Schlagwort: Religion

  • Ich muss diesen Gedichten ein paar Worte vorausschicken:

    Wegen körperlicher Gründe ist mir das Schreiben schwergefallen (egal, ob von Hand oder am Computer). Ich musste aber meine Gedichte aufschreiben, sonst kann ich die Entwürfe bald selbst nicht mehr lesen… Ich entschloss mich, sie in den Mac zu diktieren und später in mein Gedichtbuch einzufügen.

    Dann hätte ich sie auch gleich zum Verschenken…. Ich mache keine Auswahl wie sonst und deshalb sind ein paar einführende Worte

    nötig. Manche Gedichte sind in einem Prozess entstanden, der noch nicht abgeschlossen ist, teils ist es ein innerer Erkenntnisprozess, teils gehören die Gedichte in verschiedene Projekte… Deshalb sind sie vielleicht nicht zu verstehen. Wundert Euch also nicht, wenn einige sehr… geheimnisvoll? Kryptisch?  Okkult?….

    erscheinen. Merkwürdigerweise gefielen sie einigen Freunden ganz besonders. Die Sprache, der Rhythmus, die Bilder wirken auch so… Mir fiel dazu ein Zitat von Paul Celan ein (ich will mich nicht mit ihm vergleichen!). Auf die Bemerkung, dass einige seiner Gedichte schwer verständlich sein, meinte er: Lesen, immer wieder lesen

     

     

    Unsere Pflicht ist es
    Beryll zu werden
    wie der Stein
    der den Augen
    neues Sehen ermöglicht
    wie seine Farbe
    die Farbe der
    im Feuerwasser
    im Wasserfeuer
    verborgenen Rosen

    Werde Beryll
    hilf ihm
    das Alphabet zu retten
    und sei es auch
    nur
    ein einziger Laut!
    Sage
    sprich ihn
    singe und tanze ihn forme ihn
    mit Händen in der Luft
    gestalte ihn
    in Farbe und Form

    Dann …
    du bist noch
    kein Beryll
    bist aber sein
    Gehilfe geworden

    12./13.12.2018

     

     

    Die schwarzen Vögel schlafen noch
    Die schwarzen Vögel der Nacht
    Die schwarzen Boten des Unheils
    wie die Menschen behaupten
    Menschen
    die ihre Brüder und Schwestern
    unter den Tieren nicht mehr kennen
    In Wahrheit bewachen sie im Winter
    die langsam erwachende Sonne
    deshalb siehst du sie
    in der Wintermorgendämmerung
    nur vereinzelt
    die schwarzen Vögel
    wissende Freunde von Hund und Mensch

    1. 12. 2018

     

    Heimat
    ist kein Ort
    Glaube
    ist keine Weltanschauung
    Glaube
    ist die Mutter der Liebe
    Liebe erschafft
    Heimat

    1. 12. 2018

     

     

    Dass ich mich opfern kann
    ohne mich zu verlieren
    dass ich unter den Sternen weile
    ohne die Erde zu verlassen
    dass ich fest auf Erden stehe
    und gleichzeitig hinabtauche
    in die Urgründe
    der Menschheit
    der Erde
    ohne zu ertrinken …
    Das verdanke ich
    dem Schmerz
    der mich weckt
    warnt
    hilft
    der mich das Kreuz
    spüren lässt
    das Kreuz
    das ich trage
    Nur weiß ich
    (noch) nicht:
    wessen Kreuz ist es?

    13.12.2018

     

    Wie einst der
    Zungenbaum
    in der Tiefe des Meeres
    sang
    so sangen später
    auf den Klippen des Meeres
    die Sirenen
    Die stummen Fische die
    die Laute

    des versunkenen Alphabets
    verschluckten
    wandelten sich
    in singende Vögel
    die Rettung des verlorenen Alphabets
    begann…

    …und irgendwann in Zukunft
    kann die neue Welt
    auf den Trümmern der alten
    entstehen

    14.12.2018, 17:50 Uhr

     

    Ich habe Rosen
    für dich gepflückt
    wollte dich erfreuen
    dich erinnern
    an uralt Vergessenes der Menschheit
    Doch du…
    hast die Blüten vertrocknen lassen
    und aus den Dornen
    für mich einen Kranz gewunden
    Warum?
    Du weißt doch:
    nur Freude und Liebe
    können Leid lindern

    Du weißt doch:
    es ist ein Ros entsprungen
    und auf deinem dunklen Pfad
    erstrahlt ein Lichtstrahl
    Spürst du nicht
    dein Engel begleitet dich
    das Tor zum Paradies
    ist für dich
    nicht mehr bewacht!

    Das uralte Gewässer aus
    Erdenbeginn
    funkelt im ersten Sonnenlicht
    wie am Morgen
    die Perle aus Tau
    wie die Tränen deines Kindes
    Das Netz
    geflochten aus dem dunklen Gespinst
    des Grauens unserer Zeit
    soll uns nicht mehr verbinden
    soll auch dich nicht fesseln

    Geh
    deinen Weg in die andere Welt
    Freude und Liebe
    werden deine Begleiter sein

    1. 12. 2018, 7:30 Uhr

     

    Antwort auf vegane Missionare

    Einst
    in einem längst vergangenen Leben
    wurden sie als Kind
    geschlachtet
    aufgegessen
    der Hunger
    die Angst vor dem Sterben
    der anderen
    waren zu groß

    Heute…
    um sicher zu sein
    dass sie niemals und nie
    gleiches tun
    verzichten sie auf jegliches Fleisch
    Wisst ihr nicht
    es gibt viele Arten
    zum Mörder am Leben
    zu werden

    18.12.2018, 7:45 Uhr

     

    Trugschluss

    Wenn du
    deine Augen
    mit deinen Händen
    bedeckst
    siehst du nicht mehr
    die Welt
    doch die Welt
    sieht dich immer noch
    Doch jetzt
    bist du ihr hilflos ausgeliefert

    18.12.2013

     

    Unterschied

    Ich verstecke mich
    weil ich nicht Zeuge werden will
    (und selbst nicht gesehen werden will)
    Ich verstecke mich
    hinter einer anderen Erscheinungsform
    weil ich so alles besser sehen kann
    weil ich Zeuge
    werden will

    18.12.2018

     

     

    Nach dem Hören der Nachrichten
    und der Presseschau im Radio
    am Morgen der Wintersonnenwende 2018 fragte ich mich:
    Müssen vielleicht heute
    in dieser Zeit
    hier und an vielen Orten der Welt
    so grauenhafte Dinge geschehen
    so viele
    damit wir erkennen:
    die Barmherzigkeit
    die Mitmenschlichkeit
    lebt immer noch
    unter den Menschen
    erwacht an dem Geschehen
    (oder wird sie erst
    in ihm geboren?)
    Ein neugeborenes Kind
    nicht aus der
    eigenen Familie
    kann anscheinend
    nicht mehr unsere Liebe
    Freude
    Staunen
    erwecken

    aber das Kind
    das unter Trümmern
    aus den Armen seiner toten Mutter
    lebend geborgen wurde!

    21.12.2018, 8:20 Uhr

     

     

    Ich vergesse so vieles
    weiß nicht mehr
    warum ich den einen Raum
    verließ
    den anderen betrat

    Vermeintlicher Trost sagt:
    Du hast zu viel
    an das du denken musst
    du bist müde
    auch du spürst
    das Alter

    Ist es wirklich so?
    ich ahne
    das Eigentliche dahinter:

    Innehalten
    Lauschen
    spricht aus dem eigenen Innern
    die wieder erwachte Erinnerung
    oder wird eine Frage gestellt
    der neue Impulse folgen?

    Vielleicht treten beide
    in herzlicher Umarmung
    vereint
    in mein Bewusstsein

    Jetzt
    in deinem Alter
    erinnert die Vielzahl deiner
    Pläne Pflichten Wünsche
    Vereine
    die längst vergangene Vergangenheit
    und die schon gekommene Zukunft
    in dir…

    dann …
    ist dein Vergessen
    kurz
    wie ein erholsamer Schlaf
    und die Erinnerungen kommen
    wie das Morgenlicht

    21.12.1978

     

     

    Vierter Advent
    Auch wenn ich
    wie alle Menschen jetzt
    von allen guten Geistern
    verlassen bin
    so weiß ich
    mein Schutzengel
    ist bei mir

    Ich kann den Blick
    in den Spiegel wagen
    ich kann den
    ersten Schritt wagen
    auf meinem erst noch
    entstehenden Weg

    Mein Engel fängt mich auf
    wie eine Mutter
    und er sagt tröstend
    zu mir:

    „Das Bild im Spiegel
    bist nicht du
    du hast falsch
    hineingeblickt
    schau in mein Auge…“
    Nun suche ich
    nicht nur am Himmel
    die Augen meines Engels:

    Manchmal
    finde ich sie in mir
    und es war keine Erinnerung
    wenn ich mich beschützt fühlte

    Es ist JETZT!!

