Schlagwort: Kinder

  • Es war ein Schüler in Thule

     

    Es war ein Schüler in Thule
    Gar fleißig bis ins Grab
    Dem strebend seine Schule
    Smartphone als Lehrer gab.

    Es lehrte ihn zu wischen
    Zu spielen Starwars, Schach
    Bis an Computertischen
    Er tot zusammen brach.

    Man trägt ihn schwarz zu Grabe
    Schreibt auf Kreuz und Stein.
    Hier ruht die Wundergabe
    Ein Avatar zu sein.

  • Das beleidigte Klima

     

    Hey Du, du Halbmenschaktivist
    Du wish-tube Protestionist
    Willst du dir meine Gunst erwerben?
    Soll ich für deine Liebe sterben?

    Soll ich mit dir und deinen Schafen
    Ins Bett gehen und lustvoll schlafen?
    Willst du mit schlaffem Schule-Schwänzen
    Mir imponieren in Freitagstänzen?
    Ich sage glatt dir ins Gesicht
    So funktioniert das nicht!

    Ich bin nicht deine Schulzeitdirne
    Habe keinen Frust in meiner Birne
    Nur weil ich Geschlechtlos bin
    Gebe ich mich keinem Schuling hin.

    Bin ein Neutrum, frei von Gedanken
    Frei von Gier und Wirtschaftsschranken
    Auch wenn ihr lautstark demonstriert.
    Ich bin und bleibe unberührt.

    Ein kleiner Rat sei Euch bereit:
    Ich bin die Zukunft, bin die Zeit
    Die, wenn ihr überleben wollt,
    Das Demokind ins Jenseits rollt.

  • Das Klimakind

     

    Kind, du musst aufstehen
    In die Schule gehen
    Mutter, muss ich nicht.
    Das Klima bläst mir ins Gesicht.

    Kind, ich muss dir protestieren
    Deine Zukunft wirst du ruinieren.
    Mutter, das ist schon passiert.
    Sieh nur, wie man demonstriert.

    Kind, willst du zu fernen Sternen
    Musst du üben, eifrig lernen.
    Mutter, gelernt habe  ich genug.
    Whats App Wissen macht mich klug. 

    Kind, in meinen Augen
    Blutegel dein Gehirn aussaugen
    Mutter, du bist schuld daran
    Dass ich nur demonstrieren kann.

    Ich kann nur wissen, nicht verstehen
    Großes nur im Kleinen sehen
    Ich hoffe, dass ich irgendwann
    Mit dem Klima tanzen kann 

    Und heiß verschwitzt in fernen Tagen
    Kälte in die Zukunft tragen.
    Kind, dann denk an mich zurück.
    Tanzen macht Orkan, kein Glück.

  • Für einen Freund

    1

    An einem Nachmittag
    mit Vater am Meer

    Papa, schau doch
    so oft schon machten wir
    diesen Spaziergang heut,
    vorbei an schmuckvollen Gärten
    wir gingen
    an eigenwilligen Teichen vorbei
    Teichen an Goldfischen
    reich
    an zierlichen Fröschen
    in goldenem Licht
    farbenfroh auf schmalem Rand
    mahnendes Gebell
    immer so nah
    … so wild, die großen schwarzen Tiere

    Und am Ende
    immer dasselbe, sieh nur
    so dichte Blätterpracht
    unzählige Äste
    versperren jede Sicht
    den weiteren Weg

    Vater betrachtet kurz sein Kind
    liebevoll, wie er es schon immer tat
    wenn vorbei an schmuckvollen Gärten
    sie zogen
    an eigenwilligen Teichen vorbei,
    Teichen an Goldfischen
    reich
    an vertrauten Fröschen
    im besten Licht
    farbenfroh wie nie zuvor
    auf gründunklem Rand
    … wie man solche Dinge halt
    in innigster Erinnerung behält
    Ja, wie ein Vogel frei
    Vater hat es längst geahnt
    möchte der Junge streben

    Solltest die Hände versenken
    ins arglose Geäst
    schieb rasch beiseite jedes Blatt
    mit Seelenkraft
    such dir den Horizont,
    fürchte dich nicht!

