Kategorie: Prosa

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    Europeans

    What we have acquired we easily can loose,
    what we have built can decrepit
    everything we have learnt we can forget.
    However, if we help someone in need,
    this  persists forever.

    The noblest form of giving is generosity,
    which is the habit of giving freely
    without expecting anything in return.

    Copyright Dr. André Simon

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Was wir erworben haben, können wir leicht verlieren,
    was wir aufgebaut haben, kann zusammenbrechen.
    Alles, was wir gelernt haben, können wir vergessen.
    Wenn wir aber jemandem in Not helfen,
    währt das für immer.

    Die vornehmste Form zu geben ist Großzügigkeit,
    das ist die Angewohnheit zu schenken,
    ohne eine Gegengabe zu erwarten.

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    My name is Artiste.  A long, long time ago I lived together with my sister Announce in the countryside. Evil people offended us and separated us from our family and our children. We were in a desperate state, so the Creator transformed us into birds. Announce became a swallow, and I became a nightingale. Announce proclaims spring every year in the cities and stays there. I   remained in the countryside singing.

    Announce came to me in the springtime and gave me an advice:          She said: “Stop singing with your sweet voice for the simple peasants and goatherds. They do not appreciate your tunes. Come with me to the city to sing for the rich and well-dressed gentlemen and ladies”

    I replied: “My dear, have you forgotten that because of those heartless people we lost our families and our children. The simple peasants love my music.

    If the people from the cities would like to hear me, they should come here to the countryside. They would avoid the malodorous city air, and have the privilege of smelling violets and other wild country flowers.

     

    Thoughts on music

    A musician is a skilled and adept performer with musical ability. A true musician gets inspiration from his soul.

    Angels overwhelm all kind beings placing a singing nightingale into their hearts. This is how music conquers their hearts.

    Time stands still, or more accurately, music provides the illusion of time.

    However, in despair, when our souls are in total darkness, Mozart and other composers enlighten our way with a host of candles.

    Music saves our desolate souls ,and is one way to unite people.

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dr. Dietrich Weller

    Mein Name ist Artiste, der Künstler. Vor langer, langer Zeit lebte ich mit meiner Schwester Announce, das heißt Ankündigung, auf dem Land. Schlechte Menschen beleidigten uns und trennten uns von unseren Familien und unseren Kindern. Wir waren in so verzweifelter Verfassung, dass uns der Schöpfer in Vögel verwandelte. Announce wurde eine Schwalbe und ich eine Nachtigall. Announce kündigt jedes Jahr in den Städten den Frühling an und bleibt dort. Ich blieb auf dem Land und sang weiter.

    Announce kam im Frühling zu mir und gab mir einen Rat: Sie sagte:  „Hör auf, mit deiner süßen Stimme für die einfachen Bauern und Ziegenhirten zu singen. Sie schätzen deine Melodien nicht. Komm mit mir in die Stadt, um für die reichen und gut gekleideten Herren und Damen und singen.“

    Ich antwortete: „Meine Liebe, hast du vergessen, dass wir wegen diesen herzlosen Leuten unsere Familien und Kinder verloren haben? Die einfachen Bauern lieben meine Musik. Wenn die Leute aus den Städten mich hören wollen, sollen sie hierher aufs Land kommen. Sie würden die stinkende Stadtluft meiden und das Privileg haben, die Veilchen und andere wilde Blumen zu riechen.

    Gedanken über Musik

    Ein Musiker ist ein begabter und geschickter Darsteller mit musikalischen Fähigkeiten. Ein wahrer Musiker erhält seine Inspiration aus seiner Seele.

    Engel überwältigen alle freundlichen Lebewesen und senken ihnen eine Nachtigall in ihre Herzen. So erobert die Musik ihre Herzen.

    Die Zeit steht still, oder genauer gesagt, schafft Musik die Illusion der Zeit.

    In der Verzweiflung jedoch, wenn unserer Seelen sich in völliger Dunkelheit befinden, erleuchten Mozart und andere Komponisten unseren Weg mit einem Bündel von Kerzen.

    Musik rettet unsere vereinsamten  Seelen und ist ein Weg, um Menschen zu vereinen.

     

     

     

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    Dr. med. Günter Struck,

    geboren 25.06.1923, gestorben 14.06.2017

    Mit Trauer haben wir die Nachricht erhalten, dass unser Mitglied und Freund Dr. Günter Struck verstorben ist. Er war eines der ältesten Mitglieder unseres Bundesverbandes und über all die Jahre eine wichtige Stütze der Aktivitäten im Verband. Wir verdanken ihm sehr gute literarische Leistungen, freundliche Begegnungen und erinnerungswürdige Gespräche. Für seine Verdienste wurde er 2006 mit der Schauwecker-Medaille ausgezeichnet.

