Schlagwort: Märchen

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    Der Kinderfilm mit sächsischer Bildungsempfehlung entstand im Rahmen der Einweihung der Stele auf dem 13. Meridian in Chemnitz/Kleinolbersdorf, hochangebundene Persönlichkeiten vom Chemnitzer Vermessungsamt, Dr. Reinhart Erfurth, Ehrenpräsident der Ingenieurkammer Sachsens u.v.a. gaben der Festivität an der Stele den feierlichen Rahmen in diesem Sommer.

    Der Kinderfilm entstand in Zusammenarbeit mit TV 90, der Grundschule Kleinolbersdorf und dem Gymnasium Einsiedel, die Schulen stellten die Hauptdarsteller des Kinderfilmes.

    Die Idee, Texte und Drehbuch stammen aus meiner Feder.

    Hier der Link zum Film „Auf den Spuren des Mercator“: https://youtu.be/XR3HFfqXhUg

    Der Sprecher der Verse ist Martin Baden, Schauspieler und Sohn von Olaf Baden, dem berühmten TV Sprecher.

    Der Film wurde insgesamt über hundertmal verkauft, zur Premiere kamen über 1000 Besucher.

     

    Hier die Versfolge

    Auf den Spuren des Mercator

    Voller Eis
    Und starrer Kälte

    Starten wir
    Und landen da.

    Erst des Südpols weißes Felde
    Ganz zum Schluss
    Dem Nordpol nah

    Pinguin
    Schwarz weiße Fracke

    Flüchten plump
    Vorm Leopard

    Doch der König
    der Antarktis

    Ist der Wal
    So schnell und stark.

    Weiter geht’s
    Auf unsrer Reise

    In die heiße
    rote Glut

    Starker Löwe
    Bunte Felsen

    Vögel
    Schützen ihre Brut

    Eine Stadt
    Die Schönste Größte

    Salz
    in ihrem Namen trägt.

    Burg
    Ergänzt den Städtenamen

    Türme
    Dieses Stadtbild prägt

    Und Palermo
    Dieser Wilde

    Freie Ort
    Und Lebensraum

    Künstler
    Menschen
    Kinder
    Alte
    Leben hier den Lebenstraum

    Seht da steht er
    Hoch und eckig

    Sachsens größter Berg im Land
    Fichtelberg
    So sagt´s der Name

    Fichteln wachsen
    Steil galant.

    Ruhig stoisch
    Überlegen

    Schaut er in das
    Tal hinab

    Seine Läufer
    Berges Hänge

    Führen uns
    Nach Chemnitz ab.

    Siehe da
    Hier steht die Stele

    Schösserholz
    Das ist ihr Hort

    Speck der Gürtel
    Manche Seele

    Findet Ruhe
    Hier im Ort.

    Weiter geht es
    Unsre Reise

    Potsdam
    Heißt das nächste Ziel.

    Feinste Bauten
    Schmuck und selten

    Glitzern hell
    Erstrahlen wie.

    Dann erreichen
    Uns die Düfte

    Meer und Brisen
    Frisch und frei

    Fischwelt bunt
    Der Sandstrand super

    Dieser Ort
    Nennt sich Stralsund

    Und des Wassers
    Zur Genüge

    Reisen wir
    der 13 nach.

    Malmö ist
    die nächste Riege

    Eine Stadt
    Mit Lärm und Krach.

    Also weiter
    Auf Luchs Pfoten

    Still und heimlich
    Immer dar

    Erreichen wir
    Der Welten Stille

    Inseln
    der Lofoten gar.

    Und von da aus
    Nach Spitzbergen

    Finden wir
    Des Nordens Licht.

    Eisbärn, Robben, Orcas-Schwertwal
    Dies Getier im Licht gebricht.

    Nordpol
    Heißt’s
    Des Reisens Ende

    Schwimmend
    Auf dem Erdenball

    Wieder Kälte
    Uns empfängt es

    Weiß und Still
    Das Weltenall

    Doch was soll sie
    Diese Letzte

    Karte golden
    Liegt sie hier

    Adlers Schwingen
    Starke Kehle

    Nun wir folgen
    Dieser Spur

    Siehe da
    Hier steht die Stele

    Ganz genau
    13 vor Ort

    Adlers Schwingen
    Seine Reise

    Start ist hier
    Sein Haus
    Sein Hort

    Adlers Leben
    Dieser Name

    Leben Lieben
    Weltentour

    Ja so heißt er
    Unser Adler

    Stark und ewig

     

     

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    Auf einem Hof bei Lindlar lebte eine Gruppe Gänse. Die Tochter des Bauers war ein Fan von Verdi-Opern. Vor allem die Musik der Oper Aida ließ sie oft bei offenem Fenster mit voller Lautstärke ertönen, so dass der Bauer, wenn er in der Nähe des Wohnhauses zu tun hatte, manchmal schimpfend rief: „Mach die Musik leiser. Das kann man ja nicht aushalten.“

    Den Gänsen blieb die Musik nicht verborgen. Die meisten konnten nur wenig damit anfangen. Nur die Gans Anne war von der Musik beeindruckt, so dass sie Opernsängerin zu werden wollte. Die anderen Gänse hielten sie für verrückt, da sie wie alle Gänse nur ein „täää-tä-tä-tää“-Gekreische herausbrachte. Anne fragte ihre Mutter, ob sie das Singen erlernen könne. Diese antwortete: „Man kann alles lernen, wenn man es nur will.“

    Da beschloss Anne, dass sie Gesangsunterricht nehmen wollte. Die Schwäne am Teich kannte sie gut. Sie ging zu Ihnen und fragte, ob sie ihr das Singen beibringen könnten.

    Der alte Schwan schnatterte: „Wenn du mir vom Hof Brot bringst, dann lehre ich dich singen.“

    Anne trottete zum Hof und stahl den Pferden etwas altes Brot, das der Bauer diesen hingelegt hatte.

    Als sie damit zum alten Schwan kam, verschlang dieser es gierig, richtete seinen langen Hals auf und sagte: „Jetzt beginnen wir mit der ersten Stunde. Die nächsten Unterrichtsstunden musst du wieder mit Brot bezahlen.“ Er begann zu schnattern, stieß zwischendurch grelle Schreie aus und schnatterte dann: „Mach das nach!“

    Anne blickte ihn verwundert an und krähte: „Das war doch kein Gesang. Schnattern und Schreien brauche ich nicht zu lernen. Das kann ich schon, seit ich aus dem Ei schlüpfte.“

    Beleidigt quäckte der Schwan: „Wenn dir das nicht passt, dann geh doch zur Amsel!“

    Sie sprang ins Wasser und begann zu gründeln. Anne war enttäuscht. Hatte sie doch den Schwan mit Brot bezahlt. Auch wusste sie nicht, wie sie mit der Amsel Kontakt bekommen könnte, die meist auf einem Baum saß. Einige Wochen vergingen, in denen sie hin und her überlegte, wie und mit wem sie einen Gesangsunterricht organisieren könnte. Da ergab es sich, dass eine Amsel nach einem kräftigen Sommerregenschauer auf der Wiese um den Gänseteich nach Regenwürmern suchte.

    „Amsel, kannst du mir das Singen beibringen“, schnarrte Anne.

    Die Amsel antwortete: „Sing mir etwas vor. Dann kann ich dir sagen, ob es mit dem Gesangsunterricht klappen kann.“

    Anne begann zu schnattern und gellend „täää-tä-tä-tää“ zu kreischen. Die Amsel blickte sie mit schräg gelegtem Kopf  an und piepste: „Du hast keine Singstimme. Es wird nicht möglich sein.“

    Als Anne sie enttäuscht ansah, ergänzte die Amsel: „Man muss von Geburt an die Fähigkeit haben zu singen. Sieh dort die Bisamratte!“ Sie zeigte mit dem Schnabel in Richtung einer Bisamratte, die in der Wiese Gras aß. „Sie kann von Geburt an nicht fliegen.“ Das überzeugte Anne.

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht

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    Der Graureiher Elias stand am Ufer des Baches und begrüßte Hubert, den Storch, der aus seinem Winterurlaub in Ägypten zurückgekehrt war. Elias war die letzten Winter in Mecklenburg geblieben, da es nicht mehr so kalt war, so dass Bäche und Seen nicht mehr zugefroren waren.

    „Bist du in diesem Winter in Marokko gewesen, Hubert?“

    „Ich war nicht in Marokko“, klapperte Hubert und durchforschte das Ufer nach Fröschen.

    „Warum?“ Elias versuchte einen Fisch zu schnappen, der zwischen den Halmen des Uferschilfes entkam.