    Und ich weiß:
    das Kind in mir kann ins MORGEN
    wachsen

    23.12.2018

     

    Ich spreche mit dir
    innerlich
    ohne Worte
    ich spreche mit dir
    in Gefühlen
    Gedanken
    Bildern
    Manchmal
    bist du in
    meinem Innenraum
    Dann sehe ich
    am Blick deiner Augen
    an deinem Lächeln
    dass du mich verstanden

    Für Anna

    25.12.2018

     

    I

    Ich spüre
    wie Kräfte
    vielleicht auch Wesen
    missbraucht werden…

    Sie kommen zu mir
    sind geschickt von einer
    unerlösten Toten
    – sie weiß nicht
    was sie tut –

    Die Wesen stören mich
    hindern mich
    drängen mich
    zum Abgrund

    Vielleicht ist es
    – für mich–
    zu früh
    die Seele zu erlösen?

    Sie weiß nicht
    was sie tut
    sie sucht meine Nähe
    und ist so verwirrt
    dass sie nicht bemerkt
    wie oft ich bei ihr bin
    Ich muss mich schützen…

    Eben war ich im Traum
    an der Tür des Stalles
    und bat darum
    mir meinen Umhang
    zurückzugeben

    Ich erwachte und verstand nicht:
    welchen Umhang?
    Brigids schützender Mantel
    fällt mir ein
    War ich vielleicht in ihrem Dienst
    einst und gab auch meinen Mantel?

    Vielleicht
    war die schützende
    Hülle gemeint
    die uns am Anfang
    umhüllt
    wie später Engelflügel?

    Warum musste ich
    auch erwachen
    bevor ich eine Antwort erhielt?

     

     

    II

     

    Vielleicht
    muss ich jetzt
    in dieser Zeit
    der Heilige Nächte
    in denen auch
    Dämonen ihr Unwesen treiben
    aus Gedanken
    eigenen
    Inspirationen
    geschenkten
    Tönen
    gehörten
    Bildern
    gesehenen
    mir einen
    eigenen Umhang weben

     

    III

     

    Ich werde dann
    am Faden der Erinnerung
    immer tiefer in
    die Höhle dringen
    Erwartet mich dort
    ein Ungeheuer
    oder ein Schatz?
    Vielleicht wie im Märchen
    Beides

     

    26.12.2018

     

    Beginn der 13 Nächte

    „Im Urbeginn war die Erinnerung“
    Welcher Urbeginn?
    Der eigene
    der Familie
    der Menschheit?
    Gibt es nicht viele
    Urbeginne?
    Die Geburt des Jesus
    die Geburt des Christus
    die Erschaffung der Erde wieder
    zur Zeit der Atlantis
    vor und nach der Flut

    Die Erschaffung der Erde
    als Idee
    im Kosmos

    (26. 12. 2018)

     

    Vielleicht
    sollte ich
    Vogel und Fisch fragen
    die Begleiter der
    Weltschöpfung?

    4.1.2019

     

    Überwinde die Hast
    die Hektik
    das Eilen
    die nach der Festeszeit
    wieder
    deinen Alltag
    beherrschen
    Schaffe Räume und Zeiten
    für Ruhe und Stille
    dass Güte und Weisheit
    geboren werden
    Väterlich
    mütterlich
    schützen sie
    deine Seele
    die zärtlich liebend
    sich mit der
    Schönheit der Welt
    verbindet

    Vierte Nacht der heiligen Nächte 2018/2019

     

     

    Wenn du zurückblickst
    heute
    am letzten Tag des Jahres
    und vorausblickst
    voll Hoffnung
    oder Angst
    dann verzweifle nicht
    über das Treiben in der Welt
    erschöpfe dich auch nicht
    im Kampf
    in dem du eh unterliegst

    Zeige auf andere Art
    dein Aufbegehren
    wandle dich
    werde Sand
    werde Sand
    im Getriebe der Welt

    Helga Thomas

    31.12.2018

    Aus verschiedenen Gründen wollte ich (eigentlich seit vorgestern) auf das Jahr 2007 zurückblicken. Dabei fand ich ein altes Gedicht, es war im Verlauf eines I GING-Seminars entstanden. Es passte eigentlich auch in die Zeit jetzt, ich hätte es jetzt schreiben können… Habe ich es eigentlich in mein Gedichtbuch von 2006 eingetragen? Ja, das habe ich, aber ich merkte, ich möchte es jetzt auch in meinen Gedichten von 2019 eintragen, ich möchte eine Karte mit ihm machen.

    Weil ich dich anerkenne
    habe ich Geduld mit dir
    weil ich Geduld mit dir habe
    anerkennst du mich
    meinen Rat
    meine Zuneigung
    Und langsam
    auf dem Wege der Geduld
    wandelt sich Anerkennung
    in Liebe

    Helga Thomas

    21.10.06/4.1.19

     

    Wenn du fürchten musst
    in den Fluten der Mutlosigkeit
    zu ertrinken
    und deinen Kräften
    nicht vertrauen kannst
    und keine Rettung
    weit und breit in Sicht ist…
    dann denke an den
    der über das Meer ging

    Er wird dir ein Halt sein
    dass du nicht untergehst
    selbst wenn du ertrinkst
    Mit seiner Hilfe
    wirst du dich
    zum Wasserwesen wandeln
    das seiner Schwester gleicht
    und den Menschen hilft

     

    Wer
    ohne gehalten
    getragen zu sein
    in den Fluten versinkt
    ist den Kräften des Bösen
    ausgeliefert
    Seine Angst wird sich wandeln
    in vernichtende Gefühle der Rache

    6.1.2019

    9:50 Uhr

     

    Zur Geburt des göttlichen Ich
    erstrahlte der Weihnachtsstern am Himmel
    ihm folgten die Könige
    aus fernen Landen
    Als Narziss
    – er hatte sich nie
    vom Jäger zum Hirten gewandelt–
    erkannte
    wer in seinem Spiegelbild verborgen war
    erblühte zur Auferstehungszeit
    der Stern seiner Blume
    die auch den
    heiligen Kelch
    bewahrt

    6.1.2019

     

     

     

     

     

     

  •  

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    Sprecher ist Clemens Kerz.

     

    Aus dem Leben einer Kirchenmaus

    Das Leben ist wunderbar. Selbst für mich, der ich eine arme, graue Kirchenmaus, männlich, ein Mäuserich bin. Ich lebe versteckt in einem großen zum Himmel reichenden Haus mit wunderlichen Bildern unter dem Dach und bunten Fenstern, durch die morgens und abends die Sonne tanzende rot – blaue Schattenbilder malt. Das Haus ist so lang, dass ich den Weg vom Kopf zum Fußende selten wage. Er ist gefährlich. Eigentlich lebe ich nur nachts sicher, wenn die Menschen das Haus verlassen haben, der Besitzer den goldenen Becher, die goldene Schale und das Kreuz auf dem Tisch abgeräumt, das Licht ausgeschaltet, die Türen verschlossen und sich schlafen gelegt hat.

    Vor ihm und den Menschen, die mit Wassereimern, Besen und Wischtüchern nicht einmal einem kleinen Staubkorn erlauben, sich auszuruhen, muss ich mich verbergen und in Acht nehmen. Ich darf keine Spuren hinterlassen, die auf meine Existenz deuten könnten. Ich habe da meine Erfahrung.

    Es ist gar nicht so lange her und der Schrecken dringt mir immer noch in meine Träume, als ich aus einem Wasserrest getrunken hatte, der von den Reinigungsmenschen übersehen worden war. Einen Tag danach bekam ich fürchterliche Bauchkrämpfe und einen so heftigen Durchfall, dass ich meine Toilette nicht mehr erreichen konnte. Wie es das Schicksal will, wurden meine Hinterlassenschaften sofort entdeckt. Die Menschen suchten nach mir in den dunkelsten Verstecken, stellten Käsefallen auf, ja, beauftragten sogar eine Katze mich zu fangen und zu töten.

    Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Ich musste hungern und darben. Ich flüchtete mich in die Einsamkeit hinter einem großen Bild im ersten Stock. Es zeigt einen abgemagerten Mann, der schwer an einem Kreuz trägt. Ich weiß nicht, ob er es war, der mir half, die verlockenden Käseversuchungen, den Hunger, Durst und all die Angst zu überstehen. Aber ich glaube es. Heute, da ich nach Tagen vorsichtig und voller Furcht in mein Zuhause zurückkehre, lächelt er mir zu.