    Und der Junge steckte die Arme
    tief hinein ins Gräsermeer
    kein Blatt hat ihn geängstigt
    kein Ast ihn gestört
    Und der Junge hob den Kopf
    mutig zu den ersten Sternen,
    später auch
    aus eigenster Erkenntniskraft
    im rückläufigen Werden des Würfels,
    Pallas Athene
    im Ringen mit alten Legenden
    den Maßen der Kugel in gleichhohem
    schlichtestem Gefäß
    sich nähernd
    Und die wildesten Tiere
    ach, die ruhen allmählich

    2

    Der feste Schritt des späten Wanderers
    das Bild
    auf der letzten Etappe
    zur stillen Kuppe,
    nur feuchtes Gras gibt es dort oben
    doch niemals geizt es bei Freunden
    mit seinen Reizen
    und unstillbar geht der Atem
    in dieser Flut
    Wie sehr sucht er Geborgenheit
    in Deiner Weite
    in allen Deinen Formen
    Nun ruhen seine Sinne
    in Deines Hauses Läuten,
    dort wo es sich verjüngt
    zu eines Kirchturms Spitze
    Für den Betrachter
    war es zunächst
    zwar nur der Kanten Hälfte,
    auf seinem Wege
    näher doch im Raume dann
    muß man am Eckstein weilen
    Was fasst des Kirchturms Spitze, Freund?
    Ein Mächtespiel in gleichem Maß,
    der Wunsch und was der Alltag brachte,
    führen nur zur Mitte hin
    mit einer Würfelseite
    gleichstark drei Erben zu bedenken
    Es ist ein ziemlich kraftvolles Bestehen
    fast könnte man meinen, Lehrer
    die Formen, sie wollen!

  • Gedeihliches Leben

    (16.9.2019)

     

    für Svea

     

    Auf meinem Unterarm
    schaukle ich ein Wunder
    frohgemut hin und her 

    Dein Blick gewinnt täglich
    an willentlicher Aufmerksamkeit
    Ich merke gerührt-glücklich
    dass du deine Umwelt
    umfassender wahrnimmst
    und besser Botschaften abgibst
    Wenn du auf meinem Arm einschläfst
    durchströmt mich tröstliche Wärme
    begleitet von den schönsten Melodien
    meines tanzenden Herzens 

    Immer und immer wieder
    frage ich mich sehnsüchtig suchend
    mit tiefstem Heimweh nach Frieden
    wie wir uns verhalten sollen
    gerade in diesen turbulenten Tagen
    damit zerbrechliche Wesen wie du
    auf diesem Planeten gedeihlich leben
    und ihre wunderbaren Fähigkeiten
    vollkommen entwickeln können

    ֎֎֎

  • Versöhnliches.

    Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Mein Vater war wieder im Amt, hielt Schule, gab Nachhilfe-Unterricht und saß in einer Menge Gremien. Die emigrierten Klassen- und Studienkameraden hatten ihn nicht vergessen; auch seine ausgewanderten Schülerinnen hielten ihm die Treue und besuchten ihn, wenn sie der Weg wieder einmal in dieses Deutschland führte. Aus Amsterdam kamen Päckchen mit Dingen, die es bei uns noch nicht so ohne Weiteres gab, Sonnenbrillen, Taschenschirme, Lederhandschuhe. Aus Brasilien trafen nahrhafte Dinge ein, Kaffee natürlich, einmal ein Kalbsnierenbraten – wie der es unangefochten zu uns geschafft hat weiß ich nicht mehr, aber daran erinnere ich mich gut, dass er wunderbar geschmeckt hat und uns glänzend bekommen ist.

    Die „alde Mädcher“, wie man in Darmstadt sagte, übertrugen ihre Anhänglichkeit auch auf mich, die Tochter, und deren Freundinnen und Partner. Petúr („Peter der Fünf- vor- Zwölfte“) war völlig unbefangen und als Ungar an der Wiedergutmachungs-Problematik nicht ganz so nah dran. Daher folgte er ohne Weiteres den Aufforderungen zu einem Gegenbesuch und ebnete mir den Weg. So konnte auch ich zusammen mit einer Freundin die Einladung zum Übernachtungsbesuch annehmen. Es ging uns sehr gut in Baltimore. Frau Gertrud hatte ihr Deutsch nie vernachlässigt, führte uns zu ihren Kindern und in der Stadt herum und instruierte uns, wie wir unsere Ziele am besten erreichen konnten; vor allem genossen wir das großartige archäologische Museum.