    „Die letzten Male kamen einige meiner Verwandten als IS zurück“, gurgelte Hubert und blickte dabei mit himmelwärts gerecktem Schnabel nach den Wolken. „IS?“ Elias legte den Kopf schräg und blickte Hubert fragend an. Dieser wendete seinen Schnabel wieder bodenwärts und antwortete: „Irre Störche! Es gibt in Marokko einige Frösche, die mit ihrem Schleim ein Gift absondern, das Störche verrückt macht. Sie beginnen wie Amseln zu singen und interessieren sich nicht mehr für Frösche. Manchmal werden sie aggressiv und zerstören die Nester anderer Störche.“

    „Merkwürdig! Das kann man doch nicht dulden.“

    „Die anderen wehren sich angemessen.“

    „Ich habe gesehen, dass einer deiner Nachbarn ein kleines schwarzes Mützchen trägt und seine Frau ein Kopftuch. Was hat das zu bedeuten?“

    Elias schnappte blitzschnell ins Bachwasser, wendete den Schnabel nach oben und verschluckte einen kleinen Fisch. Hubert versuchte durch hin und her schwingen des Schnabels am Rand des Baches den Schlick und das Wasser aufzuwühlen, um Frösche aufzuscheuchen, bevor er antwortete: „Das sind Bekannte aus Ägypten, die sich entschlossen haben, mit uns nach Deutschland zu kommen, da sie dort mit den politischen Verhältnissen nicht mehr zurecht kommen.“

    „Ich mag Fremde nicht. Das sind alles Banditen“, schnatterte Elias, „ich würde sie vertreiben.“

    „Abu und seine Frau sind politisch Verfolgte und nette Leute,“ antwortete Hubert, „in Ägypten herrscht ein Storchengeneral, der alle anderen Störche unterdrückt. Da sie sich dagegen aufgelehnt hatten, waren sie in Gefahr, von der Storchenpolizei umgebracht zu werden. Deshalb haben wir ihnen geraten, mit uns nach Deutschland zu fliegen, wo wir alle in Freiheit leben können.“

    Elias rollte die vor Schreck über diese Geschichte die Augen und trat von einem Bein auf das andere: „Das habe ich noch nie gehört, dass es unter und Vögeln Unterdrücker gibt. Dass man sich mal um das Futter streitet, ist normal. Aber sonst lassen wir uns doch gegenseitig in Ruhe. Ist es unter diesen Bedingungen denn nicht gefährlich, nach Ägypten zu reisen?“

    Hubert wiegte den Kopf und antwortete: „Bis jetzt haben sie Besucher in Ruhe gelassen. Aber man kann nicht wissen, ob das so bleibt. Im nächsten Winter fliege ich nach Südafrika.“

     

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht

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    Eine schwarz-weiße Katze Paula lebte in einer Villa am Königsforst. Meist lag sie auf einer Heizung, schnurrte vor sich hin und genoss die Wärme. Sie bewunderte die apart gekleidete Hausherrin, die sie immer mit Seidenhandschuhen streichelte. Sie empfand dies als besonderen Genuss, auch wenn es manchmal funkte. Sie beschloss, ebenso vornehm zu werden. Sie trabte zum Maulbeerbaum und sprach mit den Seidenraupen: „Könnt ihr mir ein zartes, fast durchsichtiges Seidenkleid und Seidenhandschuhe für die Vorderpfoten spinnen?“

    Die emsigen Seidenraupe unterbrachen ihre Arbeit und piepsten: „Wenn du uns vor den Vögeln bewahrst, die immer wieder einige von uns fressen, dann erfüllen wir deinen Wunsch.“

    So bewachte die Katze den Maulbeerbaum und fauchte die Vögel an, so dass sich diese sich nicht mehr in die Nähe des Baumes trauten. Innerhalb von nur zwei Tagen spannen die Seidenraupen ein der Katze passendes Cocktailkleid und so feste Handschuhe, dass die Krallen nicht durchkamen. So hatte die Katze seidenweiche Pfoten. Die Handschuhe reichten wie bei einer Braut weit über das Gelenk hinaus. Die Katze betrachtete sich im Spiegel und dachte: Jetzt benötige ich nur noch ein paar hübsche Schuhe und ein feines Hütchen.

    Die Katze borgte sich aus der Haushaltskasse ihrer Herrin einige Münzen und stolzierte in den Puppenladen. Für kleines Geld bekam sie ein Paar weiße Schuhe und ein Hütchen mit einem bunten Kunstblumenkranz. Etwas unsicher stakste sie mit ihrem Seidenkleid und den neuen Schuhen aus dem Laden. Durch das Schwanken verschob sich das Hütchen über die Augen, so dass sie den Kopf nach hinten beugen musste, um etwas zu sehen. Da hörte sie das hässliche Lachen des Schäferhundes des Nachbarn, der sie schon mehrfach mit Gebell auf den Baum gejagt hatte.

    „Karneval ist doch erst in fünf Monaten“, gluckste er und begann zu grölen: „supergeile Zick….“

    Paula hielt den Hut mit einer Pfote fest und beschleunigte ihren Schritt, um schnell nach Hause zu kommen. Der Hund hüpfte hinter ihr her, sang weiter Karnevalslieder und schüttelte sich immer wieder vor Lachen. Paula war froh, als die Haustür hinter ihr zuschlug. Als die Hausherrin Paula sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Wer hat dich denn so zugerichtet?“

    Als Paula sie mit großen Augen ansah, begann sie zu lachen und kam erst zur Ruhe, als ihr die Luft weg blieb. Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen und fragte: „Wie willst du in diesem Aufzug die Mäuse fangen, die sich wieder auf dem Dachboden eingenistet haben?“

    Stolz wie Paula war, stieg sie mit Hut, Kleid, Handschuhen und Stiefelchen auf den Dachboden und versuchte, die Mäuse zu jagen. Als dies misslang, da sie sie ohne Krallen die Mäuse nicht halten konnte, legte sie die Kleidung ab.

    Ein wenig traurig sprang sie später auf die Heizung, legte den Kopf auf die Pfoten, schnurrte und genoss die Wärme. Sie tröstete sich, es sei besser nützlich als vornehm zu sein.

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht

     

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    Mottenmutter Luise saß mit ihrem Mann Walter in einem alten Kleiderschrank zwischen den Wollpullovern und beobachtet ihre zarten, gelblichen Raupenkinder, die sich durch die Maschen fraßen.

    „Schafwolle schmeckt ihnen“, knispelte sie, „sie schauen richtig glücklich aus.“

    „Wo sind denn die Großen?“, brummte Walter und machte es sich an der Knopfleiste bequem.

    „Du weißt doch, sie umsurren jetzt die Straßenleuchten und die Zimmerlampen und holen sich angesengte Flügel. In unserem Alter macht das Tanzen am Licht keinen Spaß mehr. Da sitzt man lieber warm im Schrank.“

    „Zu unseren besten Zeiten haben wir alle Kameraden angetwittert und gemeinsam das Flutlicht im Stade de France zugebrummt, so dass die Menschen nicht mehr Fußball spielen konnten. Das war toll!“ Walter schlug aufgeregt mit den Flügel.

    „Mach nicht so viel Wind, du bläst die Kleinen aus den Maschen.“

    Mit einem Brausen erweiterte sich der Spalt der Schranktür, und sieben junge Motten landeten mit Stimmengewirr auf den Wollpullovern.

    „Warum sitzt ihr hier im Schrank herum, wo man gerade jetzt so wunderbar um Lampen tanzen kann?“, piepste Daniel.

    „Unsere Zeit der großen Aktionen ist vorbei“, brummte Walter, „uns tun die Wärme des Schranks, die Dunkelheit und die Ruhe gut.“

    „Ich weiß, die Verdunklung der Flutscheinwerfer im Stade de France war eure Heldentat. Wir haben größeres vor. Wir wollen die Sonne verdunkeln.“

    „Das Tageslicht wird euch so blenden, dass ihr den Weg nicht finden und leichte Beute für Vögel sein werdet“, mahnte Luise ängstlich.

    Die sieben jungen Motten lachten hell: „Wir haben alle angetwittert. Es werden Tausende kommen und den Himmel verdunkeln.“ Sie rauschten hinaus ins Freie, um ihre Kameraden zu treffen.

    Neugierig setzte sich Luise ans Fenster, um das Treiben der Jungmotten zu beobachten. Eine riesige dunkle Wolke von Motten verdunkelte den Himmel. Schwalben und Amseln schnappten sich einige der Nachzügler. Die Wolke entfernte sich und wurde kleiner und kleiner. Die Sonne brannte wieder unvermindert vom strahlend blauen Himmel. Dann regnete es plötzlich ausgetrocknete, tote Motten. Luise krabbelte wieder in den Pullover im Schrank.

    „Und?“, fragte Walter.

    „Selbst für so viele junge Motten war das Projekt zu groß. Sie haben sich übernommen.“

    „Schade um die enthusiastischen Kinder. Nun sind sie weg, aber die nächsten sind schon in Arbeit“, knurrte Walter, rekelte sich und blickte nach den hungrigen Raupen in den Maschen.

     

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht

  • Das rote Kaninchen

    Bauer Stertzenbach hatte Rüben geerntet und, da er keinen Lagerplatz in der Scheune hatte, als Rübenmiete am Rande des Ackers aufgestapelt und mit einer dicken Folie bedeckt, um die Rüben vor dem Regen zu schützen. Er hatte zwei Äcker bearbeitet mit verschiedenen Rübensorten, die einen kleiner, die anderen größer.

    Das Kaninchen Paul hatte das beobachtet und rannte ganz aufgeregt zu seinem Bruder Tim.

