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Hier wird gebliwwe! (Waltrud Wamser-Krasznai)

 

Waltrud Wamser-Krasznai: Hier wird gebliwwe!

zur Moderation Gehen oder Bleiben, Dietrich Weller

 

Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich in meinem Text wie in der Überschrift gelegentlich in mein ordinäres, vertrautes Oberhessisch verfalle. Es ist die Antwort auf eine Frage, die ich meinem Mann, der über mindestens zwei Staatsangehörigkeiten verfügt und auch sonst mit allerlei ‚Hunden gehetzt‘ ist, einmal im Jahr stelle. Sein belgischer Großvater nämlich hatte ihn als jungen Burschen gefragt, ob er nicht in Flandern bleiben und Chef seines Familienbetriebs, einer Schokoladenfabrik, werden wolle. Darauf meinte Petúr:

Opa, nach dem nächsten großen Krach werde ich in Frankfurt schon wieder einen  Sparkäfer fahren, während Du noch deine Schubkarre schiebst. Meinst Du nicht auch, ich sollte lieber dort bleiben? Da antwortete der kluge, erfahrene Opa: Junge, Du bist der einzige in der Familie, der Grips hat. Nichts wie zurück nach Frankfurt mit Dir!

Am 3. Oktober 1989, dem Jahr, als dieses Datum bekanntlich noch nicht mit einem Feiertag gleichzusetzen war, hatte ich mich im Bezirk Karl-Marx-Stadt, dem späteren Kreis Chemnitz, ein wenig verfahren und musste nach dem Rückweg Richtung Autobahn Eisenach- Hersfeld fragen. Ich kam mit einem netten älteren Sachsen ins Gespräch, der mich förmlich anflehte: „Ach bleiben Sie doch hier, was für eine Praxis könnten Sie haben; uns laufen ja die Ärzte alle weg!“ Für einen Moment war ich durchaus nachdenklich, musste dann aber sagen: Wenn ich mich jetzt nicht beeile, werden meine Patienten zu Hause Schlange stehen bis auf den Marktplatz. Um 16.00 Uhr beginnt meine Sprechstunde und es ist leider schon 11.00!

Zur Zeit erlebe ich in Hessen, dass archäologische Kollegen, die aus befristeten Jobs oder wegen Arbeitslosigkeit in das Vereinigte Königreich aufgebrochen waren, um dort dauerhafte Stellungen anzutreten, nun wegen des Brexit zurückströmen. Was werden sie hier vorfinden? Ihr Gesichtskreis muss sich verändert haben. Vielleicht verstehen wir einander zunächst gar nicht. Denken wir nur an die unterschiedliche Art, in Deutschland oder in den USA an eine Aufgabe heran zu gehen. Hier bei uns ist der Weg das Ziel. Auch ich bin mit dieser Einstellung aufgewachsen. So wichtig das Ergebnis auch ist, es würde doch etwas fehlen, wenn nicht schon die Arbeit am Projekt so spannend wäre und so viel Freude bereitete! Für Amerikaner dagegen zählt eins: das Resultat, und nur dieses, ohne Umwege und seitliche Arabesken.

Unser Land und den Medizinbetrieb verlassen und anderswo neu anfangen? Dazu sind 10% unserer Landsleute bereit, überwiegend Personen mit dem nötigen Geld und mit international konvertierbarer Ausbildung. Trotzdem können sie nicht erwarten, als Auswanderer gleich die „Trepp‘ enuff  ze falle'“. Bis zu einer ernsthaften Anstellung dürften fünf Jahre vergehen, 15 Jahre sogar, um in dem ursprünglichen Beruf Fuß zu fassen und weiter zu kommen[1]. Unsere Vorstellungen von der Bedeutung einer Promotion oder Habilitation sind veraltet. Die Stellen-Besetzung funktioniert häufig Kraft Ernennung und die Besoldung erfolgt nach dem Motto: „Sprichst Du umsonst oder bringst Du das Geld mit?“

Gehen oder Bleiben – es gibt objektive und subjektive Gründe dafür. Junge Menschen sind flexibel und richten sich nach der ökonomischen und politischen Situation. Das ist schon gut so. Die Alten beharren lieber auf ihren Gewohnheiten und versuchen das Vertraute möglichst zu bewahren. In einem alten Lied aus dem evangelischen Kirchengesangbuch, bei dem die Qualität des Textes und die Schönheit der Melodie einander in seltener Weise ergänzen[2], heißt es: „Verricht‘ das deine nur getreu“. Wenn wir das von uns sagen können, nämlich das Unsere getan zu haben oder noch zu tun, dann bleibt uns nur zu wünschen: „Noch ein bisschen weiter so!“

Gehen oder Bleiben hat aber gerade für Schriftsteller-Ärzte auch andere Aspekte als politische, ökonomische oder soziale, nämlich einen literarischen. Wer hat etwas zu diesem Thema geschrieben, und wann?

„Wahrgeworden
die Weissagung der Zigeunerin

Dein Land wird
dich verlassen
du wirst verlieren
Menschen und Schlaf

wirst reden
mit geschlossenen Lippen
zu fremden Lippen

Lieben wird dich
die Einsamkeit
wird dich umarmen.“

Das Gedicht heißt „Einsamkeit II“ und stammt aus der Feder von Rose Ausländer. Ich begegnete der Dichterin, die damals als solche noch fast unbekannt war, im Jahr 1972. Sie war meine Patientin in der Rheumatologie. Außer den Folgerungen, die man unschwer aus ihrem Namen ziehen konnte, wusste ich gar nichts von ihr. Mit dem Gedichtbändchen, das sie mir schenkte, konnte ich noch nicht viel anfangen und widmete ihm nicht genügend Aufmerksamkeit. Weit wichtiger war mir, dass ich es hinbekam, ihr mehrfach ohne größere Katastrophen Blut abzunehmen. Sie hatte nicht nur miserable Venen, sondern war überhaupt eine recht schwierige Frau. Übrigens handelte es sich bei dem Land, von dem sie, wie es im Gedicht heißt, verlassen worden ist, nicht um Deutschland. Vielleicht hatte sie ihre heimische Bukowina im Visier, aber eher noch die Vereinigten Staaten, die ihr einmal wegen allzu langer Abwesenheit die amerikanische Staatsangehörigkeit entzogen. Gestorben ist Rose Ausländer in Düsseldorf, wo sie seit 1965 lebte.

Bleiben wir noch für einen Augenblick bei der Abnahme von Blut, diesem „ganz besond’ren Saft“. Ein „Tröpfchen“ davon besiegelt den Vertrag zwischen Mephisto und dem von ihm für die ewige Verdammnis vorgesehenen Faust. „Was kann die Welt mir wohl gewähren“ fragt der Rastlose, der ewig Unbefriedigte[3]:

„Aus dieser Erde quillen meine Freuden,
Und diese Sonne scheinet meinen Leiden.“

Irgendwann endet es dann so:

„Zum Augenblicke werd ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!“

Also bleiben? Hier wird gebliwwe!

 

[1] Für Informationen und bewegte Diskussionen zu diesem Thema danke ich meinem Mann, Petúr L. Krasznai, Dipl. Wirtschaftsingenieur, Butzbach und Budapest.

[2] Georg Neumark, Wer nur den lieben Gott lässt walten, um 1641.

[3] J. W.  Goethe, Faust I und II.

Published inProsa

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