    Mit ihrem Mann war es etwas schwieriger. Er hatte Vorbehalte, bevorzugte die englische Sprache und war zwar höflich, aber distanziert. Glücklicherweise erfuhren wir, dass unsere Gastgeberin sich über hitzefeste Teegläser freuen würde, die sie jenseits des großen Teiches nicht bekam. So konnten wir ein wenig Dank abstatten. Gertruds Mann sammelte Briefmarken. Darum kümmerte sich meine Freundin, die auch den Versand übernahm, umso lieber, als mit ihrem geläufigen Amerikanisch schon in Baltimore ein guter Kontakt zum Hausherrn entstanden war. Es gab auch eine Geschichte von der Rettung einer Schulkameradin durch ihre Mutter, die jener während eines konspirativen Treffens eine Adresse zugeflüstert hatte. Das geheime Gespräch muss ungefähr dort stattgefunden haben, wo sich in unserer kleinen Stadt jetzt die Stolpersteine befinden. Die Kameradin hat es rechtzeitig geschafft.

    Petúrs Mutter besaß ungarische und polnische Wurzeln, war aber in Belgien aufgewachsen, wo sie während des Krieges fast ihre ganze Ersatzfamilie verlor. Einer deutschen Schwiegertochter gegenüber hätte sie leicht Ressentiments hegen können, doch das lag ihr fern. Sie sprach mit mir ein leicht flämisch gesprenkeltes Deutsch, bis ich selbst genügend Ungarisch gelernt hatte.

     

  • Beitrag zur Lesung „Was wäre wenn…?“ beim BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb 2019

     

    In der zwölften Klasse kam mein Deutsch-Lehrer, Herr Bernien, gleich in der ersten Stunde zu uns. Deutsch war aber erst in der zweiten Stunde vorgesehen. Herr Bernien sagte uns, er habe sich die erste Stunde schenken lassen. Wir sollten einen Aufsatz schreiben. Gleich in Reinschrift. Das Thema schrieb er an die Tafel: „Was wäre, wenn…“

    Viel später erfuhren wir, dass es im Lehrerzimmer die Debatte gab, dass die Schüler von heute keine Phantasie mehr hätten. Es sei heftig gestritten worden. Nur wenige Lehrer, darunter Herr Bernien, schätzten ein, dass jedenfalls die 12 A, also wir, Phantasie hätte. Herr Bernien würde wetten wollen, dass das so sei. Und die Lehrer schlossen tatsächlich eine Wette ab. Und Herr Bernien beantragte auch noch die erste Stunde, die ihm dann abgetreten wurde. Ja, und Herr Bernien gewann die Wette.

    Ich schrieb zum Thema, was wohl wäre, wenn ich zaubern könnte. Dann würde ich alles, was ich lerne, sofort verstehen und behalten. Dann würde ich nach dem Abitur eine Weltreise machen. Ich würde fliegen können und die Erde umkreisen. Als ich über den Nordpol flog, sah ich Eisberge, wovon einer die Form von Anita Eckberg hatte, einer Schönen meiner Jugendzeit. Man durfte sie nur nicht anfassen, denn dann würde sie schmelzen.

    Herr Bernien lobte mich wegen meiner „köstlichen Phantasie“, las den ganzen Aufsatz der Klasse vor und betonte besonders die Passage mit Anita Eckberg. Ich sah ihm an, dass er die Dame auch gerne gestreichelt hätte. Aber so konnte er sich die Tiefe ihrer blassblauen Augen nur ausmalen. Und mir fiel auf, dass er sich beim Lesen die Lippen leckte.

    Tja, Lehrer sind eben auch nur Menschen.

  • Morgenröte

     (30.6.2019)

    für meine Enkelkinder

     

    Kikeriki, ruft der Hahn
    Geschwind geht die müde Nacht
    Mit ihrem sanften Gespann
    Öffne deine Augen, gib gut Acht!
    Längst haben die Elfen die Sterne gepflückt
    Sorgfältig die Augen der Kinder geschmückt
    Die Feen sammeln Körbe voller Tauperlen
    An fröhlichen Gesichtern sollen sie abperlen
    Lass uns zu den Weizenfeldern gehen
    Ähren und Kornblumen zärtlich berühren
    Uns Bienen, Bäume und Blüten ansehen
    Im Bach einen Lebenstrunk anrühren
    Kikeriki, ruft der Hahn
    Geschwind geht die müde Nacht
    Mit ihrem sanften Gespann
    Öffne deine Augen, gib gut Acht!

  • Zum Thema: Was uns geprägt hat. 

    Waltrud Wamser-Krasznai: Sprache.