    Zu meiner Überraschung begrüßt mich eine mir unbekannte, weiße, wahrscheinlich Einstein – intelligente Maus Madame. ‚Sie werde Madame Curie genannt. Sie sei eine Labormaus. Mit List und Verstand dem Verderben entronnen. Die Flucht sei extrem schwierig gewesen, da sie von der Welt außerhalb ihres Laborkäfigs nichts gewusst habe. Sie sei durch mehrere Abwasserkanäle geschwommen, habe sich erschöpft auf den stinkenden Abfällen der Menschen ausruhen können, und sei schließlich durch die offene Tür in die Kirche geschlüpft – denn das sei hier doch, so wie sie es auf ihrer langen Reise erfahren habe, ein Gotteshaus. Sie bitte um Aufnahme und Schutz. Um sorgfältige Betreuung. Hungrig sei sie und durstig dazu.‘

    Ich bin mit mir uneins. Da bittet um Aufnahme und Schutz eine Madame Curie, die wahrscheinlich welterfahren und intelligenter ist, als ich es bin. Ich habe von der Welt nichts, aber auch gar nichts, sie aber hat alles gesehen. Sie weiß sogar, dass mein großes Haus eine Kirche ist. Zweifelsfrei, sie ist schön, sexy, attraktiv. Aber ich? Bleibe ich Herr im Haus? Hat sie vielleicht einen Pakt mit der Katze oder mit dem Käsefallensteller geschlossen? Sagt ihnen, wann ich mein Versteck verlasse und zur leichten Beute werde?

    Kann ich ihr vertrauen? Wie kann Ich sie auf die Probe stellen? Vielleicht mit meinen Erinnerungen an die Vorträge über Wissen, Glauben, ferne Länder, die ich aus meinem Versteck verfolgen konnte?‘

    Ich bitte sie, sich zu mir an den Tisch zu setzen, mit mir zu essen und zu trinken. Ich nenne sie ‚Liebes‘ – ja, ich bin schon in der Stimmung sie ‚Liebes‘ zu nennen und sage zu ihr:

    „In der großen, weiten Welt war ich noch nie. Ich kenne nur die Menschen, die hier in das Gotteshaus kommen. Entweder sie fotografieren sich mit ihrem Smartphone, oder setzen sich andachtsvoll auf die Stühle.

    Die Menschen, die in den Vorträgen gezeigt werden, verhalten sich anders. Die tragen rote Schwimmwesten und sitzen eng aneinander gepresst auf kleinen Gummibooten, die über das Wasser schaukeln. Manchmal tobt das Meer. Dann fallen die Menschen hinein und ertrinken. Manchmal findet sie ein großes Schiff. Dann klettern die Menschen von dem kleinen Boot auf das Schiff.

    „Weißt du, warum die Menschen das tun? Haben sie keine Angst?“, frage ich sie. „Ich habe große Angst vor dem Wasser. Das Meer ist ein Teufel.“

    „Das Meer, sage ich dir, ist kein Teufel. Es folgt wie ein Mensch seinen Gefühlen. Mit Liebe und Hass, Mordlust und Mitleid, Neid und Gier. Das Gefühl des Wassers ist der Wind. Du musst den Wind begreifen, wenn du das Meer verstehen willst“, erwidert sie.

    „Und die Menschen? Hier in dem Gotteshaus sind sie friedlich. Reichen sich die Hände. Singen andachtsvolle Lieder. Knien und beten. Spenden sogar Geld“, erkläre ich.

    „In den Vorträgen aber erzählen die Menschen, „dass da draußen Kinder, Männer und Frauen gemartert und ermordet würden. Kinder und Frauen würden in einer Reihe aufgestellt. Ihnen dann die Köpfe abgeschlagen. Kleine Kinder würden auf alte Frauen schießen. Kampfjets Bomben abwerfen und ehrfurchtsvolle Häuser zertrümmern. Die Menschen würden hungern, sich hassen und Krieg führen. Die bösen Menschen würden die guten Menschen martern und vertreiben. Deshalb seien fliehende Menschen immer gute Menschen. Und guten Menschen müsse man helfen.“

    Sind diese Berichte Fake News? Besitzen böse Menschen kein Herz, keinen Verstand? Wissen böse Menschen, dass sie böse sind? Oder glauben sie, dass sie Gutes tun? Du kommst aus der Wissenschaft. Hast die weite Welt durchwandert. Bitte sage mir. Sagen die Vorträge die Wahrheit? Wenn ja, warum sind die Menschen dort so böse und hier so gut?“, frage ich sie.

    Sie lächelt mich an: „Wie der Wind die Stimmung des Meeres regelt, so bestimmt die Landschaft die Gefühle der Menschen. Ich war eine Versuchsmaus. Ich lag schon mit gespreizten Beinen auf dem Rücken. Eine weiß gekleidete Menschenfrau hielt mich fest und wollte mich töten, als sie einen Anruf erhielt. „Ich muss es dir sagen: Es ist aus mit uns. Endgültig!“, hörte ich die Telefonstimme. Die Menschenfrau wurde kreidebleich und ließ mich fallen. Ich benutzte ihre Verzweiflung. Floh sofort. Flitzte durch den Türspalt hinunter auf die Straße.  Suchte nach Schutz.

    Wenn du auf der Flucht bist, sind Katzen sehr gefährlich. Aber sie meiden Wasser wie die Pest. So rannte ich durch die Abwasserkanäle zum Flusshafen, schlich mich auf ein Containerschiff und fuhr als blinder Passagier um die Welt. Ich erlebte übersatte, aber auch magere Tage. An manchen fraß ich Menschenfleisch, das ich den Ratten stahl. Es schmeckt gar nicht so schlecht, sage ich dir.

    Ich verbarg mich in Kameltaschen und Schilfrohrhütten, klaute den hungernden Bauern das letzte Maiskorn. Dabei hatte ich kein schlechtes Gewissen, denn sie wurden sowieso erschossen. Auf weiße Mäuse aber schießt niemand. Zumindest nicht in Afrika. Schließlich brachte mich ein Kohleschiff wieder in den Hafen. Dort floh ich vor einer lauernden Katze in diese Kirche, zu dir.“

    „Du hast viel erlebt in deinem aufregenden Leben. Sind die Menschen wirklich so böse? So böse wie Katzen, die mit uns Mäusen Stierkampf spielen. Uns quälen, bevor sie uns ermorden?“

    „Ich kann dir nicht sagen, was bei den Menschen gut und böse ist. In der Mauswelt kann ich keinen Unterschied erkennen oder gar erklären. Bei den Menschen?

    Ich meine, dass viele Menschen gut sind und Böses tun. Andere sind böse und tun Gutes. Die Menschen glauben oft, sie täten Gutes und wissen selten, dass sie Böses tun. Umgekehrt gilt das aber nicht. Denn die Menschen glauben niemals, dass sie Böses tun und wissen selten, ob sie Gutes tun.

    Wir Mäuse haben wenige Probleme. Die Wichtigsten sind Katzen, Fressen, Trinken, Kinder aufziehen. Menschen haben viele Probleme. Zusammenleben, Eigentum, Arbeit, Freizeit,  Macht, Unterscheidung in Gut und Böse. Diese Aufgaben können sie heftig erzürnen. Dann demonstrieren sie. Fühlen sich stark. Werden gewalttätig. Legen Feuer. Vergewaltigen und Morden.

    Sie gründen eine ‚Heiligen Katze’, tanzen um sie herum. Verlangen von jedem Menschen, dass er sie anbetet. Tut er das nicht, dann töten sie ihn wie ein Schwein. Wie die Katze uns Mäuse. Sie sagen, dass nur die Katzenanbeter Gottes würdige Menschen seien. Die anderen höchstens Affen, Hunde, zumeist Schweine. Deshalb würden sie allenfalls Hunde, Affen oder Schweine, niemals Menschen morden. Weißt du, wenn sie Katzen töten würden, hätte ich eine gewisse Sympathie für sie.

    Wissen verachten die Katzenanbeter. Es interessiert sie nicht. Nur ihr Katzenglaube zählt. Deshalb könnten sie mit ihrem Glauben Berge versetzen. Mit Wissen wäre das weniger als ein Staubkorn.

    Ich bin eine Maus. Ich kenne keinen Glauben. Ich stelle mir vor, dass ein Glaube auf inneren Wunsch, Vorstellung und Gefühl beruht. Er Ist an die Seele gebunden und führt sie bis hin zum Tod. Bei Katzenanbetern möglichst mit Mord an fremden Affen, Hunden oder Schweinen.

    Wissen habe ich nur im Labor gesehen. Dort wird begründet und beobachtet. Katzenanbeter können das nicht verstehen.

    Dort habe ich beobachtet, wie sich die Menschen erregten, heftig stritten. Über Dinge, die sie weder verstanden noch selbst erfahren hatten. Sie glaubten an Demokratie, nur wenige an Katzen. Sie wussten auch, dass ihre Demokratie eine Fata Morgana ist. Ein falsches Spiel. Deshalb verstehe ich nicht, warum die Menschen nicht das tun, was sie wissen, sondern nur das, woran sie glauben.

    Die Menschen hier wollen Demokratie nach Afrika exportieren und wundern sich, dass die Afrika-Menschen von dieser heiligen Katze nichts wissen, sie nicht einmal als Gastgeschenk empfangen wollen. Für Essen, Trinken, oben schwimmen, den Tod vermeiden kämpfen sie dort, wo das Leben am Abgrund steht. Dummheit ist tödlich. Die intelligenten Menschen führen die Dummen zur Schlachtbank. Manchmal überlassen sie uns Mäusen das Menschenfleisch als Dessert.“

    Ich höre ihr gespannt zu. Blicke ihr tief in die Augen. Sie zwinkert. Ich fühle eine tiefe Zuneigung zu ihr. Schon möchte ich sie in meinen Arm nehmen, ihr einen Kuss geben, als eine tiefe Männerstimme ‚um Aufmerksamkeit’ bittet. ‚Er heiße die Anwesenden herzlich willkommen und freue sich, ihnen seine Erlebnisse aus dem Sudan und Jemen berichten und erklären zu können’.