    „Es gibt Rüben“, hechelte er, „so viele Rüben, dass man Speck für den ganzen Winter aufbauen könnte. Lass uns Rüben um die Wette essen.“

    Tim schaute ihn verwundert an: „Was für Rüben? Möhren? Und was heißt um die Wette essen?“

    „Nein, nein! Keine Möhren, große Zuckerrüben und etwas kleinere dunkle Rüben. Wettessen heißt, dass der gewonnen hat, der die meisten Rüben geschafft hat.“

    „Egal welche?“

    „Ja.“

    Sie hoppelten durch die Furchen zu der Rübenmiete und als sie sie rochen, lief ihnen das Wasser zwischen den Zähnen aus dem Maul. Tim untersuchte die Rübenmieten und entschied sich für die kleinen dunklen Rüben. „Ich bin kleiner und nehme daher diese hier“, piepste er.

    Paul, der Zuckerrüben sowieso lieber mochte, war einverstanden. So begannen sie, ihre Nagezähne in die Rüben zu schlagen und um die Wette zu essen. Tim hatte schon die dritte der muffig schmeckenden dunklen Rüben gegessen, als Paul keuchte: „Ich kann nicht mehr“, obwohl er noch nicht einmal eine ganze große Zuckerrübe geschafft hatte.

    „Dann habe ich gewonnen!“, jubelte Tim und war froh, dass er nicht mehr weiter essen musste.

    „Du schaust blutig aus!“, rief Paul, weil Tims Nase ganz von rotem Saft bedeckt war. Tim leckte mit der Zunge über die Nase, da war alles weg.

    Am nächsten Tag, war Tim an allen hellen Stellen seines Fells knallrot. „Du hast rote Rüben gegessen“, lachte die Mutter.

    Jetzt war Paul eifersüchtig, weil Tim so etwas Besonderes an sich hatte. Tim aber zuckte mit dem Fell, weil es juckte.

    Paul rief: „Lass uns nochmal Rüben essen, und dieses Mal nehme ich die roten.“

    Tim hatte nichts dagegen, denn die dunklen Rüben hatten ihm nicht geschmeckt, und so toll fand er die zwickende Rotfärbung nicht.

    Als sie an den Rübenmieten ankamen stand dort der Bauer, fluchte und schlug nach ihnen mit der Peitsche. Sie sprangen in die Ackerfurchen und rannten Hacken schlagend um ihr Leben, da der Hund hinter ihnen her war. Sie hörten schon sein Hecheln direkt hinter sich, als sie den Bau erreichten und im letzten Moment unter der Erde verschwanden.

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht)

  •   Ich war ein Teufel
    bis ein Engel kam
                                       und mich verführte,
                                        nun sind wir beides:
                                         viel Teufel und wenig Engelein

    Energisch schob ich die Bettdecke zur Seite und setzte mich mit einem Ruck auf. Warum konnte ich nicht schlafen? Eigentlich kann ich immer und überall schlafen, warum jetzt nicht?

    Ich stand auf, öffnete das Fenster und zog den Rollladen höher. Leise legte ich mich wieder ins Bett, ich wollte Judith nicht stören.

    „Kevin! Gib endlich Ruhe!“

    Judith war wach.

    „Schlaf endlich, was ist mit dir?“

    Sie war ziemlich ärgerlich. So ärgerlich, wie man mitten in der Nacht ist, schlafen will und der Partner nicht schlafen kann. Und wenn Judith ärgerlich ist, dann ist sie besonders ärgerlich.

    „Liebling! Ich weiß auch nicht. Ich bin einfach nicht müde. Das heißt, ich bin einfach wach“, antwortete ich beschwichtigend.

    „Warum bist du nicht müde, und warum bist du wach?“ Judith wollte nicht beschwichtigt werden.

    „Liebling!“

    „Hör auf mit Liebling. Das ist immer verdächtig.“

    „Judith! Ich habe einfach das Gefühl, dass irgendetwas passiert.“

    Ich verstand meinen Zustand selbst nicht und sollte ihn Judith erklären.

    Ich drehte mich auf meine rechte Seite, auf meine Einschlafseite.

    „Gute Nacht.“

    „Gute Nacht“, auch Judith drehte sich um.

    Fest entschlossen einzuschlafen zog ich meine Decke um die Schultern. Während ich auf den Schlaf wartete, merkte ich, dass Judith steif und fest in ihrem Bett lag und auch darauf wartete, dass ich einschlief. Nach wenigen Minuten versuchte ich es auf meiner zweiten Einschlafseite. Judith bewegte sich nicht. Aber ich spürte ihre Wachheit körperlich. Nachdem ich mich auf meine erste Einschlafseite zurückgedreht hatte, setzte sich Judith ärgerlich auf, sehr ärgerlich. Sie knipste ihre Nachtischlampe an. Mit ihrer typischen Bewegung strich sie sich ihre Haarsträhne auf dem Gesicht und beugte sich zu mir.

    „Kevin! Willst du mir etwas sagen?“

    „Nein“ Was sollte ich dir sagen wollen?“

    „Seit Stunden wälzt du dich von einer Seite zur anderen. Was ist los mit dir?“

    Ihre Stimme war tranchiermesserscharf.

    „Ich weiß nicht, was mit mir los ist?“

    Ich merkte, dass meine Stimme schuldbewusst klang, obwohl ich gerade das verhindern wollte.

    „Liebst du mich nicht mehr?“

    Diese Frage klang schon wie eine Tatsache.

    „Quatsch, ich liebe dich fest wie immer.“

    „Gibt es eine andere Frau? Gib zu, es gibt eine andere Frau!“

    Jetzt setzte ich mich auf. Wir saßen nebeneinander und sahen einander an.

    „Blödsinn, Du bist meine Traumfrau. Ich liebe dich.“

    „Das ist schnell gesagt. Vielleicht bist du aber nur zu feige, es mir zu sagen“, bohrte sie weiter.

    Keine Frau dieser Welt weiß, wann sie aufhören sollte, insbesondere Judith nicht. Ich jedenfalls wurde auch ärgerlich.

    „Ich bin nicht feige.“

    „Wenn du nicht feige bist, warum sagst du es mir nicht?“

    Jetzt war ich rechtschaffend und ehrlich böse.

    „Es gibt nichts zu sagen!“ schrie ich.

    „Ich liebe dich, und es gibt keine andere Frau“, fauchte ich sie an.

    Mir nicht glaubend, sagte sie: „Gut, ich glaube dir. Dann hast du ein anderes Problem“.

    „Nein! Nein! Abermals nein, ich habe kein anderes Problem“, ich wurde wieder laut.

    „Mir scheint, dass du doch ein Problem hast“.

    Ich kochte vor Wut.

    „Das einzige Problem, das ich habe bis du!“

    „Also doch! Ich bin dein Problem. Stehe ich dir im Weg? Los, sag, dass ich dir im Weg bin.“

    Dann schwieg sie, und wenn Judith schwieg, schwieg sie anklagend. Welcher Mann kann in dieser Situation irgendetwas richtig machen? Versöhnlich sagte ich nach einer kleinen Ewigkeit:

    „Judith, ich liebe dich. Es gibt kein Problem. Es gibt vor allem keine andere Frau.“

    Um es ganz richtig zu machen, fügte ich noch hinzu, „Du bist meine Erfüllung.“

    Judith schwieg, was schlimmer war, als wenn sie anklagte.

    „Judith? Liebst du mich?“

    „Ob ich dich liebe? Das steht doch überhaupt nicht zur Debatte.“

    „Nein, aber du könntest mir doch diese Frage beantworten.“

    „Warum sollte ich? Davon sprechen wir doch nicht. Du willst nur ablenken.“

    Genau in diesem Moment steht man als Mann auf sehr brüchigem Eis. Demonstrativ legte ich mich wieder auf meine erste Einschlafseite.

    „Du weichst mir aus!“

    Judith war noch nicht fertig.

    „Nein, ich weiche dir nicht aus. Ich bin müde.“

    „Jetzt plötzlich bis du müde. Du willst dich drücken, über deine Probleme zu reden.“

    „Gute Nacht!“, sagte ich nachdrücklich.

    „Gute Nacht! Kevin!“

    Dieses „Gute Nacht“ klang eher nach einer Drohung oder einer Kriegserklärung. Auch Judith legte sich auf ihre Einschlafseite und löschte das Licht.

    Wie soll man in solch einer Situation, in solch einer Anspannung einschlafen können?

    „Judith, hast du etwas gesagt?“

    „Nein!!“

    „Aber ich habe es ganz deutlich gehört“, sagte ich.

    Judith schwieg.

    Es vergingen einige Minuten.

    „Judith, wach auf! Es spricht jemand mit mir.“

    „Hier spricht niemand, außer dir. Schlaf endlich, oder ich zieh aus.“

    Ich lag da und lauschte.

    „Kevin! Steh auf und komm!“

    Ruckartig setzte ich mich auf. Ich lehnte mit dem Rücken an das Kopfteil.

    Jetzt hörte ich es wieder: „Kevin, auf was wartest du, komm mit“.

