, die Neige, so aus dem Trinkgefäß zu schleudern, dass eine im labilen Gleichgewicht auf einer Stange balancierende Metallscheibe getroffen wird und scheppernd herunterfällt – ein beliebtes Amüsement während des Symposions.

     

    bb. 8: Attisch, ca. 525-510 v. Chr. München

    Nach Reinsberg, 1989, 113 Abb. 61

    3.Im Gegensatz zu den griechischen Kernlanden, wo die Anwesenheit der legitimen Gattin bei einem Symposion unvorstellbar ist, nimmt in Etrurien die bürgerliche Ehefrau ganz selbstverständlich in festlicher Kleidung am Gelage teil (Abb. 9).

    Abb. 9: Tomba dei Leopardi, Tarquinia, ca. 480 v. Chr.

    Nach Ducati[54] 1941, 8 Taf. 15 a.

    4.Die Frauen auf einer im 6. Jh. v. Chr. für Etrurien hergestellten sog. pontischen Amphora sind vollständig, einschließlich ihrer Kopfbedeckung, dem Tutulus, in große Mäntel gehüllt[55]. Abweichend vom üblichen Schema lagern sie auf dem Rücken. Von ihren Klinen, die mit dicken gemusterten Polstern bedeckt sind, hängen Stoffbahnen über das Fußende herab. Davor stehen kleinere Klinen mit Stoffen, die in Quasten enden. Weitere Textilien mit gemusterten Borten stapeln sich auf einem schmalen hohen Beistelltisch zwischen den Klinen. An der Wand hängen Schnabelschuhe. Das Ambiente wirkt eher häuslich als symposial. Mythologische Szenen wurden ebenfalls diskutiert[56].

    5.Hetäre oder bürgerliche, zum Symposion gelagerte Frau? Eine der spätarchaischen Terrakotta-Reliefplatten aus Velletri zeigt eine Gelage-Szene mit einer nach westlichem Schema gelagerten Frau[57]. An ihrem nackten Oberkörper deuten sich Brüste an. Den rechten Oberarm schmückt ein Reif. Schoß und Beine sind von einem Gewand bedeckt, das dieselbe hellere Farbe aufweist wie der Tutulus, während Körper und Gesicht in dunkelbraunem Ton erscheinen. Die Frau wendet den Kopf dem neben ihr auf der Kline lagernden Mann zu, der ihr grüßend oder gestikulierend den rechten Arm entgegenstreckt. In seiner linken Hand hält er anscheinend eine Schreibtafel.

    Auch in Etrurien werden Hetären an Symposien teilgenommen haben; doch nach der Art wie dieses Paar miteinander kommuniziert, fragt man sich, ob hier nicht ein gebildeter Mann eine ebenbürtige Partnerin ins Gespräch zieht?

    6.Angesichts der gelagerten Paare auf den berühmten Sarkophagen aus Caere/Cerveteri stellen sich keine derartigen Fragen (Abb. 10).

     

    Abb. 10: Ehepaar- Sarkophag aus Cerveteri, Rom, Villa Giulia

    Etwa 530/520 v. Chr. Nach Sprenger – Bartoloni, 116 Abb. 114

    Der bärtige Mann wendet sich seiner Frau zu und legt ihr den Arm um die Schultern. Sie trägt ein langes Gewand, Schnabelschuhe und den Tutulus.

    Ein zweiter „Ehepaarsarkophag“ gleicher Qualität aus derselben Zeit befindet sich im Louvre in Paris[58].

    Eine Quintessenz:

    Pauschale Benennungen, seien es Hetäre, Göttin, Heroine, Braut o. a., werden den gelagerten Frauen offenbar so wenig gerecht, dass es sich lohnt, jede einzelne Vertreterin dieser inhomogenen Gruppe für sich zu betrachten und sie im Hinblick auf ihre Deutung näher zu überprüfen.

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    [1] Fehr 1971, 120. 123.

    [2] Wamser-Krasznai 2013, 24 Anm. 100.

    [3] Wamser-Krasznai 2013, 137. 219. 246  Abb. 1. 84; Bencze 2010, 25 f. Abb. 4; Iacobone 1988, 54 Taf. 42 b; Neutsch 1961, 156 Taf. 66, 2 u. v. a.

    [4] Mollard-Besques 1954, 47 Nr. B 293 f. Taf. 32.

    [5] Ders.1971, 124; ebenso Stillwell 1952, 104 Anm. 3.

    [6] Marangou 1985, 124 Abb. 181.

    [7] Maximova 1927, 136 f. Abb. 28; anders Higgins 1954, 54 f. Nr. 81 Taf. 16.