     

    Wie bin ich nur, ein gut bürgerliches hessisches Frauenzimmer, in diesen östlichen Schlamassel hineingeraten? Mein Petúr und ich passen doch überhaupt nicht zusammen. Wir sind so verschieden, dass ständig die Fetzen fliegen. Wir halten einander nur aus, weil er so viel unterwegs ist und wir vollkommen unterschiedliche Freizeit-Interessen haben. Was verbindet uns dann überhaupt? Antwort: Wir sprechen dieselbe Sprache.

    Ha, ha, ha, höre ich da. Der eine artikuliert sich zwar geläufig und endlos in fünf Sprachen, aber mit so schwerem Akzent als wäre er gerade von einer Operettenbühne heruntergesprungen. Die andere spricht außer deutsch, italienisch (und irgendwie auch englisch) ganz brauchbar eine Art Monarchie- Ungarisch. Das kann es also nicht sein.

    Unsere gemeinsame Sprache ist vielmehr die einer verflossenen Generation und eines vergleichbaren familiären Hintergrundes. Wir kennen und gebrauchen dieselben Wörter und Fremdwörter und vermeiden dieselben Klischees wie:  echt?  gut aufgestellt, Sinn machen – falsch, ganz falsch. Es heißt im Englischen: to make sense, in unserer Muttersprache aber: es hat Sinn, es ergibt keinen Sinn. Wir Deutschen sind in unserem vorauseilenden Gehorsam halt  Großverbraucher von Anglizismen, die einem schon zu den Ohren herauskommen wie das allgegenwärtige „okay“ oder gar „cool“.

    Petúr und ich wechseln unsere Umgangssprache abhängig vom Thema, nach Lust, Laune und Vermögen. Wir haben beide an Sprachen Interesse und verfügen wohl auch über ein gewisses Sprachgefühl.

    Was das Schreiben angeht – da  ist es ein bisschen anders. Einer der ersten Sätze, den ich von meinem Petúr hörte, betrifft die Unlust, um nicht zu sagen: die Unfähigkeit der Technokraten zu allem, was Schreiben heißt. So wurde ich denn eines Tages nicht ganz ohne Verdienst zur „Ober-Burgschreiberin“ ernannt, nämlich auf „Kraszna-Horka“, einem der vielen von der Kaiserin/Königin Maria Theresia an diese Krasznais verliehenen Stammsitze.

    Was uns geprägt hat, hängt meiner Meinung und Erfahrung nach ganz entscheidend mit „Sprache“ zusammen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen bei meinen Klassenkamerad/inn/en, deren Väter gewöhnlich die einzigen Ernährer der Familie waren, abends spät und völlig kaputt von der Arbeit kamen und nur noch ihre Ruhe haben wollten, saß mein Vater bereits mit uns am Mittagstisch, bereit zu hören, zu reden und Auskunft zu geben. Zu dieser Zeit herrschte  Mangel an Lateinlehrern, und Papa, der seinem Studium entsprechend  naturwissenschaftliche Fächer unterrichtete, in der Schule aber neun Jahre lang Lateinunterricht gehabt hatte, konnte einspringen. Auch als Nachhilfelehrer war er gefragt. An diesen Stunden durfte ich stillschweigend teilnehmen. Sie gerieten zu einer Fundgrube der Allgemeinbildung, denn mein Vater leitete lateinische (und griechische) Ausdrücke, die man damals noch in der Umgangssprache verwendete, bis zu ihrem Ursprung ab. Da gab es immer wieder freudige Überraschungen. Später hatte ich das Glück, bei der Vorbereitung auf das Graecum einen Lehrer zu treffen, der diese Methode ebenfalls praktizierte und vom Alt-Griechischen bis hin zum Italienischen ableitete. Sehr einprägsam!

    Als ich meinen Petúr kennenlernte, ärgerte ich mich anfangs schrecklich, wenn er mit anderen Ungarn stundenlang unverständliches Zeug redete. Ich beklagte mich und erhielt die lakonische Antwort: „Dann lern‘ s halt“. Recht hat er gehabt. Auch Ungarisch ist nicht un-lernbar.

    Die Kehrseite der Medaille: Ich verstehe die Sprache der heutigen jungen Leute nur mühsam und unvollkommen, verabscheue ihre Abkürzungen und Amerikanismen und muss mir Mühe geben, in meinem Alltag nicht allzu weit  entfernt von der Lebenswelt sitzen zu bleiben  –  eine Gestrige also ganz gewiss, hoffentlich nicht eine „Ewig-Gestrige“!