    „Judith, Judith!“ langsam wurde ich panisch, hörst du es nicht?“

    „Bitte, bitte, schlaf endlich. Ich hör nur dich sprechen. Hier ist niemand.“

    Judiths Stimme klang beruhigend, wie man zu einem Kind spricht.

    „Judith, ich höre es ganz deutlich“, schrie ich.

    „Judith, ich soll mitkommen.“

    Resigniert antwortete sie: „Schlaf jetzt. Ich höre nichts. Hier gibt es keine Stimmen. Ich bin wirklich müde.“

    Minuten blieb ich mit angezogenen Knien sitzen. Ich lauschte und horchte auf jedes Geräusch.

    „Kevin! Wir haben nicht ewig Zeit. Zieh dich an und komm.“

    Die Stimme war bestimmt und fordernd.

    Ich stand auf und zog mich an. Mich schauderte, trotz Kleidung. Gerade zog ich die Haustür hinter mir ins Schloss, als die Stimme tadelte: „Kevin, willst du dich nicht von deiner Frau verabschieden? Wir haben eine lange Reise vor uns.“

    „Ja? Natürlich!“, stammelte ich. Obwohl ich keinen Schlüssel eingesteckt hatte, war die Tür offen. Schnell ging ich ins Schlafzimmer zurück und beugte mich zu Judith. Was sollte ich sagen? Ich setzte mich auf ihre Bettkante und tastete nach ihrer Hand.

    „Nein, Nein, Kevin, nicht jetzt, ich will schlafen. Gib doch endlich Ruhe.“

    „Judith, das ist es nicht. Ich muss gehen!“

    „Ja, Ja“, erklang es müde.

    „Tschüss, Judith, ich gehe jetzt.“

    „Ja, Ja, ist schon gut. Geh! Geh mit Gott, aber lass mich schlafen“, antwortete sie schläfrig.

    Ich beugte mich zu ihr. Nachdem ich ihr Haar gestreichelte hatte, hauchte ich ihr zaghaft einen Kuss auf die Backe. Sie schlief schon fest und bemerkte es nicht. Oder doch? Sie lächelte leicht. Ich schüttelte den Kopf. War ich doch im Begriff, eine weite, eine sehr weite Reise anzutreten, von der ich weder das Ziel noch die Wiederkehr wusste, und Judith schläft und lächelt im Schlaf. Woher kam die rote Rose in meiner Hand? Ich legte sie auf ihren Nachttisch.

    „Eine kleine Prophetin, deine Judith“, spöttelte die Stimme.

    „Warum?“

    „Die gehst nicht nur mit Gott, du gehst auch zu Gott.“

    Bevor ich mich richtig wundern konnte, befahl die Stimme: „Los!“

    Ich fühlte mich um die Schultern ergriffen und gehoben, dabei fühlte ich keine Furcht, nein, ich fühlte mich sogar in dieser Situation wohl. Leicht und beschwingt, wie in einem schönen Traum, in dem man fliegen kann.

    „Du liebst Judith?“, wurde ich gefragt.

    Wie selbstverständlich antwortete ich.

    „Ja, sehr.“

    „Sie dich auch“, sagte die Stimme.

    „Bist du sicher?“, fragte ich in die Nacht. Ich unterhielt mich und war doch allein.

    „Wer bist du?“, fragte ich. Dabei merkte ich, dass ich neugierig war.

    „Ich bin ein Engel und habe den Auftrag, dich zu holen und zu begleiten“, antwortete die Stimme.

    Jetzt begann ich, mir Gedanken über meine Situation zu machen. Sie war wirklich! Ohne Frage: Wirklichkeit und Realität, und sie war selbstverständlich.

    „Zu holen und zu begleiten? Wohin?“

    „Zu holen, zu begleiten, zu führen und zu beschützen, das ist mein Auftrag.“

    „Wohin?“ Ich wurde wieder neugierig.

    „Weit, weit, sehr weit“, antwortete der unsichtbare Engel.

    Ich spürte einen leichten Schups. Mit einem vorsichtigen Schritt ging ich los. Schritt für Schritt ging ich leichtfüßig weiter. Immer schneller kamen wir voran. Ich sah den Schwarzwald und den Bodensee unter mir weggleiten.

    „Spring!“, befahl die Stimme.

    Wir überquerten die Alpen und das Mittelmeer. Sogar Zypern konnte ich zweifelsfrei erkennen. Weiter und weiter ging es, Schritt für Schritt, Zeit für Zeit.

    Plötzlich wurde ich an der Hand ergriffen.

    „Stopp!“

    Ich schaute mich um. Um mich? Uns? Ringsherum nichts als Wüste. Ich? Wir? Standen auf einen kleinen Plateau auf einem Hügel und hatten einen guten Überblick. Immer noch wurde ich an meiner Hand festgehalten. Ich empfand keine Angst, nur unendliche Neugierde.

    Wo war ich? Zu sehen war nur Wüste und unbekanntes Land.

    „Wer bist du?“, fragte ich.

    „Zeig dich!“

    Plötzlich war ich nicht mehr allein. Hand in Hand standen wir nebeneinander. Als ich Ihr? Ihm? ansichtig wurde, verschlug es mir den Atem: lange, schwarze Haare, bis auf die Hüfte reichend, strukturierte Übergänge, ein Mund, ein Mund, die Sinnlichkeit personifiziert, er allein schon jeder Sehnsucht wert, Brüste, Beine, Schoß, nicht von dieser Welt. Ein unendliches Begehren kam über mich.

    „Da fällt dir nichts mehr ein! Nicht wahr. Glaub mir, mein Freund Kevin, wir Engel sind keine Engel, wie ihr es glaubt. Wir Engel genießen alle Freuden deiner Welt und aller anderen Welten, jeden Tag und jede Nacht.“

    Nachdem ich meinen Engel mit aller Sehnsucht bedacht hatte, kehrte ich langsam zu meinem Bewusstsein zurück.

    „Wie heißt du, Engelchen?“ fragte ich.

    „Ich bin Lulu. Aber, Kevin, hör mit dem Flirten auf, dafür wurdest du nicht hierher gebracht“, antwortete sie tadelnd.

    Ich war weiterhin keines weiteren Wortes fähig und starrte nur Lulu an.

    „Kevin! Kevin! Komm zu dir!“, lachte sich fröhlich, „ich bin ein Wesen aus dem Paradies.“

    Sie wiederholte das letzte Wort: „Paradies, nicht von dieser Welt. Ich genieße jede Wonne.“

    Gefangen in meiner Welt und plötzlich doch darüber. Jedenfalls stand sie neben mir. Nicht wie ein Geist, sondern real. Für mich jedenfalls. Ich hielt doch ihre Hand und sie die meine. Ich stand an einer Schwelle, die ich nicht begriff, nicht begreifen konnte. Lulu sah mich an. Sie begriff meine eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit. Sie legte ihren Arm um meine Schultern, dabei drückte sie ihre Brust fest gegen meinen Oberarm. Fest und elastisch spürte ich ihre Brüste. Ich blickte in ihre Augen. Dabei sah ich Ungeduld, unerfüllte Erwartung und ungezügelte Erotik.

    „Kevin! Du erblickst nur das, was du sehen willst. In deinen Augen bin ich die schiere Erfüllung. Das ist aber nicht so, sondern existiert nur in den Gedanken, in deinen Gedanken und Gefühlen als Mann. Ich bin das alles nicht. Vielleicht ein ganz winziges Stückchen. Du denkst in eindimensionaler Kategorie: in begehrenswert und in nicht begehrenswert. Es gibt auch kein eindimensionales Gut oder Böse. Das eine, was du vielleicht als böse, sehr böse beurteilen würdest, kann höherdimensional durchaus gut oder absolut notwendig sein. Löse dich von jeder eindimensionaler Betrachtungsweise, deinem Denken in Kategorien. Meine Welt, Gottes Welt ist nicht eindimensional, oder zwei- oder dreidimensional, sie ist nur mit dem Maßstab der Unendlichkeit fassbar.“

    Lulu war ernst, oberlehrerhaft und amüsiert.

    Ich löste meinen Blick von ihr, auch wenn es mir schwer fiel. Mein Blick fiel wieder auf die öde, karge Landschaft.

    „Was willst du, oder was wollt ihr von mir?“

    „Mein lieber Freund“, sagte Lulu, „du bist ausgewählt. Du sollst Zeuge sein. Du sollst Zeugnis geben. Zeugnis an alle Welt, dass die Welt und alle Menschen Klarheit haben und wissen, was Sache ist.“

    Ich starrte verständnislos. Ich verstand nichts. Nichts von allem: wie ich hierhergekommen war, was hier vor sich ging und vor allem, was ich dabei sollte.