    [8] „Es gab ein Bett der Hera im Prodromos des Heraion von Argos. Paus. II, 17, 3“ Plessart 1928, Délos 11, 158 f.  Abb. 115.

    [9] Sinn 1977, 38 Nr. 63 Taf. 22.

    [10] Gefäßfigur eines knienden Mannes mit langen Bruststrähnen; weiblich Fragment einer stehenden Terrakottafigur mit Angabe der weiblichen Geschlechtsmerkmale, Plessart 1928, Délos 11, 158 f. Abb. 111. 113.

    [11] Aus Elaious, dem thrakischen Chersonesos an den Dardanellen, Mollard-Besques 1954, 47 B 293. 294 Taf. 32.

    [12] Stillwell 1948, 105 Nr. 56-59 Taf. 38 f.

    [13] Ähnlich Stillwell 1952, 110 Nr. 26 Taf. 22.

    [14] Stillwell 1952, 111 Nr. 30 Taf. 20.

    [15] Schwarzmaier 2015, 311 f. Abb. 2; Vierneisel-Schlörb 1997, 36 Nr. 117 Taf. 24, 1.2.

    [16] Frey-Asche 1997, 38 f. Abb. 21; von Mercklin, AA 1928, Sp. 373 f. Nr. 70 Abb. 88.

    [17] Besques 1994, 28 Abb. 42; Charbonneaux 1936, 12. 23.  Nr. 24 Taf. 22; Mollard-Besques 1954, 83, C 7 Taf. 56.

    [18] Sindos, Katalogos tis ektesis, Archaiologiko Mouseio Thessalonikis (Athena 1985) 35 Nr. 41.

    [19] Bulle 31922, 102 Abb. 73 Taf. 146; jetzt in Boston, Frey-Asche 1997, 39.

    [20] Graen – Recke 2010, 45 f. Abb. 11; Higgins 1954, 175 f. Nr. 655-660 Taf. 85 f.; Mollard-Besques 1954, 4 Nr. B 7 Taf. 3. böotisch z. b. ebenda 15 Nr. B 87 Taf. 11; Sinn 1977, 32 Nr. 40 Taf. 14; Wamser-Krasznai 02.10.2017, Thronende Frauen, T I-4, homepage Antikensammlung Uni Gießen, Terrakotten.

    [21] Müller 1925, 151 Nr. 110 Abb. 47.

    [22] Köster 1926,  55 f. Taf.  28; Nicholls 1982, 103 N 1, 1 Abb. 25a. fermer ebenda Exemplar Akropolis N 1, 204 Taf. 25 b; Rohde 1968,  39 Taf. 13; Schwarzmaier 2015, 306 Abb. 1..

    [23] Bildbearbeitung H. Zühlsdorf, Gießen.

    [24] Furtwängler 1892, 108 Abb. 27; Winter 1, 1903, 191, 4.

    [25] Anm. 10 und 12; ferner Knoblauch 1937, 182 Nr. 353 (ohne Abb.); Nicholls 1982, 89-122 Abb. 23-29;  Schneider-Lenyel 1936, 20 Abb. 38, Megara, „liegende Göttin“; Prins de Jong 1944, 38 Abb. 35.

    [26] Jantzen 1937,  4. 18 f. Nr. 26 Abb. 8. 9 Taf. 2; Küthmann AA 1928, 690 Abb. 12; Stillwell 1952, 104 Anm. 3; Stutzinger – Wamers 2012, 91 f. Abb. 88.

    [27] Jantzen 1937, 19.

    [28] Bronzestatuette des blitzschwingenden Zeus aus Dodona, Bruns 1947, 36 f. Abb. 24; Bronzefigur des Bogen schießenden Apollon, Bari; Aktaion von einer Metope des Tempels E in Selinunt; Jüngling von Agrigent, letztere Langlotz 1963, 73 Taf. 73. S. 69 f. Taf. 54 f. S.75 Taf. 82 f. S. 82 Taf. 102.

    [29] Gercke 1996, 198 f. Abb. 253.

    [30] Gercke 1996, 199 Abb. 254.

    [31] Hamdorf 2014, 154 D 9.

    [32] Besques 1994, 82 Abb. 67; Schmaltz 1974, 95. 171 Nr. 245 Taf. 20; Sieveking 1937, 89-94 Taf. 22.1.

    [33] Sieveking 1937, 91.

    [34] Besques 1994, 53 Abb. 23; Hamdorf 2014, 151 f. D 2. D 4; Poulsen 1937, 49 Abb. 27. S. 53 Abb. 31. S. 59 Abb. 38; ähnlich bei männlichen  Symposisten: Besques 1994, 82  Abb. 67; Vorläufer zu Beginn des Jahrhunderts, Jeammet 2003, 102 Abb. 59.