    In dankbarem Gedenken

    Dr. Dietrich Weller

    Nachruf von Frau Dr.  Ulrike Zuber

    Wer jemals schön und gut,
    versinkt und verflüchtigt nicht.
    Echo und Widerschein
    halten Erinnerung fest.                                               (Alfred Rottler)

    Im Sommer 1993 tagte der Verein der katholischen Ärztearbeit im Erfurter Augustinerkloster. Ich hatte gerade meine Kündigung bekommen, weil der Landkreis Erfurt nach der Gebietsreform mich nicht mehr brauchte. Durcheinander von der Ereignissen der vergangenen Tage und nicht ahnend, was alles auf mich zukommen würde, beschloss ich, einige Vorträge im Augustinerkloster anzuhören. Dabei lernte ich das Ehepaar Drs. med. Dorothea und Günter Struck kennen. Die Unterhaltung mit ihnen gab mir etwas Mut, und Dr. Struck lud mich ein, im September 1993 nach Fulda zu kommen, um an der Tagung des BDSÄ  teilzunehmen. Das tat ich, und so wurde ich mit einem Gedichtbeitrag in den Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte BDSÄ aufgenommen. Das ist nun 25 Jahre her, aber ich habe das für mich so wesentliche Erlebnis nie vergessen.

    Es entstand eine regelrechte Freundschaft, und jedes Jahr trafen wir uns zu den Jahrestagungen, zwischendurch auch zu einer Lesung der Landesgruppe NRW in Köln und der Hessen in Frankfurt/Main. Günter schrieb, und Dorothea malte, eine ideale Ergänzung (z.B. Pyrmonter Blütenblätter Ginta Verlag 1993).

    Auch zu den Jahrestagungen des BDSÄ waren ihre Bilder oft ausgestellt und fanden Beachtung und Bewunderung.

     Günter Struck erschien mir immer wie ein Fels in der Brandung, der mit seinem Humor die Übersicht behielt und der nicht so leicht zu erschüttern war.

    Im Alter von fast 94 Jahren ist er am 14.06. dieses Jahres in Köln verstorben. Seine Frau wird sich mit ihrer großen Familie trotz aller Trauer dankbar so mancher humorvollen Begebenheiten erinnern.

     Ich auch und ebenso die Mitglieder des BDSÄ, die ihn kennengelernt haben.

    In alter Verbundenheit

    Dr. med. Ulrike Zuber, Erfurt

  • Mein Kamerad

    Der Kameraden gibt es nicht viele im Leben.
    Ich meine die Richtigen.
    Die, mit denen man sozusagen durch „dick und dünn“ gehen kann.

    Und mein Kollege und Medizinmitstreiter, dieser „Doc“, war so einer.
    Nun ging er auf die Rente zu, die Altersrente.

    Aus diesem Grunde hatte ich mich um eine Praxisvertretung bemüht, bekommt man doch Harthau und Umgebung mit seinen 4 Pflegeheimen nicht als alleinige Hausärztin in den Griff.

    Und da war sie.

    Eine niedliche Südamerikanerin, schon 12 Jahre in Deutschland, stellte sich dieser Aufgabe.

    Das gefiel nun meinem Kollegen außerordentlich gut!

    Wollte er ab Januar 2014 seinen Dienst bei mir beenden, entschied er sich nun, bis März zu arbeiten. Ihm lagen seine Patienten so am Herzen, und die korrekte Übergabe machte es auch erforderlich.

    Dann nahte der März, mein Kollege unterbreitete mir das Angebot, bis Juni arbeiten zu wollen, Fabiola, so hieß die junge Kollegin, bräuchte bestimmt noch Einarbeitungsunterstützung.

    Mir war es recht.

    So entspannte sich die Lage in der Behandlung des doch kräftigen Patientenzustroms.

    Wir visierten den Juni 2014 an. Und lustig ging es weiter. Nun zu Dritt im Dienstplan.

    Ich stellte dann den Antrag bei der Kassenärztlichen Vereinigung, ohne Anträge geht es in Deutschland bekanntlich nicht.

    Der Brief war geschrieben, per Einschreiben 10:00 Uhr in der Post.

    Am nächsten Tag kam mein Kamerad in das Dienstzimmer, offerierte mir, alleine würden wir es doch noch nicht schaffen, er würde gern bis Dezember 2014 arbeiten wollen.

    So.

    Ich telefonierte.
    Anhaltend.
    Hartnäckig.

    Bis ich die Tresen- und Postdame der Kassenärztlichen Vereinigung dazu bewegen konnte, das Einschreiben aus dem Postfach der Sachbearbeiterin der KV zu fischen, es zu zerreißen und damit das Ganze zu stoppen.

    Nun ist es Oktober.

    Die Kündigung steht an.

    Ich bin gespannt.

    Es ist im Gespräch, mein Doc möchte zu unser Unterstützung ab Januar 2015 elf Stunden wöchentlich weiter arbeiten.

    Das nennt sich wahrer Kamerad.

    P.s.:

    Wir schreiben das Jahr 2017, mein Arzt-Kamerad arbeitet immer noch mit uns zusammen, auf die 3-monatigen Kündigungsfristen an die KV verzichte ich aber seither.