    „Jetzt! Pass gut auf!“, flüsterte sie und schüttelte mich. Alle menschlichen Attribute waren von ihr gewichen. Hier neben mir stand ein Wesen, völlig verklärt von höheren Kräften. Sie oder er oder es, jedenfalls der Engel schob mich einige Schritte bis zum Abgrund vor. Jetzt konnte ich das ganze Geschehen, das ganze Tal, alles, das Alles überblicken. Entsetzten ergriff mich. Geräusche hatte ich schon die ganze Zeit vernommen. Jetzt formten sie sich mit meinem Gesehenen zu einem Bild. Tausend und abertausende Menschen gingen, nein wurden vorangetrieben. Gebeugt, Schritt für Schritt schleppten sie sich in einer langen Prozession. Staub von ihrem Schritt wirbelte auf. Ich hörte diese schweren Schritte. Ich hörte ihr Jammern und Seufzen. Ich hörte auch ihren Aufschrei, wenn die Peitschen ihren Rücken trafen. Immer weiter wurden sie getrieben. Gebeugt und geschunden schleppten sie sich weiter. Die Menschen, jung und alt, Männer und Frauen, auch Kinder wurden von Teufeln, die ihre Peitschen auf die Rücken klatschen ließen, vorangepeitscht. Dort, wo das Tal eng wurde, machte es einen Knick nach links. Dort verschwanden die Massen von Menschen in lodernden Rot. Immer wieder hörte ich das Knallen und das Platzen der Haut auf dem Rücken. Fast spürte ich ihren Schmerz. Ich spürte jeden Schritt dieser geschundenen Kreaturen.

    Entsetzt, fassungslos blickte ich zu Lulu. Emotionslos blickte sie zurück, fast spöttisch, ob meines Entsetzens. Dann zeigte sie auf eine Anhöhe gegenüber der Abknickung des Tales.

    „Kevin!“, sie rüttelte an mir.

    „Pass auf! Achte nur auf den Berg.“

    Aber ich konnte meinen Blick nicht von den armen Verdammten, von den geschundenen Leibern lösen. Und dann: immer wieder das Knallen der Peitschen.

    „Achte nicht auf sie, das sind Einzelschicksale“, beschwor mich Lulu.

    „Einzelschicksale?“, schrie ich auf.

    „Ja. Kevin, Einzelschicksale, sonst nichts! Sie sind bedeutungslos. Sie haben nur Bedeutung für sich selbst und ihr eigenes Leben, nicht für den Ablauf des Ganzen.“

    Bewegungsunfähig stand ich und starrte auf die Ödnis. Auf die Wüste, die sich immer mehr verengte und im Höllenschlund endete.

    Lulu Hand griff nach meiner Hand und drückte fest.

    „Achtung!“, hörte ich sie wispern und deutete auf den Hügel.

    Ein schwarzes, gewaltiges Wesen, muskulösen Körper, voller archaischer Kraft und furchtbarer Potenz, erklomm den Hügel. Schritt für Schritt, ein schrecklicher Titan. Von der anderen Seite tänzelte, ich weiß nicht woher, eine weiße Figur. Mit seinen kleinen, weißen Flügelchen flatterte er auf den Riesen zu.

    Ich machte einen Schritt auf das Schauspiel zu, aber Lulu hielt mich zurück.

    „Nicht weiter“, sagte sie drohend. Dabei hob sie einen flammenden Stab.

    „Das ist doch nicht etwa das Flammenschwert, von dem in der Bibel berichtet wird?“

    „Ja“, antwortete sie mit Stolz in der Stimme.

    „Das Feuerschwert von Michael, dem Erzengel“.

    Der Stab, leuchtend und funkelnd, von unbestimmter Farbe, faszinierte mich.

    „Nein, das ist mein Schwert“, Lulu schien fast beleidigt.

    Darf ich es anfassen?“

    Ich griff nach dem Griff und wollte es ihr aus der Hand nehmen.

    „Nein! Das geht nicht. Es würde dich verbrennen.“

    Meine Hand zuckte auch schon schmerzhaft zurück. Sofort bildete sich in der Handinnenfläche eine Brandblase.

    „Hat jeder Engel, oder was du auch immer bist, so ein Schwert?“

    „Natürlich“, antwortete Lulu, „das gehört zu unserer Grundausrüstung. Genau wie meine Flügel, übrigens.“ Sie flatterte leicht mit ihrem linken Flügel, dann mit dem rechten Flügel.

    „Ihr Männer seid alle gleich. Für mein Schwert als Waffe und meine Brüste als Ziel eurer Sehnsucht habe ihr Augen. Gib zu, deine Gedanken waren nicht die, die man einem Engel entgegenbringt. Für das Wunder meiner Flügel, das Wunder des Fliegens, du hast es selbst erlebt, interessiert ihr Männer euch nicht.“

    Wieder flatterte sie, und wir wurden leicht angehoben. Bei unserer Wanderung über Berge und Meere hat sie da mit ihren Flügel geschlagen?

    Plötzlich wurde es still, gänzlich still um uns herum. Ich verspürte eine besondere Ergriffenheit. Auch die kesse Art war von Lulu gewichen. Mit feuchten Augen und gefalteten Händen stand sie still und blickte zu dem Schauspiel auf dem gegenüberliegenden Hügel.

    Der schwarze Riese mit dem finsteren Blick, muskelbepackt und mit dunkler Rüstung bewehrt, schritt auf den weißen, tuntigen Tänzer zu. Der Weiße war es, der das erste Wort ergriff. Er sah zu dem Schwarzen auf. Seine hohe Fistelstimme klang dünn zu uns herüber.

    „Ich grüße dich, Jehove. Gibt es einen bestimmten Grund, lieber Bruder? Und was soll dieser Verkleidung? Hast du das wirklich nötig?“

    Laut und wuchtig dröhnte er.

    „Auch ich grüße dich: Mein lieber Bruder Luzifer.“

    Er reichte dem Tänzer seine riesige Pranke zum Gruße und schüttelte sie heftig.

    „Setzten wir uns, Luzi. Ich möchte mit dir reden und habe dir einen Vorschlag zu machen.“

    Der Finstere trat beängstigen nah auf seinen Bruder zu.

    „Gut, reden ist immer gut. Aber, mein Lieber, lassen wir doch die Show.“

    Luzifer zeigte nicht die Spur von Ängstlichkeit.

    „Du hast deine Vektoren versammelt, wie ich sehe.“

    Mit einer weit ausladenden Geste zeigte er auf den Hügel, wo wir standen. Erst jetzt bemerkte ich, dass noch weitere Menschen, neben jedem stand ein Engel, auf dem Hügel versammelt waren. Mit dem anderen Arm deutete er auf einen weiteren Hügel.

    „Auch meine Botschafter sind versammelt.“

    Jetzt sah ich dort ebenfalls Menschen. Neben jedem dieser Menschen stand ein Teufel. Einige der Menschen schienen mir bekannt zu sein, aber richtig erkennen konnte ich es nicht. Von denen, die ich zu erkennen glaubte, wusste ich, dass sie schon tot waren. Einer könnte Mussolini sein, aber das konnte nicht sein. Oder doch? Und war dort nicht Papst Pius XII.? Das war doch wirklich unmöglich!

    Auf dem Hügel gegenüber stand ein Tisch mit zwei Stühlen.

    „In Ordnung, Luzi“, sagte Jehove.

    Beiden gingen zum Tisch und setzten sich.

    Jetzt saßen sich zwei Männer gegenüber: Zwillinge, so ähnelten sie einander.

    „Geht doch!“, lachten sie, als haben sie einen Witz gemacht.

    Mehrmals zupfte ich Lulu am Flügel.

    „Was geht hier vor?“, fragte ich.

    „Pssst.“

    „Ich dachte, Luzifer sei ein von Gott verstoßener Engel?“

    „Ach, ihr Menschenkinder glaubt aber auch jedes Märchen, das man euch erzählt. Nein, Jehove und Luzifer sind Brüder, Zwillinge, wie du siehst. Vor einiger Zeit schlossen die beiden Brüder eine Wette. Sie wetteten, wer in einer bestimmten Zeitspanne mehr Menschenseelen einfängt. Und wie es in den letzten Jahren aussieht, wird Luzifer seine Wette gewinnen.“

    Lulus Erklärung klang ganz sachlich.

    „Was passiert, wenn Luzifer die Wette gewinnt?“

    „Jeder der vier Geschwister hat eine bestimmte Fähigkeit, die die anderen drei nicht haben. Der Gewinner kann diese Fähigkeit für eine kurze Zeit beanspruchen.“

    Erstaunt fragte ich: „Vier Geschwister?“

    „Ja“, antwortete meine Engelin, „es gibt vier Geschwister. Außer den beiden Brüdern dort noch zwei Schwestern, also Vierlinge.“

    „Ich habe noch nie von Schwestern von Gott gehört.“

    Langsam fragte ich mich, was das für ein Traum sei. Aber so oft und so fest ich mich kniff, ich wachte nicht auf.

    „Lass das!“ sagte Lulu, ohne hinzusehen, „das macht nur blaue Flecken, und wie willst du die dann Judith erklären?“

    „Ich glaube, ich habe schon genug Problem, das hier alles Judith oder irgendeinem anderen Menschen, zu erklären, da kommt es auf ein paar blaue Flecken auf Oberschenkel und Bauch nicht an.“

    Ich war sarkastisch, in dieser Situation war ich sarkastisch.

    „Du kannst auch nichts von den Schwestern gehört haben. Sie interessieren sich für andere Sachen des Seins, nicht für ein paar Menschen auf einem kleinen Himmelskörper, abgelegen im Universum.“

    Für Lulu waren das Selbstverständlichkeiten.