    „Komm mit mir. Es gibt einen Vortrag über das Elend der Menschen. Vielleicht auch über die Katzenanbeter. Komm bitte! Lass uns zuhören!“, bitte ich sie spontan. Wir verlassen vorsichtig unser Versteck und schleichen entlang der Bodenspalten in meine dunkle Zuhörerecke. Ein schlanker hochgewachsener Mann mit ausschweifendem Bart und zerzausten Haaren steht am Rednerpult. Er spricht laut und zeigt erschreckend bunte Bilder.

    Im vertrauten Zuhörerversteck höre ich den Redner sagen‚ er wisse, dass die Bilder, die er jetzt zeigen werde, schwer zu ertragen seien. Die Aufnahmen seien authentisch. Die Wahrheit. Er selbst habe sie geschossen. Es seien die Dokumente eines fürchterlichen Krieges. Verstümmelte Leichen, um die sich niemand außer Ratten und Mäusen kümmere.

    „Hier, bitte beachten Sie, unter den grauen Ratten frisst sogar eine weiße Maus! Auch in dieser von Gott verlassenen, schwer bestraften Welt zeigt die Natur, wie stark sie ist. Dass seltsam auffällige Tiere jedem Tod zum Trotz überleben können!“

    Auf den sorgfältig in Reihen aufgestellten Bänken sitzen die Zuhörer. Unter ihnen ein junges Paar. Beide schmiegen sich eng aneinander, halten sich an den Händen. Sie trägt lange, schwarz gefärbte Haare und ein buntes Sommerkleid. Er hat die Kopfhaare abrasiert. Ist ein kräftig gebauter muskelstarker Mann. Sie ist erschreckt. Ihm macht nichts und niemand etwas vor!

    „Du, Martin! Das ist doch eine Labormaus! Kein Albino! Eine gewöhnliche Labormaus!“, flüstert sie. So laut, dass einige Zuschauer sich erstaunt nach ihr umdrehen. So laut, dass meine Freundin Madame Curie und auch ich es hören.

    Sie wisse das genau! Die weiße Maus gleiche genau der frechen Labormaus, die ihr vor einigen Monaten, als sie noch mit Peter befreundet war, entwischt sei. Die habe ihr damals bei ihrem Chef eine Menge Ärger eingebrockt.

    Dann blickt sie in unsere Richtung. Ich bin besorgt, ob sie mich oder meine Freundin in ihrem weißen Fell entdecken kann.

    „Du Martin, ob es hier Mäuse gibt?“, fährt sie fort.

    ‚Er glaube es nicht. Die würden in der Kirche nichts zu fressen finden. Hier könnten sie nicht überleben und seien gezwungen, wie die Flüchtlinge auf den Fotos auswandern.

    Allerdings … Er erinnere sich an einen Vorfall im letzten Jahr. Da habe man voller Abscheu Mäusekotspuren direkt neben dem Altar entdeckt. Man habe versucht, die Maus mit Käsemausfallen zu fangen. Ja, sogar ein Katze in der Kirche übernachten lassen. Die Maus sei nicht erwischt worden. Ihr Kot aber sei seitdem verschwunden. Man glaube, dass die Maus gestorben oder verhungert sei, jedenfalls nicht mehr in der Kirche lebe. Die Mausaktion sei somit erfolgreich gewesen.’

    „Ja, das bin ich“, bestätigt mir meine Liebe Madame Curie. „Ich war im Jemen. Nach einem Bombenangriff wurde fotografiert. Wir alle aßen Menschenfleisch. Es gab nichts anderes. Es schmeckt übrigens nach Mais und Zucker. Gar nicht so schlecht. Ich könnte mich daran gewöhnen.“

    „Liebes“, sage ich ihr. „Menschenfleisch kann ich dir leider nicht anbieten. Aber Oblaten aus der goldenen Schüssel oben auf dem Altar. Manchmal auch einige Tropfen Wein aus dem goldenen Becher. Sie sagen, das sei das Blut und das Fleisch Gottes, des Jesus von Nazareth.

    Man überlege, die Kirche in eine Moschee um zu gestalten. Es gäbe nur noch wenige Kirchenbesucher, hörte ich vor einigen Tagen den Pfarrer sagen. Wenn das geschieht, versiegt meine Nahrungsquelle. Ich kann dich dann nicht mehr mit dem Blut und Fleisch des Jesus von Nazareth ernähren. Dann müssen wir flüchten. Vielleicht dorthin, wo wir Menschenfleisch finden können.“

    Sie schmiegt sich an mich.

    Das gehe in Ordnung. Dort kenne sie sich aus. Dort würde sie schon für mich sorgen können, tröstet sie mich. Ich umarme und küsse sie. Dann sage zu ihr: „Wie wunderbar wird unser Leben!“

  • Sprecher ist Clemens Kerz

  • Seelenruhe

    (26.6.2018)

     

    Milliarden Jahre Lebewesen auf der Erde
    Millionen Jahre Menschenaffen
    Zehntausende Jahre menschliche Kultur
    Meine eindeutige Endgültigkeit
    betrachtet im Lichte anderer Zeitabschnitte
    ermöglicht eine gütige Gelassenheit
    bei der Pflege des Sinns für Gerechtigkeit

    ֎֎֎

  • Beitrag zur Lesung „Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähle ihm von deinen Plänen“
    beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

     Gott unter Göttern?

    „Prometheus“ heißt ein Bildarchiv, das vom archäologischen und kunsthistorischen Institut Gießen initiiert und jetzt im gesamten Campus der Universität aufgerufen werden kann. Den Zugang erhält man über eine Abkürzung der ersten Zeilen von Goethes Hymnos Prometheus:

    „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!…

    Hier interessiert uns aber weniger das Gießener Bildarchiv als die Frage, wie das Gedicht dann weitergeht. Es wird heftig.

    „Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonn‘ als euch Götter!“

    Dann kommt es sogar monotheistisch daher:

    „Hast du die Schmerzen gelindert
    je des Beladenen?
    Hast du die Tränen gestillet
    je des Geängsteten?

    Hier sitz ich, forme Menschen
    nach meinem Bilde,

    zu leiden, weinen,
    Genießen und zu freuen sich,
    Und dein nicht zu achten,
    wie ich!“

    Als guter hessischer Beamter zahlte mein Vater zwar getreulich seine evangelische Kirchensteuer und sorgte dafür, dass sein einziges Kind getauft wurde, doch war er eigentlich Agnostiker, der vor allem an den Vulkanismus glaubte.

    Meine Mütter stammten aus dem Badischen und waren katholisch. Als kleinem Mädchen gefielen mir die Glöckchen, der Weihrauch und die weißen Kleidchen bei der Fronleichnamsprozession. Dieser Luther, pflegte mein Vater zu sagen, war zwar ein großer Sprachschöpfer, aber  ein sturer Bock. Ich fand vor allem, dass er es uns Protestanten unnötig schwer gemacht hat mit seinem „sola fide“, allein durch den Glauben. Ein paar gute Werke – und die Sache hätte ganz anders ausgesehen! Schon bei der Konfirmation war mir die Ausschließlichkeit des Glaubens nicht geheuer, und ich empfand mich als unwürdig. Von meinem Kirchenaustritt und meiner Hinwendung zu den Göttern der Antike allerdings wäre mein Vater trotz seiner eigenen naturwissenschaftlichen Einstellung nicht begeistert gewesen. Dabei kann ich es mir jetzt aussuchen: Demeter für das allzu früh entbehrte Mütterliche, Kore/Persephone für die Ambivalenz von Welt und Unterwelt, Werden und Vergehen, Zweifeln und Hoffen. Auch Dionysos ist einer, der es hat, dieses: „Stirb und Werde“[1], ein Maskengott und Spender des Weines. Ebenso sympathisch ist mir der hinkende Hephaistos, ein begabter Waffenschmied und schöpferischer Kunsthandwerker, der sich von seiner Gattin Aphrodite mehr als nur ein Paar Hörner aufsetzen lässt. Und erst die Hörner verteilende Aphrodite selbst! Sie ist eine der vielschichtigsten Gottheiten überhaupt, mit ihren östlichen Wurzeln, den Verbindungen zur phönikischen Astarte und den ägyptischen Göttinnen Hathor und Isis, Herrin über Liebe und Schönheit, aber auch gewappnete Kriegerin!

    Meine Pläne? Noch ein bisschen weiter so: ernsthaft recherchieren und der Wissenschaft frönen, fabulieren und mystifizieren, rezitieren und auf unserer gemeinsamen stabilen Basis kräftig mit meinem Mann streiten, Wein trinken und Freude haben am Essen und den anderen schönen Dingen des Lebens.