     

    Diese Geschichte stammt aus dem Buch „Kill the ill“, Teil 2, von Benita Martin.

     

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    Life is …

    Row, row, row your boat
    Gently down the river,
    Merrily, merrily, merrily,
    Life is but a dream                                                                                                                                                                        

    This song known as a nursery rhyme is based on the Chinese popular song YIU, YIU, YIU, YIU DOU NGIPU KIU (Row, row, row, row by the bridge to Grandma’s house). The grandmother is to transmit their experiences to the grandchildren.

    It would be nice, if this passage had such a quality, which could flow from her to the grandchildren, just as water from one vessel, which is connected to another vessel, flows, until the water level is the same in both of them.

    As many others, this children song has taught the generations of kids the basic life’s lessons. In this song:

    Rower are you

    Your boat signifies your life

    You are not rowing on one occasion, but…….

    Row, row, row, means: you are continuously ‘rowing’ during all your life.

    The river represents the time of the entire life’s journey. Each instant the river is renewed like the time too. Heraclitus of Ephesus (535 BC– 475 BC) noted that everything flows (πάντα ῥεῖ-) and is summed up in his mysterious statement „Ever-newer waters flow on those who step into the same rivers.“ Consequently,” tempus fugit “(time flies), or as the ancient Roman poet Vergil expressed: FUGIT INREPARABILE TEMPUS (it escapes, irretrievable time).          This is proverbial warning, therefore “carpe diem” (seize the day).

    Merrily, merrily, merrily, – your rowing is gently and slowly, not arrogant or imposed, but allowing it to go with a flow of the river. With our merrily (cheerfully) approach, we have the ability to make a dream-like our life’s journey. Therefore ………

    Life is but a dream. Life is solely a dream. However, by our kindly attitude towards the others our dream might be marvelous too. 

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dr. Dietrich Weller

    Leben ist …

    Rudere, rudere, rudere dein Boot
    sanft den Fluss hinunter.
    Fröhlich, fröhlich, fröhlich,
    Das Leben ist nur ein Traum.

    Dieses Lied, bekannt als Kinderreim stammt von dem chinesischen Volkslied Yiu, Yiu, Yiu, Yiu Dou Ngipu Kiu (rudere, rudere, rudere neben der Brücke zu Großmutters Haus). Die Großmutter soll ihre Erfahrungen an die Enkelkinder weitergeben.

    Es wäre reizvoll, wenn diese Passage so gestaltet wird, dass sie von der Großmutter zu den Enkeln fließen könnte, gerade so wie wenn Wasser von einem Gefäß, das mit einem anderen verbunden ist, fließt, bis der Wasserspiegel in beiden gleich hoch steht.

    Wie viele andere hat dieses Kinderlied Generationen von Kindern die grundlegenden Lebenslektionen gelehrt. In diesem Lied

    Ruderer bis du.

    Dein Boot bedeutet dein Leben.

    Du ruderst nicht nur bei dieser einen Gelegenheit, sondern

    Rudere, rudere, rudere bedeutet, dass du ständig durch dein ganzes Leben ruderst.

    Der Fluss steht für die Zeit deiner gesamten Lebensreise. Jeden Moment wird der Fluss erneuert wie die Zeit auch. Heraklit von Ephesus (535-475 v. Chr.) schrieb, dass alles fließt (πάντα ῥεῖ) und zusammengefasst wird in der geheimnisvollen Behauptung Immer neue Wasser überströmen alle, die in denselben Fluss steigen.[1]

    Folglich Tempus fugit – es flieht die Zeit, oder wie der alte römische Dichter Vergil es ausgedrückt hat: Fugit inreparabile tempus – die Zeit flieht unwiederbringbar, sie flüchtet und kann nicht wieder gewonnen werden. Dies ist eine sprichwörtliche Warnung, deshalb carpe diem – erfasse den Tag. 

    Merrily, merrily, merrily  – dein Rudern ist sanft und langsam, nicht arrogant oder aufgezwungen, aber es erlaubt dir, mit der Strömung des Flusses zu schwimmen. Mit unserer fröhlichen, heiteren Weise haben wir die Fähigkeit, einen Traum wie deine Lebensreise zu erschaffen. Deshalb …

    Das Leben ist nur ein Traum. Das Leben ist ausschließlich ein Traum. Jedoch kann er durch deine freundliche Art gegenüber den Anderen auch ein wunderbarer werden.

     

    [1] Anmerkung des Übersetzers:

    Im Deutschen gibt es das Sprichwort: Du kannst nie in denselben Fluss steigen.