    „Welche Fähigkeiten haben Jehove und Luzifer?“

    Wären Sie, lieber Leser, nicht auch neugierig, trotz dieser Situation?

    Jehove, mein Chef, bestimmt über die Zeit und Luzifer über den Raum.“

    „Und welche Fähigkeiten haben die Schwestern?“

    Lulu sah mich an und schüttelte ihren Kopf, so dass ihre schwarzen Haare in Wellen ihren Rücken hinab liefen.

    „Frag nicht, du würdest es nicht verstehen. Die Vierlinge zusammen und nur zusammen sind Alles.“

    Luzifer und Jehove unterhielten sich am Tisch sitzend. Insbesondere Luzifer äußerte sich erfreut über den Verlauf seiner Wette.

    „Da gebe ich dir recht. Meine Vorkehrungen sind ins Stocken geraten“, sagte Jehove.

    „Ich bin gut aufgestellt und für die Zukunft vorbereitet. Ich erwarte noch weitere Verbesserungen der Entwicklung“, antwortete sein Bruder.

    „Schau!“ Er wies auf die lange Menschenschlange, die ins Tal getrieben wurde.

    Jetzt konnte ich auch wieder das vielstimmige Jammern und Klagen, das Heulen und Stöhnen hören. Ebenso die Tritte des schleppenden Gleichschritts. Auch das Knallen der Peitschen und kurz darauf der jammervolle Aufschrei. Jedes Klatschen erzeugte ein Ächzen einer Seele.

    „Ich bin es müde. Mir macht es keinen Spaß mehr“, sagte Jehove, in dreihundertzweiundzwanzig Jahren gibt es keine Menschen mehr.“

    „Gibt es keine Menschen mehr?“, fragte Luzifer interessiert. „Warum?“

    „Die Menschen sind gerade dabei, sich selbst zu vernichten. Dein Werk, Luzi!“

    „Gute Arbeit, nicht?“

    Luzifer war sichtlich stolz. Er grinste breit.

    „Was willst du also?“, fragte er wieder.

    „Ich will die Menschheit retten. Deshalb schenke ich dir den Sieg unserer Wette.“

    „Warum willst du die paar Milliarden Menschen retten?“, erstaunte sich Luzifer.

    Jehove zog seine Brauen in die Stirn.

    „Du weißt doch, ich bin der Gute. Ich bin Gott!“

    „Was ist mit den verbleibenden Menschenseelen auf der Erde, jetzt und in Zukunft?“, fragte Luzifer misstrauisch, als wittere er eine Falle.

    „Die Menschen sollen eine Chance bekommen, aber dann schenke ich sie dir alle. Jetzt und sofort.“

    Jehove gab sich großzügig.

    „Daher weht der Wind.“

    Luzifer tat empört.

    „Jehove, mein Bruder, du bist ein verschlagener, alter Teufel. Der listenreiche Odysseus ist ein Anfänger dagegen. Du weißt genau, dann macht mir das Ganze keinen Spaß mehr.“

    Luzifer lehnte sich gedankenvoll zurück. Prüfend wanderte sein Blick zu seinem Bruder. Jehove erwiderte offen seinen Blick. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund. Er kannte seinen Bruder.

    „Du kennst mich ganz genau, Briderchen!“

    Luzifer gab seiner Stimme einen russischen Akzent und lachte schnarrend.

    „Abgemacht!“, rief er.

    Sie griffen nach zwei gefüllten Gläsern und ließen sie klingen.

    Als sich Luzifer gerade erheben wollte, hielt ihn Jehove zurück.

    „Noch eine Frage, Kamerad: was wirst du mit meiner Fähigkeit anfangen?“

    „Ich weiß es noch nicht“, antwortete Weiße.

    „Ehrlich?“, fragte der schwarze Zyklop.

    „Ehrlich!“, antwortete Luzifer nachdrücklich.

    Die Brüder umarmten sich. Jehove konnte es nicht unterlassen und boxte seinem Bruder auf den linken Oberarm. Jeder glaubte, dass die weißen Federn davon geschleudert würde, aber getäuscht. Luzifer sprang hoch und boxte zurück. Dann lachten sie beide schäppernd.

    „Du schickst deine Vektoren los und lässt unsere Abmachung verkünden. Vor allem sollen alle Menschen wissen, sie haben nur noch eine kleine Chance. Dass sie schließlich alle mir gehören, brauchen sie ja nicht zu wissen.“

    „Und du schickst deine Botschafter in gleicher Mission los, um diese Prophezeiung zu verbreiten.“

    „Howji, das werden sie, aber es wird auf meine persönliche Art und Weise geschehen.“

     

    Ich war gebannt. Ich konnte das alles nicht glauben. Lulu reagierte kaum, als ich es ihr sagte. Sie hatte nur Augen für einen kleinen, dicken Teufel, der heftig zu ihr winkte.

    „Das dort ist Belcilas, ein wunderbares Teufelchen, und ein teuflisch guter Liebhaber.“

    „Sag bloß, wie macht ihr das?“, ragte ich ungläubig.

    Sie war amüsiert.

    „Wir materialisieren uns ein wenig und durchdringen einander. Das ist viel intensiver“, klärte sie mich fachengelhaften Ton auf.

    „Aber, aber“, stotterte ich, „seid ihr nicht unversöhnliche Feinde“?

    „Nein, natürlich nicht“, sie lachte über so viel Dummheit, „wir sind beide Lichtwesen. Wir haben nur unterschiedliche Arbeitgeber und unterschiedliche Aufgaben. Ich soll gut sein und Seelen fangen, und die da drüben sollen böse sein und Seelen fangen. Das hier ist nur unsere Arbeitskleidung. Menschen ertragen unseren realen Anblick nicht.“

    Wieder legte sie ihren Arm um mich und schob mich.

    „Jetzt komm, du hast große Aufgaben vor dir.“

    Sie war ernst und eindringlich.

    „Was soll ich tun? Was wird erwartet?“

    „Du bist nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, der Menschheit klar zu machen, wie es um sie steht und dass sie nur eine kleine Chance zur Umkehr hat. Die Quintessenz soll sein: Umkehr oder Untergang“, erklärte sie.

    Ich schwieg betroffen.

    „Das kann ich nicht.“

    „Denk an deine Kinder und an deine Enkel“.

    Lulu wurde böse.

    Sie gab mir einen Schubs.

    Plötzlich stand ich wieder in meinem Schlafzimmer neben Judiths Bett. Lulu tätschelte aufmunternd meinen Popo.

    „Wo warst du gewesen?“, fragte mich eine schneidende Stimme. Der Ton des Jüngsten Gerichts kann nicht schlimmer sein.

    „Mir war übel“, antwortete ich.

    Da hörte ich Lulus Stimme: „Männer! Alles Feiglinge.“

     

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger

     

     

     

     

     

  • Zu seinem Esel sprach der Bauer:
    „Ich sag dir offen, wie es ist,
    du bist nicht wert, mein alter Grauer,
    das Heu, das du tagtäglich frisst!“

    Der Esel hörte es mit Schrecken,
    er dachte an so manches Jahr,
    als er mit korngefüllten Säcken
    auf seinem Weg zur Mühle war.

    Das ist der Lohn für Müh und Plage,
    wie einen Hund jagt man mich fort.
    Nun muss ich auf die alten Tage
    noch suchen einen andern Ort!

    Doch hilft kein Jammern und kein Grämen,
    das bringt mich nur um den Verstand:
    Ich mach mich auf und geh nach Bremen,
    verding mich dort als Musikant.

    Warum, so wird sich mancher fragen,
    warum musst es denn Bremen sein?
    Ich weiß es nicht, ich kann nur sagen,
    dem Esel fiel nichts Bessres ein.

    Und die Idee, auf die er baute,
    die klang für  Menschenohren schlimm:
    Er wollte schlagen dort die Laute,
    so steht es bei den Brüdern Grimm.

    Ein alter Jagdhund lag am Wege,
    den ebenfalls sein Herr verstieß,
    weil er zu müde und zu träge
    das edle Wild entkommen ließ.

    „Kopf hoch!“  So sprach der Esel weise,
    als er den Hund in Tränen fand:
    „Komm doch mit mir auf eine Reise,
    ich werd  in Bremen Musikant.“

    Sie sahn an einem schatt‘gen Platze
    zwei Tiere noch, man glaubt es kaum,
    die arme ausgesetzte Katze
    und dann den Hahn auf seinem Baum.

    „Kommt mit und jammert hier nicht länger!“,
    schlug ihnen gleich der Esel vor,
    wir brauchen in der Band zwei Sänger;
    Sopran fehlt noch und auch Tenor.“

    Die Sonne war schon längst im Sinken,
    die Pfoten, Hufe müd und matt,
    und immer noch war da kein Blinken
    von Lichtern einer großen Stadt.

    Ein Jogger kam, der ganz ermattet
    sich setzte auf den nächsten Stein,
    der Esel fragte: „Ihr gestattet,
    könnt dies der Weg nach Bremen sein?“

    Der Jogger wischte mit dem Tuche
    Sich ab das feuchte Angesicht:
    „Nach Bremen seid ihr auf der Suche,
    das schafft ihr heute Abend nicht.