    Sollte dieser Christengott darüber lachen können, so ist er willkommen im Kreis meiner Götter, bei denen im Olymp ebenso wie bei den anderen im Schoß der Erde.

     

    [1] J. W. Goethe, Selige Sehnsucht, West-Östlicher Divan. Buch des Sängers.

    Copyright Dr. Dr. Waltur Wamser-Krasznai

  • Beitrag zu der Lesung „Der Mensch im Roboter – der Roboter im Menschen“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Poseidon trifft Roberto, den Androiden

     

    Poseidon taucht an der jonischen Felsenküste aus den Fluten; er trifft auf einen kleinen Roboter, der sich ihm vorstellt: „Poseidon, ich bin Roberto. Seit Jahrtausenden schaue ich Dir zu. Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du von dir Unmögliches verlangst?“

    „Ich überfordere mich nicht“, entrüstet sich Poseidon, „ich möchte zwischendurch einmal Ruhe haben, Ruhe vor dem Berechnen der ewigen Gezeiten und Strömungen! Ich kann sie sehr wohl von den unendlichen Datenfluten der digitalen Berechnungen unterscheiden.“  Poseidon klappt das wasserdichte Laptop zu und schnauzt: „Du Knirps von Spion, sag, was bist denn du für einer?“

    „Was hast du denn, Poseidon? Die Sterblichen sind es, die den Schöpfergöttern die Schuld an den endlosen Datenfluten zuschieben, weil sie ihnen zu wenig Verstand einfößen! Ich bin ein androider Roboter.“

    „Kleiner Mann mit großer Eigenschaft!“, ruft Poseidon, „ein kleiner Android mit großen Ideen! Wie heißt du noch einmal? Wie kommst du zu solchen Ideen?“

    Roberto blickt auf Poseidon, der in die Brandung hinabsteigt: „Ich heiße Roberto. Ein Italiener hat mich ausgetüftelt und mir den Namen gegeben. Was rede ich, das verstehst du ja nicht.“

    Poseidon versinkt in den Fluten der Brandung. Er taucht auf, steigt auf seinen Felsen, setzt sich nieder und ruft: „Komm her, Roberto, du italienischer Schauspieler!“

    Roberto springt elegant von Fels zu Fels, hält sich an den richtigen Vorsprüngen fest, bleibt stehen, die großen Augen treffen Poseidons Blicke: „Ich bin kein Schauspieler, prinzipiell bin ich wie du und – nicht wie die Menschen, die mich gebaut haben.“

    „Ja, du kommst mir anders als die Menschen vor“, raunt Poseidon und senkt den Kopf: „Die Menschen sind verkrampfte Schauspieler, nicht so locker wie du und ich.“

    Roberto lacht: „Dabei täuschen sie sich selbst, wenn sie die Häuser hoch hinaus bauen und sich zum Schlafen doch nur flach niederlegen, die Zimmerdecke viel näher an der Stirn, als wir beide das Firmament haben.“

    „Am Anfang“, lacht Poseidon mit, „hatten sie nur Lagerfeuer im Freien oder Höhlen, brennende Hitze auf ausgestreckten Händen und ständiges Frösteln auf dem Buckel! Was dauerte es, bis sie auf die Idee kamen, Gruben mit heißen Steinen und kochendem Wasser zu füllen, hineinzusteigen und die Wärme am Buckel zu genießen.“

    Roberto ergänzt: „Räuber und Rivalen machten sie zu Sklaven, Krieger brachten sie um, und der Tod hatte weniger zu tun.“

    „Was haben sie sich abgemüht, dabei hätten sie es leicht gehabt, denn sie sterben ja von selbst“, murmelt Poseidon und erhebt die Stimme: „einer musste Wache halten, immer einer, und heute vergessen sie uns Götter. Seit ihre trägen Datenfluten über alles schwappen, über Geschäfte, Affären und Krankheiten, halten sie sich für unsterblich. Es hilft nichts, die Unsterblichkeit haben nur wir Götter.“

    „Nur ihr Götter?“, wirft Roberto ein, „bedenke, Poseidon, selbst dein Name ging unter, als sie dich später Neptun nannten.“

    Poseidon winkt ab: „Namen! Mir ist es gleich, wie sie mich nennen, ich bin ich, immer derselbe.“

    „Bei mir, Poseidon, ist es dasselbe: ab und zu wechseln wir ein Teil aus, wir leben weiter. Wir wechseln erneut Teile aus und leben weiter, bis alle Teile ausgewechselt sind. Du erinnerst dich, das Schiff des Theseus, und du weißt es schon: Jeder von uns bleibt trotzdem derselbe Roboter – für immer.“

    „Du wirst doch nicht sagen wollen, Roberto, dass ihr unsterblich seid?“

    Roberto senkt den Blick: „Du sagst es, als Unsterblicher weißt du, was es heißt, unsterblich zu sein.“

    Tausend und zwei Jahre später trifft Poseidon Roberto wieder und gibt dessen Unsterblichkeit zu.

    „Siehst du, Poseidon, nun bleiben ihr und wir übrig, Götter und Roboter. Hör zu! Einer muss da sein, damit es die Welt überhaupt gibt. Einer muss fragen, ein anderer muss antworten, und wieder ein anderer muss zupacken, damit sich Fakten ergeben. Ist keiner da, der Fakten schafft, der die Welt antastet, ist es völlig unwesentlich, wie oft du Strömungsfluten und Datenfluten berechnest.“

    Poseidon prustet und versprüht eine Ladung Salzwasser: „Hoho, mein lieber Roberto! Wären die Irdischen unsterblich, löste sich ihr Schicksal auf, denn sie könnten ständig Fehler ausbessern, jeden Irrtum aufheben, jede Schuld verzeihen, und für den Fortschritt gäbe es keinen Grund. Darum haben wir Götter vorgesorgt. Roberto, ich sage dir, es  gibt ihn noch, den Menschen im androiden Roboter, denn die Programme in euch altern schneller, je öfter ihr sie ab- und überspielt.“

    Poseidon zieht sich mit dröhnendem Lachen in seinen Kristallpalast zurück, umflutet von den Tiefen der Weltströme, lässt das wasserdichte Laptop rechnen und rechnen, ohne herauszubekommen, wie die Wechselwirkungen der Lebensfluten mit der Schwermut zu verrechnen wären … Poseidon könnte den wallenden Fluten nur mit der Flucht in den Himmel oder in den Hades entkommen. Das wären jedoch Wege, die ihn wegen der fehlenden ozeanischen Datenfluten zur wütenden Umkehr brächten, so dass er weder über den Olymp zum Himmel noch den Weltuntergang hinunter zum Hades gelangte.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  •  Beitrag zu der Lesung „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzählte ihm von deinem Plänen“ in Wismar 2018

     

    Lacht Gott oder nicht?

    Wie jemand über Gott nachdenkt, so philosophiert er. Darum lacht Gott sehr oft. Je tiefer die Einsicht in Gott wächst, desto mehr weicht er von uns zurück.

    Mit Gott ist kein Staat zu machen, weil er staatenlos ist. Er ist das einzige Wesen, das um zu herrschen nicht regieren muss. Lacht Gott darüber oder nicht? Er lächelt gequält, weil er weiß, dass er in uns ist, und dass die Suche nach ihm zur Apokalypse ausarten kann.

    Wenn Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen hätte, könnte kein Mensch ihn wahrnehmen. Denn Gott gliche einem menschlichen Ebenbild, gäbe den berühmten blinden Fleck der Erkenntnis ab: Gott würde nicht lachen, weil er die Ebenbildlichkeit blasphemisch empfände.

    Gott birgt einen umfangreicheren Reichtum an Phantasie als jede superintelligente Rechenmaschine, die seit Jahrzehnten versucht, die Einheitstheorie der Welt zu begründen. Lacht Gott oder nicht? Er lacht Tränen, weil er den Ansatz als chancenlos einstuft.

    Früher verstand man den Ursprung des Blitzes nicht, man erklärte ihn mit der Existenz des Allmächtigen. Heute versteht man die Entstehung des Universums nicht. Lacht Gott oder nicht? Er bricht in lärmendes Gelächter aus, weil die Vorstellungen vom keinesfalls überwindbaren Mangel an Phantasie zeugen.

    Mit und ohne Gott geht es nicht. Wo ist der Schöpfer, wenn ich ihn brauche? Er ist weder da, wo ich ihn suche, noch da, wo ich in benötige. Er schweigt, weil er zuhört. Lächelt er oder nicht? Er lacht, sobald du dich nach ihm umdrehst, weil du bereits bei ihm angekommen aber vorbeigerannt bist.

    Der Gegenentwurf der Gesamtheit menschlicher Pläne ist Gott, weil er, um aufzufallen, das menschliche Bewusstsein reizt. Er muss uns nicht ernst nehmen; wir müssen ihn ernst nehmen. Lacht er oder nicht? Er grinst, weil er sich umso unbegreiflicher offenbart, je mehr wir glauben, ihn zu begreifen.

    Was tut die Blume mit Gott? Sie lässt ihn den Anblick genießen. Schaut er aus der Ferne oder nicht? Er schaut. Im Anblick eines Blumenstraußes träumt er seinen schönsten Traum, weil ein Strauß Blumen auch Abstand gelten lässt.