    Im Deutschen gibt es den feinen Unterschied zwischen der gleiche und derselbe. –
    Am Beispiel erklärt: Fritz hat das gleiche Auto wie Peter. – Das heißt, es sieht identisch aus (gleiche Marke, gleicher Typ, gleiche Farbe etc.), aber wenn man genau hinschaut, hat es z.B. eine andere Motornummer und ein anderes Kennzeichen, es ist also nicht dasselbe Auto, es ist nur das gleiche Auto.  Wenn aber Fritz sein Auto an Peter ausleiht, fährt Peter mit demselben Auto wie Fritz. –
    Grundregel: Dasselbe gibt es immer nur einmal, das gleiche kann es sehr oft geben. –
    Dann können wir das obige Zitat so formulieren: Du kannst immer in den gleichen Fluss steigen, aber nie in denselben!

    Und wenn wir schon dabei sind, „grammatikalisch Haare zu spalten“: Das gleiche schreibt man getrennt, dasselbe schreibt man zusammen. Begründung: gleiche gibt es als eigenständiges Wort (z.B. gleiche Fenster), selbe gibt es nicht als eigenständiges Wort.

     

     

     

     

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    Waltrud Wamser-Krasznai: Hier wird gebliwwe!

    zur Moderation Gehen oder Bleiben, Dietrich Weller

     

    Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich in meinem Text wie in der Überschrift gelegentlich in mein ordinäres, vertrautes Oberhessisch verfalle. Es ist die Antwort auf eine Frage, die ich meinem Mann, der über mindestens zwei Staatsangehörigkeiten verfügt und auch sonst mit allerlei ‚Hunden gehetzt‘ ist, einmal im Jahr stelle. Sein belgischer Großvater nämlich hatte ihn als jungen Burschen gefragt, ob er nicht in Flandern bleiben und Chef seines Familienbetriebs, einer Schokoladenfabrik, werden wolle. Darauf meinte Petúr:

    Opa, nach dem nächsten großen Krach werde ich in Frankfurt schon wieder einen  Sparkäfer fahren, während Du noch deine Schubkarre schiebst. Meinst Du nicht auch, ich sollte lieber dort bleiben? Da antwortete der kluge, erfahrene Opa: Junge, Du bist der einzige in der Familie, der Grips hat. Nichts wie zurück nach Frankfurt mit Dir!

    Am 3. Oktober 1989, dem Jahr, als dieses Datum bekanntlich noch nicht mit einem Feiertag gleichzusetzen war, hatte ich mich im Bezirk Karl-Marx-Stadt, dem späteren Kreis Chemnitz, ein wenig verfahren und musste nach dem Rückweg Richtung Autobahn Eisenach- Hersfeld fragen. Ich kam mit einem netten älteren Sachsen ins Gespräch, der mich förmlich anflehte: „Ach bleiben Sie doch hier, was für eine Praxis könnten Sie haben; uns laufen ja die Ärzte alle weg!“ Für einen Moment war ich durchaus nachdenklich, musste dann aber sagen: Wenn ich mich jetzt nicht beeile, werden meine Patienten zu Hause Schlange stehen bis auf den Marktplatz. Um 16.00 Uhr beginnt meine Sprechstunde und es ist leider schon 11.00!

    Zur Zeit erlebe ich in Hessen, dass archäologische Kollegen, die aus befristeten Jobs oder wegen Arbeitslosigkeit in das Vereinigte Königreich aufgebrochen waren, um dort dauerhafte Stellungen anzutreten, nun wegen des Brexit zurückströmen. Was werden sie hier vorfinden? Ihr Gesichtskreis muss sich verändert haben. Vielleicht verstehen wir einander zunächst gar nicht. Denken wir nur an die unterschiedliche Art, in Deutschland oder in den USA an eine Aufgabe heran zu gehen. Hier bei uns ist der Weg das Ziel. Auch ich bin mit dieser Einstellung aufgewachsen. So wichtig das Ergebnis auch ist, es würde doch etwas fehlen, wenn nicht schon die Arbeit am Projekt so spannend wäre und so viel Freude bereitete! Für Amerikaner dagegen zählt eins: das Resultat, und nur dieses, ohne Umwege und seitliche Arabesken.

    Unser Land und den Medizinbetrieb verlassen und anderswo neu anfangen? Dazu sind 10% unserer Landsleute bereit, überwiegend Personen mit dem nötigen Geld und mit international konvertierbarer Ausbildung. Trotzdem können sie nicht erwarten, als Auswanderer gleich die „Trepp‘ enuff  ze falle’“. Bis zu einer ernsthaften Anstellung dürften fünf Jahre vergehen, 15 Jahre sogar, um in dem ursprünglichen Beruf Fuß zu fassen und weiter zu kommen[1]. Unsere Vorstellungen von der Bedeutung einer Promotion oder Habilitation sind veraltet. Die Stellen-Besetzung funktioniert häufig Kraft Ernennung und die Besoldung erfolgt nach dem Motto: „Sprichst Du umsonst oder bringst Du das Geld mit?“