     

  • Helga Thomas

    Was uns geprägt hat

     

    Ja, was hat uns geprägt? Uns alle als Kollektiv unserer Zeit, uns, jeden Einzelnen als Individuum? Aus der Trauma-Forschung wissen wir (eigentlich wissen wir es schon lange, aber seitdem ist es offensichtlicher geworden), dass Kinder vor ihrem individuellen Bewusstsein besonders nachhaltig geprägt beziehungsweise traumatisiert werden. Zur Sicherheit, denn wir wollen es nicht wirklich wahrhaben, wollen es selbst verdrängen, wiederhole ich es überdeutlich: Ein Baby in Bombenangriffen wird für das ganze Leben gezeichnet, ist seinen nicht fassbaren Erinnerungen ausgeliefert wie dem erlittenen Leid einst als Kind; ein dreijähriges Kind kann, weil es sich erinnert, sich dagegen wehren und so die Prägung beziehungsweise das Trauma ein Stückweit überwinden.

    Und doch hat jeder noch sein ganz individuelles Schicksal, es beginnt im Leib der Mutter, alle emotionalen Erlebnisse und akustischen Eindrücke lassen den Embryo schon am kollektiven Leben teilhaben.

    Ich habe selbst in der Hinsicht etwas Eindrückliches erlebt: In den letzten Wochen meiner Schwangerschaft mit meinem Sohn hatte ich eine Regenbogenhautentzündung. Ich konnte fast nichts tun von den Tätigkeiten, bei denen die Augen erforderlich waren: kein Lesen, kein Schreiben, Malen, Handarbeiten …  Schallplatten auflegen war auch nicht möglich. Ich kaufte meine Lieblingsliederzyklen der Romantik als Kassetten und … Mozarts Zauberflöte. Vor allem sie hörte ich nach meinem heutigen Empfinden endlos.  Das fiel mir wieder ein, als mein Sohn im Alter von 2-3 Jahren bei Mozartklängen angerannt kam und lauschte. Immer wieder, plötzlich stand er steht da und lauschte mit einem glücklichen Lächeln auf seinem Gesicht. Ich erzähle jetzt nicht, was das später für weitere Folgen hatte. Statt wie andere Kinder Kinderlieder zu singen, sang er Lieder von Papageno.

    Wenn ich mich heute als Erwachsene frage, was mich geprägt hat, dann fallen mir drei, nein vier Dinge ein: die strenge preußische Erziehung meines Vaters. Hier könnte ich die Geschichte erzählen, wie ich für jede Minute zu spät kommen einen Tag Hausarrest erhielt, wie ich schließlich resignierte und mich mit meinem Schicksal abfand, was ihn noch wütender machte und wie alles schließlich damit endete, dass seine Mutter – die vorübergehend meine kranke Mutter vertrat, energisch wurde und sagte: „Ein krankes Kind ohne Luft und Sonnenschein wird nicht gesünder, wenn es pünktlich ist!“

    Mich prägte auch die Angst meiner Mutter vor dem Gerede der Leute: Was sollen denn die Nachbarn von uns denken, dazu gehörte die unordentliche Frisur, der Fleck auf dem Kleid, der beim Staubwischen übersehene Staub, aber auch: Niemand darf die westliche Zeitung sehen, die zum Trocknen aufgehängte Salami in der Speisekammer (wahrscheinlich stammte sie von einer Schwarzschlachtung).  Das dauernde Aufpassen, dass ich nichts sage von dem, was ich im RIAS – dem amerikanischen Radiosender – gehört habe und worüber Zuhause mit Freunden gesprochen wurde. Das war mühsam, vor allem, weil es doch hieß: du sollst nicht lügen! War denn so tun als ob keine Lüge? Das Verschweigen auch nicht? Ich schuf in meinem kleinen Kopf ein Ordnungssystem: Im Treppenhaus und auf der Straße sprachen die Erwachsenen auch von anderem als von dem, was zu Hause geschehen war. Also: Fremden gegenüber war ich im Treppenhaus, lächelte, grüßte freundlich, schwieg höflich. In der Pubertät entwickelte ich eine andere Strategie: zuerst reden und zwar von dem, was ungefährlich ist, was ich auf der Straße gesehen hab, was ich in der Schule lernte… vielleicht  einen lustigen Witz über kleine freche Berliner Jungs? Jahrzehnte später konnte es mir noch passieren, dass ich zusammenzuckte, wenn man mich fragte, was ich zu XY denke.