    Ein Tierheim gibt es hier am Orte
    für arme Streuner, so wie ihr,
    klopft dort mal höflich an die Pforte
    und fragt nach einem Nachtquartier!“

    Sie fanden schon das Tor verschlossen,
    jedoch der Pförtner war noch wach.
    „Geht weiter!“, sagte er verdrossen“,
    wir sind schon voll bis unters Dach!“

    Im Wald an einem trocknen Platze,
    da legten sich ins weiche Gras
    der Hund und auch die müde Katze,
    dieweil der Hahn im Baume saß.

    „Ich bleibe wach und werd dich rufen“,
    schrie er dem Esel zu, der bald
    lostrabte und auf müden Hufen
    durchforstete den finstern Wald.

    Er hatte fernes Licht gesehen,
    vielleicht war‘s auch ein Feuerschein,
    es konnten Menschen, Zwerge, Feen
    und schlimmstenfalls auch Räuber sein.

    Der Hahn da oben im Geäste
    Jetzt mit dem Esel leise sprach:
    „Ein Häuschen ist’s, es ist das Beste,
    ich flieg dorthin und sehe nach.“

    Es ist bekannt seit alten Zeiten:
    ein Hahn verbringt die Nacht im Stall,
    doch hier, das lässt sich nicht bestreiten,
    lag vor ein echter Sonderfall.

    Wer glaubt, er habe da gefunden
    nur eine wilde Räuberschar,
    dem sagen wir es unumwunden:
    Was dort bei Grimm steht, ist nicht wahr.

    Er sah nur ärmliche Gestalten
    bei einem kargen Abendbrot
    des Tages erste Mahlzeit halten.
    Das glich zu sehr der eignen Not.

    Der Esel wartete mit Bangen
    Auf seines Boten Wiederkehr.
    War er von Räubern abgefangen
    Und vorbereitet zum Verzehr?

    Dann rüttelte ein Sturm die Gipfel,
    ein Ast verfehlte ihn nur knapp,
    und durch der Bäume hohe Wipfel
    flog jetzt der Hahn zu ihm herab.

    „Ich dachte schon, dass man dich köpfte“,
    erleichtert sah der Esel aus,
    der Hahn sprach, als er Atem schöpfte:
    „Das ist fürwahr kein Räuberhaus!“

    „Ich denk, wir sollten höflich bitten
    um einen Platz am warmen Herd,
    und sind wir dort nicht wohlgelitten,
    so ist es den Versuch doch wert.“

    „Nur Mut!“, so sprach der Esel weise
    und musterte die künft’ge Band
    „ich glaub in unserm Künstlerkreise,
    da gibt es bald ein Happy- End.“

    Auf leisen Pfoten, Tatzen, Krallen
    so pirschten sie ans Haus sich ran,
    sie hörten Lärm und Lachen schallen,
    man stimmte grad ein Trinklied an.

    Es war, als ob der Hahn sich scheute,
    den andern offen zu gestehn:
    „Das sind sie nicht, die armen Leute,
    die ich durch’s Fenster hab gesehn.“

    „Wir müssen trotzdem danach schauen“,
    so sprach der Esel mit Bedacht,
    „wir werden eine Leiter bauen,
    ich zeige euch, wie es gemacht.“

    Er musst die müden Glieder bücken,
    denn schließlich war er Untermann,
    dann sprangen schnell ihm auf den Rücken
    der Hund, die Katze und der Hahn.

    Und so zu viert am dunklen Fenster,
    da boten sie ein schaurig Bild,
    ein Räuber schrie: „Dort sind Gespenster!“
    Die Haare sträubten sich ihm wild.

    Ein andrer rief: „Tod und Verderben!
    Wir müssen fort, so schnell es geht!“
    Da ging das Fensterglas in Scherben,
    eh nur der Hahn einmal gekräht.

    Getrieben von Gewissenslasten
    flohn jetzt die Räuber in den Wald;
    es war ein Rennen, Laufen, Hasten
    nach einem sichern Aufenthalt.

    Dass dann die Räuber wiederkehrten,
    dazu noch in derselben Nacht,
    das haben sich die sehr gelehrten
    Gebrüder Grimm nur ausgedacht.

    Doch andre Leute kamen wieder,
    die jüngst der Hahn durchs Fenster sah.
    Sie stiegen vom Geäst hernieder
    von einem Baume, der ganz nah.

    Die Tiere und die fremden Gäste,
    die ausgestanden manche Qual,
    verspeisten hungrig nun die Reste,
    die übrig war‘n vom Räubermahl.

    Dann rückten näher sie zusammen,
    das Feuer ward neu angefacht
    und sahen heiter in die Flammen,
    vergessen war der Schreck der Nacht.

    Mit ernster Miene sprach der Esel:
    „Welch guter Platz für Mensch und Tier!
    Was solln uns Hameln, Bremen, Wesel?
    Ich schlage vor, wir bleiben hier.“

    Doch hier ließ sich der Hund vernehmen:
    „Im Ganzen stimm‘ ich überein,
    doch vorher geh ich noch nach Bremen
    und heb am Denkmal dort ein Bein.“

     

    Copyright Dr. Lieselotte Riedel

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Das Meer hat keine Ufer

    Ich saß schon eine ganze Weile auf einer der Bänke am Ufer des Flusses. Je länger ich der gleichförmigen Strömung zusah, umso müder wurde ich. Und obwohl die Holzbank nicht sonderlich bequem war, fielen mir schließlich die Augen zu und ich schlief ein.

    Es war schon dunkel, als ich wieder aufsah. Der Fluss führte Hochwasser inzwischen. Merkwürdigerweise überraschte mich das kaum. Die Uferwiese hatte der Fluss sich schon einverleibt, den schmalen Radweg bereits überschritten, nur wenig später bedeckte das Wasser meine Knöchel, kroch an meinen Beinen hoch. Ich ließ den Fluss gewähren, rührte mich nicht. Ergab mich ihm wie einer Riesenschlange, deren Umarmung unausweichlich war. Schließlich nahm er mich mit. Die Strömung war stark und trug mich rasch davon. Wie leicht ich mich fühlte, neugierig drehte ich mich in alle Richtungen. Gerade trieb ich an der klotzigen Fassade des neuen Krankenhauses vorüber, als ich im fahlen Licht der Uferlaternen etwas gewahr wurde, das auf mich zutrieb. Fast konnte ich schon den Arm danach ausstrecken, da erkannte ich einen kleinen blanken Kopf, durchscheinend wie ein Lampion. Zwei dunkle Knopfaugen unter einem großen Stirnwulst musterten mich.

    „Guten Abend, was machst du denn hier?“, fragte das Köpfchen.

    „Ich schwimme hier im Fluss“, gab ich zur Antwort.

    „Wie gut, dass du da bist. Denn ich brauche deine Hilfe. Ich bin zu müde, um selber weiter zu schwimmen. Könntest du mich ein Stück mitnehmen?“

    Auch wenn die Bitte mich etwas erstaunte, wie hätte ich neinsagen können. „Ja, aber wo willst du denn hin?“

    „Eigentlich nur ans andere Ufer, aber auch das schaffe ich nicht alleine.“ Das Stimmchen klang erbärmlich matt und trostlos. „Denn gegen die Strömung hier komme ich einfach nicht an.“

    Ich drehte meinen Rücken schon einladend entgegen.

    „Weißt du, dieser Fluss hier ist nicht wie andere Flüsse“, die zarte Stimme war nah an meinem Ohr. Etwas Weiches berührte mich am Nacken.

    „Bist du schon lange unterwegs?“ erkundigte ich mich.

    „Sehr sehr lange schon“, seufzte es.

    „Entschuldige bitte, aber du bist ziemlich merkwürdig, so jemand wie du ist mir noch nie begegnet.“ Kaum hatte ich das ausgesprochen, schämte ich mich schon über meine taktlose Bemerkung.

    „Du bist nicht oft nachts hier am Fluss, nicht wahr? Sonst wärst du uns schon begegnet. Es gibt nämlich viele von uns. Wir sind die Mizu-Ko, die Wasserkinder.“

    Mizu-Ko? Tut mir leid, aber ich habe noch nie von euch gehört.“

    Das Köpfchen des kleinen Wesens berührte meine Schulter. Schwebeleicht wie eine Luftblase.

    „Wir sind die Zurückgeschickten. Die von den Empfängern nicht Gewollten. Sendungen, bei denen die Abnahme verweigert wird, weil es den Adressaten gerade nicht passt.“

    „Entschuldige, aber ich verstehe nicht ganz …“

    „Ich weiß. Das geht vielen so. Die meisten wollen auch gar nicht.“

    „Und was macht ihr dann hier am Fluss?“

    „Wie ich schon sagte, Nacht für Nacht versuchen wir ans andere Ufer zu gelangen. Nur wenige schaffen es aus eigener Kraft. Deshalb müssen wir warten, bis uns jemand hilft, so wie du jetzt. Andernfalls sind wir verloren. Für immer.“

    Eine ganze Weile trieben wir wortlos weiter. Ich glaubte schon fast das erste Aufhellen am Nachthimmel zu erkennen, da meldete sich das kleine Wesen auf meinem Rücken wieder.