    Gehen oder Bleiben – es gibt objektive und subjektive Gründe dafür. Junge Menschen sind flexibel und richten sich nach der ökonomischen und politischen Situation. Das ist schon gut so. Die Alten beharren lieber auf ihren Gewohnheiten und versuchen das Vertraute möglichst zu bewahren. In einem alten Lied aus dem evangelischen Kirchengesangbuch, bei dem die Qualität des Textes und die Schönheit der Melodie einander in seltener Weise ergänzen[2], heißt es: „Verricht‘ das deine nur getreu“. Wenn wir das von uns sagen können, nämlich das Unsere getan zu haben oder noch zu tun, dann bleibt uns nur zu wünschen: „Noch ein bisschen weiter so!“

    Gehen oder Bleiben hat aber gerade für Schriftsteller-Ärzte auch andere Aspekte als politische, ökonomische oder soziale, nämlich einen literarischen. Wer hat etwas zu diesem Thema geschrieben, und wann?

    „Wahrgeworden
    die Weissagung der Zigeunerin

    Dein Land wird
    dich verlassen
    du wirst verlieren
    Menschen und Schlaf

    wirst reden
    mit geschlossenen Lippen
    zu fremden Lippen

    Lieben wird dich
    die Einsamkeit
    wird dich umarmen.“

    Das Gedicht heißt „Einsamkeit II“ und stammt aus der Feder von Rose Ausländer. Ich begegnete der Dichterin, die damals als solche noch fast unbekannt war, im Jahr 1972. Sie war meine Patientin in der Rheumatologie. Außer den Folgerungen, die man unschwer aus ihrem Namen ziehen konnte, wusste ich gar nichts von ihr. Mit dem Gedichtbändchen, das sie mir schenkte, konnte ich noch nicht viel anfangen und widmete ihm nicht genügend Aufmerksamkeit. Weit wichtiger war mir, dass ich es hinbekam, ihr mehrfach ohne größere Katastrophen Blut abzunehmen. Sie hatte nicht nur miserable Venen, sondern war überhaupt eine recht schwierige Frau. Übrigens handelte es sich bei dem Land, von dem sie, wie es im Gedicht heißt, verlassen worden ist, nicht um Deutschland. Vielleicht hatte sie ihre heimische Bukowina im Visier, aber eher noch die Vereinigten Staaten, die ihr einmal wegen allzu langer Abwesenheit die amerikanische Staatsangehörigkeit entzogen. Gestorben ist Rose Ausländer in Düsseldorf, wo sie seit 1965 lebte.

    Bleiben wir noch für einen Augenblick bei der Abnahme von Blut, diesem „ganz besond’ren Saft“. Ein „Tröpfchen“ davon besiegelt den Vertrag zwischen Mephisto und dem von ihm für die ewige Verdammnis vorgesehenen Faust. „Was kann die Welt mir wohl gewähren“ fragt der Rastlose, der ewig Unbefriedigte[3]:

    „Aus dieser Erde quillen meine Freuden,
    Und diese Sonne scheinet meinen Leiden.“

    Irgendwann endet es dann so:

    „Zum Augenblicke werd ich sagen:
    Verweile doch, du bist so schön!“

    Also bleiben? Hier wird gebliwwe!

     

    [1] Für Informationen und bewegte Diskussionen zu diesem Thema danke ich meinem Mann, Petúr L. Krasznai, Dipl. Wirtschaftsingenieur, Butzbach und Budapest.

    [2] Georg Neumark, Wer nur den lieben Gott lässt walten, um 1641.

    [3] J. W.  Goethe, Faust I und II.

  • Ich meine
    dass ich sage
    was ich meine
    aber ich weiß
    das ich nicht immer
    meine
    was ich sage
    und auch nicht sage
    was ich meine
    Manchmal erkenne
    ich erst wenn ich etwas sage
    was ich wirklich meine…
    In der Kluft zwischen
    meinen und sagen
    erscheint mein Spiegelbild
    ich erkenne mich
    wie sich Narziss erkannte
    – wenn er sich denn wirklich erkannte –
    beim Blick in das Wasser
    Ich hoffe nur
    dass sich das was ich sage
    aber nicht meine
    nicht zur echten Lüge entwickelt

    Das ist gar nicht so einfach, habe ich inzwischen durch die Duplizität eines Vorfalles erkannt. Ich muss dazu etwas ausholen. Also: ich nehme an zwei Arbeitsgruppen teil, die sich regelmäßig treffen. Inhalt und Art der Arbeit ist fast identisch, die TeilnehmerInnen sind es nicht. Auf eine Gruppe freue ich mich schon im Voraus, was mich nicht hindert, fernzubleiben, wenn ich zu müde oder anderweitig beschäftigt bin. Die andere Gruppe: reine Pflichterfüllung, auch wenn ich einzelne Teilnehmer gerne sehe und hinterher immer etwas „herauskam“. Ich weiß nicht, warum das so ist und anscheinend habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Einmal wurde es schlussendlich ganz stark, als nämlich das Treffen abgesagt wurde. Ich… freute mich! Wahrscheinlich, um das schlechte Gewissen zu kompensieren, sagte ich: “Oh je, wie schade!“ Ich dachte, ich höre nicht richtig! Der Ton, in dem ich es sagte, war pure Heuchelei! Ich habe nicht nur nicht gesagt, was ich meine, sondern… ich habe gelogen. Lügen finde ich schlimm! Ich muss besser wahrnehmen, was ich eigentlich meine, wenn ich etwas sage! Ich benutzte meine gerne-bei-ihr-sein-Gruppe als Übungsfeld. Auch hier passierte es, dass ein Treffen verschoben wurde. Was sagte ich? „Toll, dass ihr als neuen Termin einen ausgesucht habt, wo ich schon besetzt bin. So habe ich einen Abend frei!“ Alle verstanden es nicht nur, sondern waren im Gegenteil froh, dass mein Bedauern nicht so groß war, dass wir nun neu auf Terminsuche gehen mussten. Und sie meinten wirklich, was sie sagten!