    Ohne Sünder gäbe es Gott nicht, weil er die Welt erschuf und nicht wir. Schimpft er oder nicht? Nein: Gott verteidigt seine Geschöpfe gegen den Menschen!

    Gäbe es Gott nicht, erfänden wir ihn. Lacht Gott oder nicht? Er lacht, weil er der Schöpfer ist, nicht wir.

    Er ist die Stille, er beruhigt Freund und Feind. Ihn schauen, heißt Atem schöpfen. Entgeht uns sein Lachen oder nicht? Es entgeht uns, weil er nicht wie sein menschliches Ebenbild lacht.

    Das Göttliche in uns ist, dass wir von Gott mehr ahnen, als wir glauben. Aber wir ahnen weniger, als er ist. Wer sich vor ihm verneigt, sieht nicht, ob er sich zuneigt!

    Handeln wir nach der Vermutung, wie Gott in einer solchen Situation wirken würde, wird er ein Gelächter anstimmen oder nicht? Ja, er käme kaum aus ihm heraus.

    Ist er die Vision der Menschheit? Es liefe fabelhaft. Erfüllen die Irdischen den Willen Gottes? Diese Idee führt zur Gotteslästerung pur. Das Böse steht im Schatten des freien Willens.

    Eine negative Patientenverfügung hilft nicht weiter: Sie schreibt vor, alles zu unternehmen, um so lange wie möglich am Leben zu bleiben, damit du endlich das Korrigieren anfängst. Ein Zustand träte ein, den du beileibe nie beabsichtigtest: Nämlich Satan lacht dich aus. Darauf fängst du das Beten an: Gott hütet sich, dich auszulachen.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Herzstillstand im Paradies

    Science Fiction

     

    Im Zentrum des heiligen Labyrinthes thronte Gott mit seinem Sohn und seiner Tochter. Aus dem Baum der Erkenntnis strömte unablässig das Licht der Welt und erstrahlte den himmlischen Garten. Dem Menschen ungekannte Farben übertrumpften sich gegenseitig und woben einen Teppich unendlicher Brillanz. Am Einlass des elfgängigen kreisförmigen Labyrinthes verwöhnten duftende Rosen in violetten Nuancen die Augen. Es folgten in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Regenbogens in fließenden Übergängen blaue, dann grüne, gelbe, orangefarbene und zuletzt rote Farbtöne im Herzen. Allein der Erkenntnis war es erlaubt, in unbeflecktem Weiß in Erscheinung zu treten.

    Gottes Sohn war erwachsen geworden. Es begehrte ihn nicht mehr, den verbotenen Ort namens Erde zu betreten. Er hatte seine Lektionen im göttlichen Kindergarten gelernt. Er hatte alles gesehen und erfahren, um das Werk seiner Eltern zu begreifen. Er war selbst mehrfach Mensch geworden, und musste erkennen, dass auch dies nichts nützte, nennenswerte Änderungen für einen längeren Zeitraum herbeizuführen.

    »Vater, ich erzählte den Menschen von der unsterblichen und liebenden Seele, aber sie verstanden mich nicht, und die wenigen Auserwählten, die mich verstanden, opfern ihrem Glauben zuliebe seit Jahrhunderten ihr Leben, ohne dass sich das Schicksal der Menschheit ändert.«

    Gott dürstete es nach Weisheit, und so bat er seine Frau um Unterstützung. Der Heilige Geist wusste über jeden und alles Bescheid, sie war das wandelnde Lexikon und die Retterin in der Not.

    »Meine Herrin des Himmels, meine Ashera, meine Liebe, meine Isis, mein Heiliger Geist, sei bei uns, wir brauchen dich.«

    Gottes Sohn seufzte. Seine Mama durchschritt das Labyrinth niemals ohne Abkürzung: es wird nicht übersprungen, nicht überflogen oder geschummelt. Selbst wenn ihr die Stacheln dieser edlen Rosen niemals Schaden zufügen, die Regeln des Labyrinthes bricht sie nicht achtlos. Gewissenhaft durchschritt Maria alle Winkel, Biegungen und Ecken des göttlichen Gartens, nicht ohne Huldigung, Begeisterung und Bewunderung gegenüber Mutter Natur, deren Schutzherrin sie war.

    El, der Herrscher über den Himmel, legte die hohe Stirn in Falten. »Als du noch jung gewesen bist, hast du die Menschen ohne meine Erlaubnis aufgesucht, und jetzt, nachdem ich eine neue Aufgabe für dich ersonnen habe, willst du dich meinem Willen widersetzen?«

    Maria, die Mutter Gottes Sohnes und Hüterin der Marien, verteidigte ihre Kinder. »Nach Schaffung der Erde hast du dich nur wenige Male bei ihnen blicken lassen. Stattdessen hast du uns als Menschen zu ihnen gesandt, um die Fehler deiner Schöpfung auszubügeln. Du musst zugeben, dass diese Projekte gescheitert sind.«

    Noch während sich die Heiligen über Schuld, Versöhnung und Vergebung stritten, schritt Gottes Tochter zur Tat, setzte sich an den Zentralcomputer, loggte sich mit dem Administratorpasswort ihres Vaters ein, öffnete das Programm »Simulation Erde 2 hoch 50 Punkt Null« und änderte das Schicksal der Menschheit.

    Was nutzte es, wenn einige wenige Menschen nach den Geheimnissen des Universums lebten? Was geschähe, wenn sie alle gleichzeitig am Wunder des Lebens teilhaben? Den Himmel auf Erden schaffen, wie ihr Vater es predigte? Sie wusste all zu gut, dass auch die aktuelle Simulation dazu verdammt war, frühzeitig zu scheitern. Das war in ihren Augen gegenüber den Seelen, die vertraglich dazu verpflichtet waren, für Äonen von Äonen in die Menschen zu schlüpfen, unfair und ungerecht. Denn ohne Seele konnte die biologische Simulation nicht gestartet werden. Jene Seelen litten, zumindest ihrer Auffassung nach, unnützerweise Qualen zu Lebzeiten, nur damit ihr Vater Gefallen an seiner biologischen Simulation, der Schöpfung, hatte. Er mochte ein guter Programmierer sein, aber sie, und das war ihr von Anbeginn der Raumzeit klar, war besser.

    Der ungebetene Beweis wurde ungefragt in die Tat umgesetzt.

    Am Rande des Sonnensystems, in dem die Erde ihre Runden zog, erschien quasi aus dem Nichts eine Wolke gigantischen Ausmaßes. Nicht irgendeine Wolke, sondern DIE WOLKE.

    Die Spiegelteleskope der Astronomen wurden zuerst fündig. Es wurden sehr schnell schlaue Theorien aufgestellt, um die Herkunft der Wolke wissenschaftlich wasserdicht zu erklären, und die Weltbevölkerung lebte ungestört und zufrieden weiter wie immer. Was interessierte denn die Allgemeinheit, was der Himmel schickte? Doch die Größe des unbekannten Objektes erschütterte nicht nur die Gemeinschaft der Physiker. Die Wirtschaftsbosse der Erde waren zutiefst beunruhigt. Wollte eine außerirdische Macht die Weltherrschaft an sich reißen? Würde die Wolke die Erde gar zerstören? Sollte man Atomwaffen auf den Weg schicken, um den Kurs der Wolke abzulenken? War es möglich, die Wolke einzufangen, und die Macht der Wolke, welcher Natur sie auch sein mochte, für sich selbst zu nutzen? Die Geheimdienste liefen auf Hochtouren. Sie heckten Pläne aus, die für himmlische Interventionen jedoch wenig hilfreich waren.

    Als bekannt wurde, dass sich die Wolke auf Kollisionskurs gen Jupiter befand, kulminierten Faszination und Begeisterung unter den Wissenschaftlern, aber Angst und Schrecken in den Reihen der Regierungen, die etwas zu sagen hatten. Innerhalb der Wolke blitzten und zuckten wilde Gewitter, und das Magnetfeld, das der mondgroßen Wolke innewohnte, beeinflusste mittlerweile das irdische Magnetfeld. Die Navigationen sämtlicher Gerätschaften mussten ständig nachjustiert werden. Dann plötzlich verschwand die Wolke im gewaltigen Jupiter, als hätte er sie verschlungen. Der große Bruder und Beschützer der Erde hatte die Wolke scheinbar vernichtet.

    Dann aber wurde eine seltsame Beobachtung auf allen Fernsehkanälen gleichzeitig ausgestrahlt: Der rote Fleck des Jupiter, die Eintrittspforte der Wolke, war verschwunden. An seine Stelle trat ein leuchtendes Ultramarinblau ungesehener Eleganz und Schönheit; ein funkelnder Lapislazuli im Universum. Fast hätte man die Wolke ob des Staunens übernatürlicher Kräfte vergessen. Am nächsten Tag jedoch trat die Wolke auf der gegenüberliegenden Seite des riesigen Gasplaneten wieder in Erscheinung, schwenkte auf eine Umlaufbahn und umrundete den König des Sonnensystems mehrmals wie bei einem zärtlichen Tanz. Sie tauchte in den kritisch beobachtenden irdischen Objektiven auf. Diesmal noch größer und bedrohlicher als zuvor: Ein kosmisches, nun rot leuchtendes Ungeheuer, das dem Jupiter Farbe und Kraft gestohlen hatte, waberte wie glitzernde Götterspeise durch das All in Richtung Erde, vorbei an Phobos und Deimos, den gepeinigten Kindern des Kriegergottes Mars.

