Schlagwort: Sterben

  • Beitrag zur Lesung „Wenn die Liebe ruft“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Wenn Amanda ruft

    Sie setzten den Hochzeitstermin auf eine Woche nach dem achtzehnten Geburtstag Amandas fest. Die Familien beeilten sich, der hübschesten der Töchter und Nichten ein unvergessliches Fest vorzubereiten. Die Freundinnen schlugen einen Abschiedsabend ohne Männer vor, mit dem der Bräutigam einverstanden war. Er tat alles für Amanda, keinen Wunsch schlug er aus.

    Die volljährigen Freundinnen begleiteten sie als notwendige Erwachsene. Der Blick eines dunkelblonden etwa dreißigjährigen Mannes traf Amanda in der ersten Kneipe. Sie sah weg.

    Die beste Freundin riss sie mit: „Auf, Amanda, auf zur nächsten Station!“

    In der zweiten Kneipe trank Amanda nur alkoholfreie Cocktails, farbenfrohe Mischungen mit Sonnenschirmchen, Orangenscheiben und Eiswürfeln. Ihr Blick traf auf den Blick des Mannes aus der Kneipe zuvor. Sie fragte sich, ob sie ihn nicht schon einmal gesehen habe. Amanda erwiderte den Blick einen Augenblick zu lange.

    „Amanda“, rief die beste Freundin, „wir gehen in die nächste Kneipe!“

    Amanda entdeckt ihn sofort, den Mann, der den lustigen Damen nachläuft. Sie wechseln die Blicke. Ein Hai, der einen Fischschwarm umkreist? Die Damen freuen sich zu tanzen, und Amanda tanzt mit ihm. Bei der Damenwahl holt sie ihn zum Tanz. Danach verabschiedet sie sich von den Freundinnen, die lachend den Zeigefinger heben.

    „Lasst mich gehen“, ruft Amanda, „ich gehe allein nach Hause, ich brauche Ruhe.“

    Drei Wochen später sagte sie die Hochzeit ab und brachte, als sie achtzehn Jahre und acht Monate alt war, Tochter Mandy zur Welt. Die Großmutter Amandas half. Amanda fand eine Anstellung in einem High Class Escort Service, der sie in angesehene Firmen vermittelte. Daher wuchs Mandy  in einem wohlhabenden Haushalt auf, öffnete den Herren die Tür und führte sie in den Salon. Eine wandfüllende Kopie des Gemäldes „Triumph der Venus“ von François Boucher beherrschte den Salon.  Als sie in die Pubertät kommt, wird ihr bewusst, welches Gewerbe die Mutter ausübt.

    Mandy verliebte sich mit Siebzehn in einen überaus schüchternen jungen Mann. Sie lernte ihre Fertigkeiten kennen. Den jungen Mann entwickelte sie zum wilden Hengst und entdeckte die Wucht der eigenen Lust. Mandy erklärte der Mutter, ihn zu heiraten. Mutter Amanda bestand auf einem gemeinsamen Abendessen mit dem treuesten ihrer Stammkunden, da sie ihn zur Hochzeit eingeladen wissen möchte.

    Das Abendessen verlief harmonisch, jeder fand den anderen sympathisch. Wenn jemandem etwas auffiel, war es die gesellschaftliche Harmonie, die Seelenverwandtschaft, die aus den Ansichten von Gott und der Welt sprach. Der treueste Stammkunde Mutters meinte, die schlimmste Weltanschauung komme von denen, die nichts erlebt hätten. Verächter der Wollust erklärten sie zu Atheisten, zu Verleugnern eines Lebenssinns. Nur eine leise zugeflüsterte Bemerkung der Mutter verstand Mandy nicht: „Fällt dir nicht die Ähnlichkeit der Beiden auf?“

    Mandy hat keinen Sinn dafür, eine Ähnlichkeit zu entdecken. Sie ist völlig verstört, als zwei Tage später ein Geschäftsmann die Mutter besucht: Er ist ihr Bräutigam. Sie flieht aus dem Haus und sieht den treuesten Stammkunden in einem Auto sitzen. Er springt aus dem Wagen: „Mandy, was ist los? Du siehst arg verstört aus!“

    Mandy fällt ihm in die Arme, klagt, was sie erleben musste, und beteuert, keines Falls nach Hause zurückzukehren.

    Angesichts des Ernstes in der Stimme Mandys schlägt er ein Restaurant vor. Dort ent-schuldigt er sich zunächst, sich zurückgehalten zu haben. Mandy beruhigt sich überraschend schnell. Ihre Blicke haften auf ihm, dem Tröster. Theodor meldet Bedenken an, als sie wünscht, in seiner Wohnung zu übernachten.

    Vielleicht hätte sie es nicht getan, wenn sie gewusst hätte, was sie alles erfahren würde. Mandy hört nicht, was der Verstand, was Theodor meint. Sie erinnert sich und erhält die Antwort auf die Frage der Mutter: Theodor ist der Vater ihres Bräutigams. Der Vater Mandys kam wenige Tage nach der Liebesnacht mit Amanda bei einem Autounfall ums Leben. Der Vater und Theodor waren beste Freunde.