     

    Helga Thomas

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    KRANK? GESUND? HOCHSENSIBEL?

    Zwischen normal und krank. . . Nein, da befindet sich nicht der Zustand des Gesundseins… Gesund und krank sind Gegensätze – auch dazwischen befindet sich nicht das Normale. Ist denn das Normale a priori gesund? Oder: ist das aus der Norm Gefallene denn krank?

    Zwischen normal und krank befindet sich die ganz einzigartige Individualität, sie kann krank sein, auch gesund, nur normal ist sie nun einmal nur bis zu einem bestimmten Punkt. Beziehungsweise wenn diese Individualität noch nicht sehr gekräftigt ist, legt sie sich die Maske, die Rolle (im Jungschen Sinne Persona) des Normalen an, ein Schutz wie ein Regenmantel bei Regenwetter…

    Je weiter  entwickelt diese Individualität ist, um so weniger ist sie normal. Aber ist sie deshalb krank? Ja ist das nicht der Irrtum vom vorletzten und letzten Jahrhundert? Wenn der individualisierte Mensch erfolgreich ist, akzeptiert man es, spricht nicht mehr von Krankheit, sondern… von Genialität! Genie und Wahnsinn! Nein, kein Wahnsinniger a priori ist ein Genie und wenn das Genie nicht der Norm entspricht, ist es nicht unbedingt wahnsinnig. Doch darüber mag ich  jetzt nicht nachdenken, denn sonst packt mich der Zorn denn… wie viele Jugendliche, Kinder, junge Erwachsenen wurden wegen dieser Anschauungen nicht nur in ihrer Entwicklung gehemmt, sondern krank gemacht!

    Wer in zwei Welten beheimatet ist (sei es sein eigener Innenraum, sein Unbewusstes, die geistige Welt, die Anderswelt, die Zwischenwelt), wird zwangsläufig zum Grenzgänger ohne im psychiatrischen Sinne ein Borderline zu sein. Wer mit seinem inneren Du spricht, ist nicht unbedingt schizophren, wer immer wieder zum Quell des schöpferischen Werkes zurückkehrt, schaut, nachdenkt, nachspürt, nach innen lauscht, weil er es noch nicht richtig gestalten kann so, dass der unbekannte, unsichtbare Auftraggeber zufrieden ist, ist nicht unbedingt ein Narziss. Vielleicht ist er ja von all diesen Beschäftigungen erschöpft, aber nicht unbedingt depressiv! Ich als Psychotherapeutin möchte gerne leidenden Menschen (gleich ob sie krank sind oder nicht) zu besserer Lebensqualität verhelfen (wie toll, wenn sie ihren Weg wieder finden, vielleicht sogar den Sinn des Umwegs verstehen), vor allem möchte ich den gesunden Kern in jedem individuellen Menschen entdecken und… dann dem ganz Außergewöhnlichen, dem nicht Normalem zum Durchbruch verhelfen. Selbst wenn es destruktiv sein sollte, wer stark ist, erkennt es selbst, kann es zurückhalten oder wandeln, ohne krank, verrückt zu werden. Das ist meine Hoffnung, ich habe es erlebt und erlebe es immer wieder.

    Als ich diese Überlegungen niederschrieb, hatte ich noch nicht bemerkt, dass sie sich als Einführung eignen für meine Beschäftigung mit dem Thema der Hochsensibilität.

    Gehören vielleicht die folgenden Überlegungen auch dazu?