    „Hast du die vielen Steintürmchen überall am rechten Ufer gesehen? Die stammen von den Wasserkindern. Während wir auf unsere Helfer warten, stapeln wir sie. Bei Tage siehst du das alles natürlich nicht. Wir und unsere Türmchen dürfen in der Welt des Lichtes nicht vorkommen.“

    Hauchzarten Händchen berührten meine Wangen und ich hoffte, meine Tränen darauf könnten weiter unbemerkt bleiben. Als wenn das möglich wäre, hier, mitten im Fluss, einzelne Tränen zu erspüren.

    „Weißt du, warum Eisbärinnen in Gefangenschaft ihren Nachwuchs töten?“

    „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

    „Weil die Gefangenschaft sie krank macht. Sie sehen keine Chance für ihre Jungen und töten sie lieber als ihr Leiden mit ansehen zu müssen.“

    Wieder schwiegen wir und ich stellte mir eine Eisbärenmutter vor, die mit ihrem Nachwuchs am Ufer des Polarmeers herumtollte.

    „Aber egal. Zum Glück bist du ja hergekommen und hast mich mitgenommen. Mit deiner Hilfe komme ich überall hin. Selbst bis ans Meer. Dort gibt es keine Grenzflüsse und auch keine Ufer. Das Meer ist bestimmt wunderbar.“

    Ich konnte nicht aufhören, an Eisbärenmütter zu denken. Das kleine Wesen hatte sein Köpfchen wieder auf meine Schulter gelegt und schien eingeschlafen. Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, das dies nur ein kleiner Fluss war, der in einen nächsten und der in einen weiteren Nebenfluss mündete. Bis zum Meer würden wir noch eine halbe Ewigkeit brauchen. Dennoch erfüllte mich eine Art Heiterkeit.

    Copyright Franz Jostberg

  • Simon-Patience-Bild

    Am Ende dieser Geschichte steht die Übersetzung von Dietrich Weller

    PATIENCE                                         

    Many, many years ago, an old wise man was asked if patience gives one power. His answer was a tale about patience.

    “Once upon a time by the banks of a small tributary of the Yellow river 河蒙西) a well known Sage was fishing. As in every refined tale it is the case, that a Sage is able to communicate with animals .Nearby the fisherman rested a large turtle. The turtle asked the fisherman again and again, the explanation of the patterns of its shell……..Your home – a shell – is your protection against all injuries. It has a pattern on it that describes your virtues. Your greatest virtue is the virtue of patience. This shell is a symbol of patience.

    Humans protect themselves with clothes against the cold. If one puts on more clothes as the cold increases, then the cold will not be able to harm us. However, clothes do not protect us against wrongs, insults, or anger. In these instances when one encounters great wrongs, one should learn to be more patient .One puts on an imaginary shell thereby the insults will be unable to irritate our minds. By being patient a turtle, for example, overcomes storms. By being patient, man can master stormy times and adversities.

    Clearly, patience is power.

    Being patient is the ability to calmly see the accomplishment of one’s goals, not hastily or impertinently. Being patient doesn’t mean sitting around waiting for things to happen.     Instead, it means to work hard as long as necessary without giving up until one attains ones goals. It is to be remembered that if one persist in one’s personal objectives, while enduring the necessary wait, one shall finally succeed. Silkworms make silk cocoons after getting their fill of mulberry leaves. Man, on the other hand, use the silk to weave gowns. In time and with patience the mulberry leaf eventually becomes a silk gown.

    With patience, one learns to enjoy the process and the journey, rather than just keeping ones sights on the end result. By practicing fishing I grow to be patient“, concluded the Sage.

     

    Author’s note                                                                                                                                         

    Patience is an English word meaning “the quality of being patient in suffering,“ originating from Latin „patientia“ (bearing hardship; endurance). The word “patience” has a double meaning as in suffering and  endurance. It can apply to both patients and doctors alike.
    A patient-patient bears hardship – with fortitude and calm and without complaint.

    A patient- physician practices – with patience, steady perseverance and even-tempered care.

    A patient-physician has a virtue to listen to his   patients and the willingness to suppress restlessness or annoyance when confronted with delays in protracted treatments.

    Dr. med. André Simon   © Copyright   

     

    Geduld

    Von André Simon, übersetzt von Dietrich Weller

    Vor vielen, vielen Jahren wurde ein weiser Mann gefragt, ob Geduld Kraft spende. Seine Antwort bestand in einer Fabel über Geduld.

    „Es war einmal am Ufer eines Nebenflusses des Gelben Flusses ein sehr bekannter Weiser beim Angeln. Wie in jeder veredelten Fabel kann ein Weiser mit den Tieren sprechen. Neben dem Fischer ruhte sich eine Schildkröte aus. Die Schildkröte fragte den Fischer immer und immer wieder nach den Erklärungen für die Muster ihres Hauses.

    Dein Haus – eine Muschel – ist dein Schutz gegen alle Verletzungen. Es trägt ein Muster, das deine Tugenden beschreibt. Deine größte Tugend ist Geduld. Dieses Haus ist ein Symbol für Geduld.

    Menschen schützen sich mit Kleidern gegen die Kälte. Wenn man bei zunehmender Kälte mehr Kleider anzieht, kann uns die Kälte nichts anhaben. Gegen Verfehlungen, Beleidigungen und Wut schützen sie uns jedoch nicht. In diesen Fällen, wenn man große Verfehlungen erlebt, sollte man lernen geduldiger zu sein. Man zieht eine scheinbare Hülle an, wobei die Beleidigungen unseren Geist nicht mehr stören können. Durch Geduld übersteht eine Schildkröte Stürme. Durch Geduldigsein kann der Mensch stürmische Zeiten und Widrigkeiten meistern.

    Ganz klar: Geduld bedeutet Kraft.

    Geduldigsein ist die Fähigkeit, die Vollendung der eigenen Ziele zu beobachten, nicht hastig oder hartnäckig. Geduldigsein bedeutet nicht herumzusitzen und darauf zu warten, dass irgendwelche Dinge geschehen. Stattdessen bedeutet es, hart so lange zu arbeiten wie nötig, ohne aufzugeben, bis man seine Ziele erreicht hat.

    Man muss sich klarmachen, dass man letztlich siegen wird, wenn man auf seine persönlichen Zielvorgaben besteht, während man die notwendige Wartezeit aushält. Seidenwürmer produzieren Seidenkokons, nachdem sie sich an Maulbeerblättern sattgegessen haben. Der Mensch andererseits nutzt die Seide, um Kleider zu weben. Mit der Zeit und mit Geduld wird das Maulbeerblatt schließlich zu einem Seidenkleid.

    Mit Geduld lernt man den Vorgang und die Reise zu genießen statt die Blicke nur auf das Endresultat zu richten. Indem ich angle, wachse ich in die Geduld hinein!`“, schloss der Weise.

    Bemerkung des Autors

    Patience ist ein englisches Wort, das die Eigenschaft bezeichnet, geduldig im Leiden zu sein. Das stammt aus dem Lateinischen patientia: Ertragen von Not, Ausdauer. Es kann sich sowohl auf Patienten als auch auf Ärzte beziehen.

    Ein geduldiger Patient erträgt Not – mit Stärke, Tapferkeit und Ruhe und ohne Klagen.

    Ein geduldiger Arzt praktiziert mit Geduld, gleichmäßigem Beharrungsvermögen und ausgeglichener Stimmung.

    Ein geduldiger Arzt hat die Tugend, seinem Patient zuzuhören und den Willen, Unruhe oder Verärgerung zu unterdrücken, wenn er mit Verzögerungen bei langwierigen Behandlungen konfrontiert wird.

    Bemerkung des Übersetzers

    Das lateinische Wort patientia ist abgeleitet vom Verb pati. Das bedeutet zulassen, dulden und erdulden, leiden und erleiden.  Hier ist bereits die Doppelbedeutung enthalten, die aus dem (primären) passiven Leid die (sekundäre) aktive Eigenschaft des Verhaltens im Leid, nämlich das Erdulden, die Geduld, entwickelt. –

    Das Verb pati ist transitiv/passiv, es gibt im Latein keine aktive Form des Leidens. Das zeigt, dass Leid als etwas Auferlegtes ertragen werden muss. Das verwandte Verb patere (mit langem e gesprochen) bedeutet offenstehen, offen sein, zulassen, offenbar sein. Daraus leitet sich der südländische Patio (= der offene Innenhof) ab.

    Passus sum bedeutet wörtlich übersetzt: „Ich werde geleidet = mir wird Leid auferlegt“.

    Diesen passiven Begriff kennen wir im Deutschen nicht, wir übersetzen ihn in das aktive „ich leide“.

    Aus dem Wortstamm pati/passus hat sich auch der Begriff Passiv entwickelt: „es passiert mit mir“, dem das Aktive „ich mache etwas“ gegenübersteht.

    Copyright Dr. Dietrich Weller