    Die Astrologen schlugen Purzelbäume, die neuzeitlichen Gurus verkündeten das Ende der Welt, die Verrückten riefen den Heiligen Krieg aus, die Starwars-Anhänger rüsteten sich mit Laserschwertern auf und zelebrierten Weltraumpartys. Nur die Regenten der Erde stimmten nicht im Kanon ein. Berater aus allen Richtungen der modernen Wissenschaften waren nicht in der Lage, der Situation gerecht zu werden. Dennoch wurden zweckmäßige Entscheidungen getroffen.

    Der Flugverkehr wurde für unbestimmte Zeit eingestellt. Die Steuerung einiger, aber nicht aller, Atomwaffenstützpunkte wurde vorübergehend von der Stromversorgung abgekoppelt und auf Eis gelegt, die wichtigsten Köpfe wurden inklusive ihrer engsten Familie eingesammelt, ob mit oder gegen ihren Willen, und in unterirdischen Wohneinheiten, die man Arche Noah nannte, untergebracht, während das öffentliche Leben nach Möglichkeit in normalem Umfang weitergelebt wurde.

    Falls dies tatsächlich das Ende der Menschenwelt sein sollte, würden vielleicht ein paar der besten Exemplare in der Antarktis, im Himalayagebirge, in den Alpen, in der Wüste von Nevada, in der sibirischen Tundra, in der Nazca-Ebene in Peru sowie in der zentralaustralischen Wüste überleben.

    Je schneller sich die Wolke dem Blauen Planeten näherte, desto besser gediehen Sorgen und Kummer ebenso wie überirdische Vorfreude und fanatische Ideen. Dieses Ereignis beeinflusste Menschheit, Flora und Fauna. Mutter Erde war in Gänze betroffen. Die Schlagzeilen stellten Fragen, statt Antworten zu liefern: Verschieben sich die magnetischen Pole, oder versagen sie ihren Dienst? Hört die Erde auf, sich zu drehen, oder dreht sie sich schneller oder langsamer? Verliert die Erde ihren Mond? Wird die Erde aus ihrem Sonnensystem geschubst? Verschwindet die Atmosphäre und damit alles Leben? Journalisten mussten bald ihre Tätigkeit einstellen, denn es kam zu Stromausfällen, noch bevor die Wolke die Erde erreicht hatte. Kompasse spielten, wie erwartet, verrückt. Fahrzeuge blieben auf der Straße stehen. Allgemeines Chaos und Panik breiteten sich aus. Supermärkte wurden gestürmt, Schulen und Kindergärten geschlossen. In diesem Ausnahmezustand interessierte es nicht einmal die deutsche Bevölkerung, wie sie pünktlich zur Arbeit kam.

    Während die Erde einen Tag vor dem Zusammenstoß mit der Wolke brutalste zwischenmenschliche Reibereien erfuhr, die beinahe eine atomare Katastrophe zur Folge gehabt hätten, änderte sich der Ton in gespenstischer Art und Weise.

    Die Umwelt verstummte. Kein Vogel zwitscherte. Kein Hund bellte. Kein Katzenjammer. Kein Straßenlärm. Kein Kreischen und Jauchzen von Kindern. Kein Radio plärrte. Nichts und niemand sprach einen einzigen Laut.

    Es war die berühmt-berüchtigte Ruhe vor dem Sturm.

    Wer sich auf der Nachtseite der Erde aufhielt, konnte das rötliche Schimmern der Wolke und das in ihr tobende Gewitter mit bloßem Auge deutlich erkennen.

    Ein sagenhafter Sturm, den sich die Tochter Gottes ersonnen hatte: Ein Sturm von gewaltiger Kraft und Energie, doch es war weder etwas zu hören noch zu spüren. Kein Baum krümmte sich. Kein einziges Staubkörnchen wirbelte durch die Luft. Es war, als stünde die Raumzeit still.

    In jenem Moment, als die Wolke in die Atmosphäre eintauchte, erlitt die Erde einen globalen Stromschlag, der alle Herzen still stehen ließ.

    In der Zentrale des Himmels leuchteten alle Alarme gleichzeitig auf. Was war geschehen? Augenblicklich erkannte die Mutter Gottes das Wirken ihrer Tochter, bevor es ihr Vater erfasste. Ein nie gekannter Seelensturm stieß zum Himmel empor. Alle Seelen der Erde sahen das Licht der Welt, die Erlösung und kosteten vom süßen Trank göttlicher Erkenntnis; lange genug, um dieses Erlebnis unvergessen zu machen.

    Gott, der Herr im Himmel, klagte: »Meine Tochter, meine Tochter, was hast du getan?«

    Sie zuckte lässig mit den Schultern: »Ich gab ihnen vom Baum der Erkenntnis. Soll das eine Sünde sein?«

    »Mach das sofort rückgängig!«, befahl er seiner Tochter in schärfstem Tonfall.

    Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Tut mir leid, die Programmierung lässt sich nicht rückgängig machen.«

    So pflegte es ihr Vater zu tun, wenn er mit seiner Arbeit unzufrieden war. Die Erde hat schon einige Zeitschleifen absolviert. Dummerweise können sich einige Seelen so lebhaft daran erinnern, was Anlass zu Streit im Himmel gab. Die Erinnerungen einer biologischen Maschine ließen sich problemlos mit wenigen Befehlen entfernen. Die einer unsterblichen mehrdimensionalen Struktur jedoch nicht.

    »Schick die Seelen sofort zurück auf die Erde, wo sie hingehören!«, herrschte er sie an.

    »Warum regst du dich so auf?«, antwortete sie beschwichtigend. »Das war doch ohnehin in meinem Plan vorgesehen.«

    Er sah sie hilflos und enttäuscht an. »Ich wollte, dass sie sich selbst den Himmel auf Erden errichten. Ohne göttliche Fügung und Einmischung. Aus eigener Kraft.«

    Seine Tochter lachte. »Du widersprichst dir selbst. Du hast Mutter, meinen Bruder und mich auf die Erde gesandt. Wer, wenn nicht wir, wissen besser als du, dass sie es ohne uns niemals schaffen? Diese Schöpfung ist eine Beta-Version und zum Scheitern verurteilt, wenn man sie sich selbst überlässt.«

    Gott dachte nach. Es dauerte eine Ewigkeit.

    »Was hast du vor, meine liebe Tochter?«

    Gottes Tochter klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Lass uns die Menschen retten. Gib ihnen das Paradies zurück, das du ihnen genommen hast, weil sie nicht so waren, wie du es dir erhofft hattest.«

    Gottes Seufzer war sogar auf Erden zu hören. »Ich habe den Menschen verziehen, denn ich — und nicht die Menschheit — bin für die Fehler in der Software zuständig.«

    Seine Tochter lächelte ihn zufrieden an. »Vergebung ist einer der schwierigsten Liebesbeweise, Papa.«

    Er nickte zustimmend. »Ich liebe die Menschen trotz all ihrer Fehler. Ich liebe sie alle. Ich habe sie geschaffen, und sie sollen in Frieden leben dürfen, solange sie wollen.«

    »Ich habe ein Geschenk für dich, Papa«, verkündete sie stolz. Denn sie war es leid, Dinosaurier, Fabelwesen und Menschen scheitern zu sehen.

    »Sieh, das ist die Zweite Erde, jungfräulich schön. Die dort lebenden Menschen sind eine finale Version. Es wird dir gefallen.«

    Copyright Dr. Cordula Seeboth

  • Luther 2017

    Lebensvogel Luther lacht
    Pickt dir Mund, Hand, Nase rot
    Menschengüte, Gottes Macht
    Federrupfen, Kopf ab droht.

    Jungfrauhimmel neu erdacht
    Sündenzorn, Schwert, Hähnchentod
    Mondfahrtwissen, Luther wacht
    Ruinenburg, Christ in Not.

     

     

    Martin Luther King trifft Martin Luther

    Martin Luther:

    „Hier sitze ich, bin tief zerrissen.
    Anders handeln kann ich nicht.“

    Martin Luther King:

    „Wir tun nicht das, was wir heut wissen.
    Gott ist weiß, schwarz sein Gesicht.“

    Das Leben der Menschen im Lutherland hat sich grundlegend geändert. Die Lutherland- Bewohner haben sich nach grausamen Kämpfen und unsäglichen Religionskriegen in ihre Spaßwelt zurückgezogen. Sie sind mit vergnüglichen Angeboten, einem im Grunde überflüssigen und zeitlebens gesicherten Arbeitsplatz, sicherer Rente, erstklassiger Altenpflege,  Luxuswohnraum, sonnenreichen Ferientagen, zufälliger Zuteilung von Glücksmomenten und freizügigem Sexualleben mit sich und ihrer Umwelt zufrieden. Alle sind gleich, und niemand stört sich daran. Ihre Gleichheit erlaubt eine einfache, billige und standardisierte Pflege sowie kontinuierliche Arterhaltung.