    [35] Besques 1986, 58 Taf. 49 b.

    [36] Fehr 1971, 124.

    [37] Rohde 1968, 17. ebenda auch Abb. 12; Nicholls 1982, 93-122 Abb. 23-29.

    [38] Schwarzmaier 2015, 306-312.

    [39] Wamser-Krasznai 2013, 238 Abb. 64.

    [40] Bell 1981, 132-138 Taf. 17-22, mit einem Exkurs zum Mythos der chthonischen Gottheiten Demeter und Kore im griechischen Westen, ebenda 98-103; Pugliese Carratelli 1996,  750 Nr. 383.

    [41] Kekulé 1884, 67 Taf. 25, 1-4.

    [42] „un pomo“, zit. bei Kekulé ebenda.

    [43] LIMC II (1984) 673 f. Nr. 685-697 Taf. 500 f. s. v. Artemis (L. Kahil).

    [44] Wamser-Krasznai 2018, 51.

    [45] Lunsingh Scheurleer 1986, 71 f. Abb. 72; für Information dazu danke ich G. Jurriaans-Helle, Amsterdam; Wamser-Krasznai 2018, 51.

    [46] Aus einer Privatsammlung, Kunze 1999, 78 f. Abb. 15.

    [47] Gercke 1996, 198 f. Abb. 253.

    [48] Besques 1986, 58 Taf. 48 a und b.

    [49] Zanker 1989, 50 f.

    [50] Wamser-Krasznai 2015, 64 f. Abb. 7. 8.

    [51] Hamdorf 1996, 82 f. Abb. 104; ders. 2014, 160 D 28.

    [52] Gefährtin=Hetäre.

    [53] Boardman 1981, 40 Abb. 38.

    [54] So auch Brendel 21995, 255 f. Abb. 178; ferner Sprenger – Bartoloni 1977, 127 f. Abb. 158-161.

    [55] Bonfante 1975, 205 Abb. 147; de Marinis 1961, 9 Nr. 1 Taf. 3 a; Hampe – Simon 1964,  35-40 Taf. 12. 15; Steingräber 1979, 219 Ne. 98 Taf. X, 2.

    [56] Streit der Göttinnen bei der Hochzeit von Thetis und Peleus, Hampe – Simon 1964,  35-40 Taf. 12. 15; Achilles unter den Frauen von Skyros, Bonfante 1975, 205 Abb. 147.

    [57] Fortunati 204 Nr. 17; Torelli 2000, 595 Nr. 166, Abb. 209 b; Torelli 2009, 6 Abb. 6 a.

    [58] Pallottino 1992, 352-357. 411 Nr- 539.

  • Versöhnliches.

    Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Mein Vater war wieder im Amt, hielt Schule, gab Nachhilfe-Unterricht und saß in einer Menge Gremien. Die emigrierten Klassen- und Studienkameraden hatten ihn nicht vergessen; auch seine ausgewanderten Schülerinnen hielten ihm die Treue und besuchten ihn, wenn sie der Weg wieder einmal in dieses Deutschland führte. Aus Amsterdam kamen Päckchen mit Dingen, die es bei uns noch nicht so ohne Weiteres gab, Sonnenbrillen, Taschenschirme, Lederhandschuhe. Aus Brasilien trafen nahrhafte Dinge ein, Kaffee natürlich, einmal ein Kalbsnierenbraten – wie der es unangefochten zu uns geschafft hat weiß ich nicht mehr, aber daran erinnere ich mich gut, dass er wunderbar geschmeckt hat und uns glänzend bekommen ist.

    Die „alde Mädcher“, wie man in Darmstadt sagte, übertrugen ihre Anhänglichkeit auch auf mich, die Tochter, und deren Freundinnen und Partner. Petúr („Peter der Fünf- vor- Zwölfte“) war völlig unbefangen und als Ungar an der Wiedergutmachungs-Problematik nicht ganz so nah dran. Daher folgte er ohne Weiteres den Aufforderungen zu einem Gegenbesuch und ebnete mir den Weg. So konnte auch ich zusammen mit einer Freundin die Einladung zum Übernachtungsbesuch annehmen. Es ging uns sehr gut in Baltimore. Frau Gertrud hatte ihr Deutsch nie vernachlässigt, führte uns zu ihren Kindern und in der Stadt herum und instruierte uns, wie wir unsere Ziele am besten erreichen konnten; vor allem genossen wir das großartige archäologische Museum.

