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Langer Weg (Franz Jostberg)

Langer Weg

Ich bin vor die Haustür getreten, habe sie sorgsam zugezogen und, nur um ganz sicher zu sein, mehrfach am Knauf gerüttelt. Habe den Schlüsselbund tief in die Hosentasche geschoben und mit der flachen Hand nochmal und nochmal nach ihm getastet. Im Losgehen dann wie jedes Mal zum Küchenfenster hinauf gesehen, obwohl doch dort niemand mehr stehen kann. Als ich über meinen Rollator gebeugt um die Hausecke biege, springt der Aprilwind mich an. Gerade, dass ich meinen Hut noch halten kann.

An der kleinen Busstation weiche ich den hingestreckten Beinen eines jungen Mannes aus, der nur Augen für eine kleine Kiste hat, auf der er herumdrückt, in jedem Ohr einen Knopf mit Kabel dran. Für ihn scheine ich gar nicht zu existieren. Wie aus dem Nichts jagt von hinten ein Radfahrer an mir vorbei, streift mich am Ärmel. Ich erstarre vor Schreck. Mein Herz rast, mich schwindelt. Auf meinen Rollator gestützt bleibe ich stehen, bis es wieder geht nach einer ganzen Weile. Ich atme auf, ohne erleichtert zu sein. Im Rinnstein neben mir rupfen zwei Raben an einem dreckigen Brotrest. Weiter jetzt. Nur noch an der ehemaligen Kaserne vorbei, die Apotheke und den Bestatter mit seiner farbenfrohen Urnen-Sammlung in der Auslage hinter mir lassen. Und schon bin ich fast da. Habe den Supermarkt mit den großen blau-gelben Leuchtbuchstaben vor mir. Fast werden die alten Füße mir so leicht, dass ich das letzte Stück laufen möchte. Doch selbst wenn das noch ginge, wie wäre ich dann außer Atem, wenn ich mich in die Reihe der Wartenden stelle und nicht aufhören kann, meinen Wunsch an die Bäckereiverkäuferin wieder und wieder vor mich hin zu flüstern.

Wenn die Reihe schließlich an mir ist, möchte ich ihr gerne sagen können, dass ich von weit herkomme, eine elendig lange Reise durch viele Jahrzehnte hinter mir habe, nur um in diese Bäckerei zu gelangen. Dass meine Mutter mich dazu vor mehr als achtzig Jahren in einer Arbeitspause bei der Kartoffelernte zur Welt gebracht hat. Dass ich dafür diesen großen Krieg überlebt habe, den Hunger und die Ruhr, die Tieffliegerangriffe und das Strafexerzieren im belgischen Novemberregen. Den Granatsplitterhagel, der mir mein linkes Ohr abriss, habe ich genauso wie die abgefrorenen Zehen über mich ergehen lassen. Mehr als einmal hatten sie mich bereits aufgegeben. Vom Sudetenland wurde ich später dann hierher, in den Westen verschlagen. Habe geholfen, eure von unseren Befreiern zerstörte Heimat wieder aufzubauen und als ein Vertriebener, der ich war, noch einmal ganz von vorn angefangen. Ich will nicht unbescheiden sein, aber in diesem Bäckerladen ankommen zu dürfen, habe ich mir mehr als verdient. Und jetzt stehe ich hier, über meinen Rollator gebeugt und erbitte nichts mehr als ein Stück frischen Mohnkuchens. So etwa möchte ich zu ihr sprechen.

Dann ist es soweit. Ihr gebräuntes Jugendgesicht streckt mir ein routiniertes Jabitte entgegen.

„Ein Stückchen von dem Mohnkuchen“, bringe ich hervor und sehe wie sich unter ihren flinken Bewegungen schon alles zum Besten wenden will, als sie plötzlich innehält und mich prüfend anschaut. „Hier essen?“ – Ich nicke.

Copyright Franz Jostberg

Published inProsa

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