    Was ist der Grund, dass wir, und auch Fachleute, so schnell unseren Mitmenschen, aber auch uns selbst, Diagnosen anheften, die oft kränkend und damit krank machend sind? Ich will nicht bagatellisieren , denn ich gehöre durchaus zu den Menschen, die für Prophylaxen sind, also gerne auf Nummer sicher gehen und nicht erst aktiv werden, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Wer könnte aus welchem Grund so schnell (und ungeprüft) Diagnosen bereit haben? Aus Angst, Unsicherheit? Wie der Verbraucher, der das eingeschweißte Nahrungsmittel am Tag des letzten Verkaufstages entsorgt, ohne daran zu denken, dass es noch weitere (mindestens) drei Tage ohne Gesundheitsgefährdung verzehrt werden kann? Ich habe mich das oft gefragt – manchmal wirken die Diagnosen (ich spreche von psychiatrischen Diagnosen) wie ein Gefälligkeitsgutachten, vor allem, wenn sie den Angehörigen gegenüber geäußert werden. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und jetzt hatte ich die Idee einer möglichen Erklärung:
    Je besorgniserregender die Diagnose, um so kranker unsere Mitmenschen (wollen wir ihn bestrafen oder beschützen, indem wir ihn fast unmündig machen?), aber umso großartiger ist auch der Therapeut, der ihn von dieser Krankheit heilt! Kann das wirklich ein Grund sein oder . . . bin ich heute besonders boshaft?

     

     

     

     

     

     

  • An meine Mitmenschen, die in der Öffentlichkeit (neben mir!) telefonieren

    Sie stören mich. Ihr stört mich. Vor allem wenn es nicht nur Telefongespräche sind, da gibt es ja im Allgemeinen Hörpausen, aber wenn es ausführliche Sprachmitteilungen sind… wisst Ihr eigentlich, dass Ihr Exhibitionisten seid? Das wäre nicht so schlimm, nur…   was mich wirklich ärgert: ich werde gezwungenermaßen zum Voyeur! Ist das nicht auch eine Art Freiheitsberaubung? Zumindest ist es Hausfriedensbruch! Auch im öffentlichen Tram.

    Gerade dachte ich, dass wär vielleicht ein Beitrag für die Lesung zum Thema: „Gehen oder bleiben“

    Ja, in solchen Situationen würde ich gerne gehen, aber warum eigentlich ich? Sollte ich vielleicht dem telefonierenden Mitmenschen sagen: „Möchten Sie nicht lieber woanders ungestört reden?“ Überhaupt, die Lösung: ich fange an – nein, nicht zu telefonieren – aber zu reden, zu ihm, den telefonierenden! Oder: ich nehme mein iPhone und täusche ein Gespräch vor, ich sage in normaler Lautstärke meinem imaginären Zuhörer, wie es mir so geht, vielleicht erzähle ich ihm auch, was ich gerade gehört habe? Vielleicht – und das wäre wirklich was – regt sich dann jemand über mich auf… Und dann entsteht ein richtiger Lärm im PST – Zugabteil!

    Aber vielleicht nehme ich den angebotenen Erziehungsauftrag nicht wahr, sondern übe mich neben Toleranz auch im Abgrenzen! Aber Geräusche kann ich nicht draußen vorlassen!

    Ich werde gehen, obwohl ich bleibe! Ich werde die Ebenen wechseln, nicht im Zug, aber in mir. Entweder abtauchen, in die Tiefen des eigenen Unbewussten oder mich emporschwingen zu geistigen Höhen… Ja, das werde ich tun… Ich werde nachdenken, vielleicht vorausdenken, mich auf den Ort meiner Ankunft einstellen… Ich darf dann dort nur nicht vergessen, gleich zu Hause anzurufen, dass ich gut gelandet bin.

     

    Helga Thomas

     

  • Das Licht

    Verschiedene kleine Begebenheiten und einzelne Gedanken veranlassten, dass mir plötzlich eine meiner ersten Kurzgeschichten einfiel (um genau zu sein meine zweite, die ich mit knapp 16 Jahren schrieb, es war jetzt vor 58 Jahren). Ich erinnerte mich an die Gesamtkomposition, an das Geschehen, durch das für meine Protagonistin plötzlich alles ganz anders war, aber ich erinnerte keine Einzelheiten, keine Worte. Erstaunlicherweise fand ich meine Kurzgeschichte ganz schnell. Objektiv gesehen schien mir mein Werk besser als vermutet, es reizte mich, sie heutigen Zuhörern vorzulesen. Ilse, genannt Ille, ist ein 17-jähriges typisches Mädchen der damaligen Zeit (vor 58 Jahren). Sie wohnt im achten Stock eines Hauses, im Haus gegenüber wohnt ein junger Mann, in den sie sich verliebt hat.

    Zuerst hatte sich Ille über dieses Haus geärgert, weil es ihre sonst so freie Sicht versperrte, aber jetzt kann sie nicht oft genug hinüber blicken. Das Leben war gleich viel schöner, weil sie wusste, dass es “ ihn“ gab. Trat Ille ins Zimmer, galt ihr erster Blick gleich dem Gegenüber. Sie wusste, es war kindisch, aber sie freute sich darüber, dass das Licht bei „ihm“ im Zimmer brannte.

    Ille hat mit ihrem Vater Krach.