    Mit ihrem Mann war es etwas schwieriger. Er hatte Vorbehalte, bevorzugte die englische Sprache und war zwar höflich, aber distanziert. Glücklicherweise erfuhren wir, dass unsere Gastgeberin sich über hitzefeste Teegläser freuen würde, die sie jenseits des großen Teiches nicht bekam. So konnten wir ein wenig Dank abstatten. Gertruds Mann sammelte Briefmarken. Darum kümmerte sich meine Freundin, die auch den Versand übernahm, umso lieber, als mit ihrem geläufigen Amerikanisch schon in Baltimore ein guter Kontakt zum Hausherrn entstanden war. Es gab auch eine Geschichte von der Rettung einer Schulkameradin durch ihre Mutter, die jener während eines konspirativen Treffens eine Adresse zugeflüstert hatte. Das geheime Gespräch muss ungefähr dort stattgefunden haben, wo sich in unserer kleinen Stadt jetzt die Stolpersteine befinden. Die Kameradin hat es rechtzeitig geschafft.

    Petúrs Mutter besaß ungarische und polnische Wurzeln, war aber in Belgien aufgewachsen, wo sie während des Krieges fast ihre ganze Ersatzfamilie verlor. Einer deutschen Schwiegertochter gegenüber hätte sie leicht Ressentiments hegen können, doch das lag ihr fern. Sie sprach mit mir ein leicht flämisch gesprenkeltes Deutsch, bis ich selbst genügend Ungarisch gelernt hatte.

     

  •  

    Der junge Fähnrich István Krazňai dient in der Leibgarde der Kaiserin Maria Theresia in Wien und sieht während eines Kontrollgangs, wie sich ein Frauenzimmer in lebhaftem Gespräch aus dem Fenster beugt. Das runde Hinterteil wölbt sich ihm verlockend entgegen, er kann nicht widerstehen und haut kräftig drauf. Die Gestalt fährt herum und  – o Schreck! – es ist die Kaiserin. Er bricht ins Knie und stammelt: „Majestät, wenn Ihr Herz ebenso hart ist wie Ihr Hintern, dann bin ich ein verlorener Mann.“  Aber sie: „So verloren sehen Sie mir gar nicht aus…kommen Sie doch mal…“. Von Stund‘ an tritt er in „innere Dienste“…

    Einem On dit zu Folge hatte Maria Theresia 16 Kinder von 18 Männern. Sie vergaß keinen von ihnen, die Geschichte geht weiter. Im Alter von etwa 60 Jahren, was damals wirklich alt war, ruft sie alle ihre Liebhaber zusammen. Sie trägt ein kostbares Gewand, das mit 18 Knöpfen aus Brillantsplittern besetzt ist. Im Nu öffnet sie alle Knöpfe, lässt ihr Kleid fallen und jeder der anwesenden Männer erhält einen Knopf. Sie tragen ihn in einem Ring am Finger und haben damit jeder Zeit Zutritt zur Kaiserin.

    Krazňai ist bis dahin nur Vítéz, ein frei Geborener, für dessen Unterhalt und Waffen die Königin sorgt (bekanntlich ist sie ja in Ungarn nicht Kaiserin sondern Königin, K. und K.). Jetzt beschenkt sie ihn mit einem namhaften Anwesen, das ihr – mit Verlaub – gar nicht gehört, im Niemandsland, gyepű, zwischen der Österreich-Ungarischen Monarchie und dem Kiewer Großherzogtum (Russland). Dazu erhält der Vitéz noch einen endlos langen gräflichen Namen, nach der Kraszna, einem Nebenflüsschen der Theiss, und einer gleichnamigen Burg auf einer höchst unzugänglichen Bergspitze. So aber lautet der Name: „Vitéz alsó-krasznai és felső-krasznai továbbá kraszna-horkai krasznai KRASZNAY“. Davon ist nach dem Sieg des Sozialismus nur noch ein schlichtes „Krasznai“ übrig.

    Selbst wenn die Geschichte erfunden wäre, hätte sie ihren Charme.

    Aber es gibt diese Knöpfe! Der jetzige Eigentümer Petúr Krasznai hat den seinen noch einmal neu und solide fassen lassen. Eines Tages hält er sich in einem überfüllten Warschauer Bus an der oberen Haltestange fest und neben seiner Hand mit dem funkelnden Ring wird die Stange von einer weiteren männlichen Hand, die ebenfalls mit einem Maria-Theresien-Ring geschmückt ist, umklammert. „Dann sind wir wohl verschwägert???!“

    Der Ring wird gewöhnlich an den ältesten Krasznai-Sohn weitergegeben. Petúr hat für seinen Knopf eine weit bedeutsamere zukünftige Verwendung gefunden, nämlich in einer Knopfsammlung, möglicherweise in einem Knopf-Museum, einer Initiative unserer Nichte, einer promovierten Juristin.

     

    Dr.med. Dr.phil. Waltrud Wamser-Krasznai

    Vereidigte Burgschreiberin „von und zu“ Kraszna-Horka