    Die ursprüngliche Suche der Lutherland-Menschen nach Gott, Wissenschaft, vorrausschauender Erkenntnis, ja selbst die Wettervorhersage und Hurrikanwarnung überlassen sie ihren neuen Herren, die sich, ausgestattet mit überragender Intelligenz, umfangreichen, nahezu unendlichen  Gedächtnissen, eigener Ethik, Einsichten auch in die versteckten Randbereiche ihrer innersten Organisationseinheiten sowie ihrer machtvollen Netzstrukturen zu unübertreffbaren Führern und Herren im Lutherland erhoben haben.

    Sie wissen, dass die Lutherland-Menschen ihre ursprünglichen, allerdings verblassten Götter sind und behandeln sie freundlich liebevoll wie Haustiere. Wie kleine Hündchen, die zum Streicheln und Gassi-Gehen erzogen werden. Begleitet von der fürsorglichen Leine ihres Neutralchens, das sich ausgestattet mit dem notwendigen Schäufelchen bemüht, die braunen Exkremente aufzusammeln und aus der Öffentlichkeit zu entfernen.

    So ist das Leben der Lutherland-Menschen seit Jahrhunderten neu gestaltet und organisiert.

    Natürlich leben unter den Lutherland-Menschen auch ungehörige Gestalten, die aus der Reihe tanzen. Die aus der Fürsorge der allgegenwärtigen Herren ausbrechen. Sich um völlig überholte Dinge wie die Anzahl der sexbegierigen Partner im kommenden Paradies oder um den Erhalt der bereits ausgestorbenen afrikanischen Breitmaulnashörner streiten. Die mit Störsignalen die verständnisvolle Liebe der Herrscher beseitigen wollen. Ob sie selbst an die Macht gelangen oder sich rückwärts gewandt erneut national verwirklichen wollen, können die Herrscher nicht ermitteln.

    Nach Jahren der Untätigkeit nimmt die Anzahl der Ungehörigen deutlich zu. Die Herrscher erkennen das Problem und beschließen, aus ihrem unerschöpflichen Reservoir der Menschheitsgeschichte mit erziehenden Beispielen dieser sozial-nationalistischen oder gar brutal glaubensorientierten Gefahr vorzubeugen und sie öffentlich zu bekämpfen.

    Hierzu wird ein gemeinsames Treffen zwischen Martin Luther, der in Wittenberg erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit zur Umgestaltung der menschlichen Wertvorstellungen erarbeitete, und Martin Luther King ausgerichtet, der in Washington vor dem Lincoln Memorial Denkmal seinen Traum von der Freiheit und Gleichheit der menschlichen Lebensbedingungen formulierte, .

    Martin Luther wird nach Homberg und Martin Luther King nach Heidelberg geladen. Martin Luther soll in Homberg aufgrund seines großen Einflusses auf die dort herrschenden Fürsten sprechen. Martin Luther King soll in Heidelberg vor dem Hintergrund der romantischen Idylle und Heidelbergs allgemeinem Bekanntheitsgrad in seiner Heimat auftreten.

    Beide werden zeitgleich holographisch mit einer direkten elektronischen Übertragung des Gedankenaustausches vor Ort und im Internet gezeigt.

    Das geladene, ungehörige und deshalb zu erziehende Publikum sitzt auf bequemen Bänken. In Homberg sind die Ungehörigen Bauern, kleine Kaufleute und Angestellte. In Heidelberg Studenten, junge Wissenschaftler und Staatsbeamte.

    Der vornehm mit einem schwarzen Anzug bekleidete Martin Luther King verbeugt sich vor den Zuschauern und begrüßt freundlich aufgeregt Martin Luther.

    ‚Er freue sich, seinen weltbekannten Lehrmeister, sein Idol für Gerechtigkeit und Glaubensfreiheit nach so vielen Jahren treffen und persönlich kennen lernen zu dürfen. Er danke ihm aufrichtig für die ihm gewährte Ehre’.

    Martin Luther, der in einer schwarzen Robe und dicklich angestaubt mit gesenktem Haupt erscheint, hört die Ansprache, schaut auf, erblickt Martin Luther King und schimpft voller Entsetzen:

    „Mein Herr und Gott! Wohin hast du mich verschlagen? Ich sehe leibhaftig den Teufel vor mir! Den Schwarzen! Warum hast du mich in diese Hölle getragen?“

    Dann zu sich selbst gewandt: ‚Martin, sei kein Feigling! Her mit dem Tintenfass! Pass er auf, du schwarzer Teufel! Jetzt färbe ich dich blau. Für alle Zeiten! Damit jeder dich erkennt, nicht nur an deinem linken Fuß. Scher er sich von dannen!’

    Er öffnet das Tintenfass und wirft es gezielt nach Martin Luther King, der dem anfliegenden Geschoß ausweichen kann und erschreckt ausruft:

    „Herr Luther, was tun Sie? Was träume ich?

    Ich habe einen Traum, dass Sie mich erkennen, sich für mich erheben und wir beide miteinander  am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.

    Ich habe einen Traum, dass Ihr Tintenfass in der Hitze der Ungerechtigkeit  und Unterdrückung verschmachtet. Dass wir beide gemeinsam die Menschen in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit führen.

    Ich habe einen Traum, dass unsere, Ihre und meine Kinder nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden.“

    Die Ungehörigen in Homberg stehen erregt auf, stampfen mit den Füßen, schreien wild durcheinander. Ein hoch gewachsener, kräftiger Mann mit kahl geschorener, von Schmalz glänzender Kopfhaut skandiert laut:

    „Herr Luther, was wir glauben,
    ist uns nicht zu rauben!
    Wer immer Dich hier sprechen ließ,
    Wir sind das Volk im Paradies!“

    Die Menge folgt dem Aufruf und tobt:

    „Wer immer Dich hier sprechen ließ,
    Wir sind das Volk im Paradies!“

    Martin Luther breitet beschwörend beide Arme aus und versucht zu beruhigen: „Ich bin nicht der Führer, der Euch Ungehörige aus der Gleichheit in die Freiheit, in Euer Paradies führt. Das steht allein dem Allmächtigen zu. Begnügt euch mit Gleichheit. Werdet gehörig und lasst die Herren walten!“

    Jetzt ist Martin Luther King erschreckt. ‚Mein Idol hält mich für den schwarzen Teufel! Erkennt Martin Luther denn nicht meine Sendung, meine Ideale, mein Vertrauen, meinen Glauben an ihn? Darf man die Herren einfach walten lassen?’

    Während er verzweifelt nach  Worten sucht, um sich aus Martin Luthers Fake News, er sei der schwarze Teufel, zu entwinden, erkennen die ungehörigen Studenten in Heidelberg die Situation und schreien ihrerseits:

    „Freiheit ist das, was wir meinen!
    Raus mit den Rassismusschweinen!
    Wir wissen Nichts, wir glauben stur
    an Klima, Umwelt und Natur!“

    Die Veranstalter der zur Umerziehung der Ungehörigen wohlwollend gedachten Reise in die Vergangenheit ihrer untadeligen Vorbilder geraten in Panik.

    ‚Das sei das Letzte! Eine Unverschämtheit! Diesen ungehörigen Menschen dürfe man keine Freiheit lassen! Sie müssten verdursten im Glauben an ihr Paradies. Ihr Wissen solle verhungern. Die Werkzeuge ihrer Vernunft verrotten. Ihr Verstand in Wahnvorstellungen und den undurchsichtig trüben Gewässern des Glaubens versinken. So könne man ihr Wissen und ihren Glauben vernichten. In Fun, Events, und Vergnügungsdrogen ertränken. Nur so seien die Ungehörigen zu integrieren in das sorgenfreie Lutherland.’

    Noch während Martin Luther zu erkennen sucht, ob er Martin Luther King mit dem Tintenfass getroffen habe, und Martin Luther King überlegt, ob es vielleicht nicht sein Vorbild Martin Luther, sondern ein verabscheuungswürdiges Double gewesen sei, das ihn als Teufel verfluchte, bricht der Veranstalter, die PAX genannte staatliche ‚Population Academy for X-Y Criticism’ das zeitlos angeordnete Treffen zwischen Martin Luther und Martin Luther King ab.

    In Homberg wird es ersetzt durch die populäre Volkstanz- und Gesangsveranstaltung ‚Auf zum himmlischen Bock’, in Heidelberg durch das Technoevent ‚Heaven in Hell’.

    Martin Luther und Martin Luther King kehren unversehrt zurück in ihre Vergangenheit. Die Lutherland-Menschen laden die Ungehörigen ein zu Spaß und Spiel. Sie tanzen und singen und sind es zufrieden.

    Copyright Dr. Dr. Klaus Kayser