    Als sie wieder im Zimmer war, hielt Pa ihr wortlos den Mantel, ihre Büchertasche und einen gepackten Koffer entgegen. Dann trat er zum Schreibtisch, überreichte ihr einen Scheck und einen Brief an ihre Tante Emma. „Hier. Ich habe von dir frechem Ding erst mal eine Weile genug. Du ziehst für einen Monat zu Tante Emma und übergibst ihr den Brief und den Scheck. Ich werde mich regelmäßig erkundigen, ob du zur Schule gehst.“

    Ille ist sprachlos. Jetzt wird sie also buchstäblich rausgeschmissen. Sie geht langsam aus ihrem Zimmer. Der Vater blickt fassungslos auf seine Tochter. Er hat sie doch nur aus dem Haus geschickt, damit sie endlich ihre Fehler einsieht und sich entschuldigt. Ein lauter Knall zeigt, dass Ille die Wohnung verlassen hat. Jetzt steht sie im Treppenhaus.

    Ille geht nun die acht Stockwerke hinunter, begegnet auf jedem Stockwerk Mitbewohnern oder Besuchern. Ihr Wesen und ihr Leben wird uns so etwas deutlicher durch diese Begegnungen. Aber wo soll sie hin?

    Wenn sie nun nicht zu Tante Emma zieht, wo dann hin? Umkehren und Vater um Entschuldigung bitten ist ebenso unmöglich. Da fällt ihr Blick zufällig durch das Flurfenster auf das gegenüberliegende Haus. Bei „ihm“ im Zimmer ist Licht. Es scheint ihr vertrauensvoll zu zunicken.

    Im fünften Stock weiß Ille, dass sie zu „ihm“ gehen wird. Jetzt ist es im Flur dunkel. Lichtdauer ist abgelaufen, aber Ille drückt nicht auf den Knopf. So im Dunkeln kommt das Licht von „ihm“ viel besser zur Wirkung.

    Während sie weiter Stockwerk für Stockwerk runtergeht, denkt sie voraus.

    Ille will nun zu Andreas gehen. Aber was soll sie sagen? Sie kennt ihn doch gar nicht richtig? Aber das sind für Ille keine Probleme. Sie wird anklopfen, eintreten und sagen: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, dass ich sie störe, aber ihr Licht brannte und flösste mir so viel Vertrauen ein und ich weiß sonst nicht, wo ich hin soll.“ Einfach wegschicken kann er sie ja dann auch nicht.

    Ille kommen Zweifel:

    Aber wenn das Licht aus ist und Andreas im Dunkeln sitzt, was soll sie dann machen? Sie wird nichts weiter sagen als: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber könnten Sie nicht das Licht an knipsen?“ Und dann wird sie alles das sagen, was sie vorher auch sagen würde.

    Inzwischen ist sie schon im zweiten Stock.

    Jetzt steigen Ille die ersten Zweifel auf. Wenn sie auf der Straße sieht, dass das Licht gar nicht mehr brennt, was dann? Ja, dann würde sie nicht zu Andreas gehen. Aber darüber will sie sich noch nicht den Kopf zerbrechen.

    Und dann ist sie auf der Strasse

    Auf der Straße ist nicht mehr so viel Verkehr. Ille kann sie gleich überqueren. Kurz vor der Haustür blickt sie noch nach oben, nur um sich zu versichern, dass das Licht immer noch brennt. Aber so viel sie sucht, sie kann es nicht finden. Ille tritt einen Schritt zurück und da sieht sie auch sein Zimmer, aber das Licht brennt nicht mehr. Sie dreht sich um und geht wieder zu ihrem Haus. Wo soll sie nun hin? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass es keinen anderen Weg als den zu ihren Eltern gibt. Zu einer Freundin möchte sie nicht und nur in den Straßen herum treiben, davor hat Ille Angst. 

    Im vorletzten Stockwerk hat Ille ein Spiegel Erlebnis, Sie wird Zeugin eines Streites zwischen ihrer Freundin und deren Eltern. Nachdenklich geht sie weiter. Es hat sich etwas geändert, Sie erkennt nicht nur eigenes, sondern auch Fehlverhalten der Eltern.

    Ille steht vor ihrer Wohnung. Dreimal klopft sie kurz, es ist das allgemeine Erkennungszeichen, an die Tür. Der Vater öffnet. Als ob es das Selbstverständlichste der Welt sei, nimmt er ihr den Mantel und den Koffer ab. Ille überreicht ihm den Brief und den Scheck mit den Worten: „Entschuldigt bitte, dass ich wiederkomme, aber das Licht brannte nicht mehr und ich gehe nicht gerne ins Dunkel.“

    Pa, obwohl er nichts verstand, nickte mit dem Kopf und führte sie in ihr Zimmer. Ille tritt ein und blickt wie immer, diesmal aber vollkommen unbewusst, zu „ihm“ hinüber.

    Und das Licht, das ihr so viel Vertrauen eingeflößt und ihr den Weg zur Vernunft gewiesen hatte, brannte wieder.

    Helga Thomas

    Geschrieben im Januar 1959, für die Lesung beim BDSÄ-Kongress in Gummersbach 2017 vorbereitet 31.3.2017