    Aber … mich prägte auch die Liebe und Zuversicht meiner Großeltern, besonders meiner geliebten Oma. Sie erzählte Geschichten, die zeigten, einen Menschen versuchen zu lieben, macht das Leben und auch das Sterben leichter. Und – mein Opa zeigte mir an den Bäumen, die aus Urnengräbern wuchsen: Das Leben geht weiter. Ich stellte mir vor, dass ich nach meinem Tod vielleicht als Vogel im Baum sitze.  Das gefiel sogar meiner Großmutter (die Mutter meines Vaters, zu der ich nicht solch inniges Verhältnis hatte wie zur „Berliner Oma“, der Mutter meiner Mutter). Sie wollte als Singvogel wieder geboren werden.

    Es gibt eine weitere Zeit der Prägung, die Pubertät. Eine Übergangszeit, in der der junge heranwachsende Mensch wieder sehr offen und allen Einflüssen von innen und außen ausgeliefert ist. Vorhandene Prägungen, Traumatisierungen können verstärkt werden (die Axt, die immer wieder in die gleiche Kerbe haut) oder sie können abgemildert, vielleicht sogar überwunden werden. Ich hatte ein Erlebnis, das mich innerlich veränderte. Ich erlebte die Gewissheit, dass es eine geistige Welt gibt, dass ich den destruktiven Kräften des Kollektivs nicht hilflos ausgeliefert bin! Ich meinte, die Nähe Gottes erlebt zu haben, zumindest die meines Schutzengels.

    Ich zitiere mich selbst aus meiner kleinen Erzählung „Orte der Kindheit, Wiedersehen nach 46 Jahren“. Ich war den Spuren meiner Kindheit gefolgt und erlebte nun das oben erwähnte Ereignis, das ich mein ganzes Leben nicht vergessen hatte:

    November.  Papa ist seit einem Vierteljahr illegal im Westen, bei den Großeltern. Wir werden bald nachkommen, aber noch versucht Mama vom Haushalt und all dem beweglichen Besitz so viel wie möglich in den Westen zu bringen. Heute hatte sie versucht, den eigentlich noch neuen schönen grünen Teppich in den Koffer zu kriegen. Es gelang. Sie wollte es wirklich versuchen, ihn in den Westen zu schmuggeln. Und ich Schaf ermutigte sie noch. Ich erhoffte mir so ihre Zuwendung und außerdem, wenn sie etwas „retten“ konnte, war sie fröhlich und nicht so gereizt oder noch schlimmer: so traurig. Wir sprachen alles genau ab. Ich renne an der Warschauer Straße von der S-Bahn über die Eisenbahnbrücke zur U-Bahn, schaue, ob Licht bei den Vopos (Volkspolizisten) ist (deshalb durften wir nicht so früh fahren). Wenn ja, komme ich zurück, und wir geben es für heute auf oder versuchen es bei der Jannowitzbrücke.  Ich gehe in den Bahnhof – Blick nach links – dunkel– aufatmen – durch die Sperre gehen – Umdrehen – warten– Blick nach rechts, nur so, fast automatisch – Schreck, denn jetzt brannte Licht –wie gelähmt stand ich da – eine Volkspolizistin tritt heraus – Mama kommt – eine Stimme befiehlt mir: „Bleib einfach stehen“. Und das tat ich dann. Blieb einfach stehen, bis Mama an mir vorbei war. Wir gehen in die U-Bahn – Mama stellt den Koffer ab, wir stellen uns woandershin (eine immer praktizierte Sicherheits-maßnahme, falls ein Sicherheitsbeamter in Zivil fragt, wem der Koffer gehört). Mama atmet auf, ich schüttle unmerklich aber ernst und vorwurfsvoll den Kopf. Noch waren wir nicht drüben auf der anderen Seite der Spree. Da atmete ich dann auch auf.

    Ich habe meinen Eltern dieses grässliche Erlebnis nie erzählt, aber es verfolgte mich, und dann trat aber immer auch das Gefühl auf: Wenn es unerträglich wird, sagt dir jemand,

    was du tun musst, du bist nicht verlassen, du wirst geschützt. Trotzdem unterstützte ich nun das erste Mal meinen Vater, dass wir mit dem „Retten“ aufhören und selber endlich rüberkommen sollen (außerdem wurde ich ja schon beobachtet, was ich aber auch für mich behielt).