    Mandy konnte nicht einschlafen. Sie stand um Mitternacht auf, schaute auf die leere Straße hinunter. Durchs Schlüsselloch fiel Licht vom Korridor herein. Mandy öffnet die Tür. Am Fenster steht Theodor, der nicht schlafen kann. Seine Gestalt zieht Mandy an, die Blick treffen tief.

    Zu spät sagt er: „Verliebe dich nicht!“ In seinem Bett finden sie endlich Ruhe.

    Mandy kehrte nicht zur Mutter zurück. Sie setzte ihr Psychologie-Studium fort, und Theodor bat seinen Sohn um Verständnis, der aber dem Vater den Rücken zukehrt. Der Sohn hatte Mandys Mutter besucht, um etwas von seiner Mutter zu erfahren. Sie war Amandas beste Freundin und nach der Entbindung verblutet.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Baum Nummer 629

    (20.4.2018)

     

    Mancher empfiehlt mir wohlwollend
    gelegentlich auch eitel oder belehrend
    mächtige Verbrecher im Lande
    nicht beim Namen zu nennen
    beim Dichten allgemein zu bleiben
    Texte für die Ewigkeit zu schreiben 

    Wenn Suchende meinen Baum betrachten
    soll der Gesang meines Herzens
    im Friedwald frohlockend bezeugen
    dass Glück nicht in Gleichgültigkeit gedeiht
    sondern in Verbundenheit mit der Erde
    anschaulich als Gegebenes erlebbar

    ֎֎֎

  • Langer Atem

    (18.4.2018)

     

    In meinem Arbeitszimmer
    im sechsten Stock angekommen
    öffne ich weit die Tür zum Balkon
    Das zarte Frühlingsgrün
    bis zum Horizont ausgebreitet
    zeigt hier und da wunderbare
    rosa-weiße, gelbe
    rot-bräunliche Muttermale
    Die Sonne
    selbst nicht sichtbar
    schickt unverkennbar
    ihren hellen Gruß
    Vögel sind betriebsam, brünstig unterwegs
    Ich atme diese Sanftmut tief ein
    denke bewegt unter anderem
    an Gaza, Syrien, Libyen
    Irak, Yemen und Afghanistan
    denke an mein Ursprungsland Iran
    und bin mir dabei bewusst
    dass ich Verdunklungen wahrnehmend
    weiterhin vom Licht sprechen werde
    von der Geborgenheit in Gerechtigkeit
    von der Verbundenheit mit der Schönheit
    von langem Atem fürs Leben

    ֎֎֎

  • Vögel unterwegs

    (23.3.2018) 

    Vor einigen Wochen hatte ich das Glück, 3333 goldfarbene Tauben der Künstlerin Ruth Blanke zu erleben, die im November 2017 in die Überwasserkirche in Münster gezogen waren [1]. Die Bilder gingen mir nicht aus dem Kopf. Im weiteren Verlauf las ich das Buch „Die Mauer überwinden: Eine Vision für Israelis und Palästinenser“ des amerikanischen Psychologen, Traumatherapeuten und Friedensaktivisten Mark Braverman [2]. So entwickelte sich der vorliegende Text.

    [1] http://www.bistum-muenster.de/index.php?myELEMENT=344094

    [2] http://www.wdl-verlag.de/frieden-und-versoehnung/978-3-86682-162-0_Detail.htm

     

    ֎֎֎

     

    für Leni

     

    Besorgt, bewegt, entschlossen
    verrückt vor Hoffnung, geschlossen
    wollten 3333 Vögel
    in der Überwasserkirche in Münster
    das beklemmende Schweigen brechen
    das an Verbrechen grenzte 

    Das Fluch beladene Erbe des Wegschauens
    über Nacht nicht überwindbar
     wollten sie nicht widerspruchslos belassen
    auch nicht die törichten Ausreden
    das Schicksal sei in den Sternen geschrieben
     einige seien zum Gehorchen verurteilt
    andere auserwählt zum Befehlen 

    Fest davon überzeugt
    dass Begegnungen beheimaten
    tief verbunden mit der Erde
    traten sie den Flug in alle Himmelsrichtungen an
    um Lebewesen liebevoll zu berühren
    zur Gerechtigkeit zu rufen
    den Blinden die Augen zu öffnen
    die Gefangenen aus dem Gefängnis zu führen
    und die in der Finsternis Sitzenden
    aus ihren goldenen Kerkern

    ֎֎֎

  • Krankheit und Kränkung antiker Götter 

     

    Was bedeutet Krankheit für die Götter zur Zeit des trojanischen Krieges? Man denkt an die Söhne des Asklepios, Machaon und Podaleirios[1], die später von ihrem Vater, dem Heilgott schlechthin, bei Weitem an Ruhm übertroffen werden. Aber erleben Gottheiten auch selbst Unfälle und krankhafte Veränderungen, erfahren sie Kränkungen?  Nun, sie mischen sich in die kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschen ein und übertragen, wie auf dem Schlachtfeld vor Troja, nicht nur ihre eigenen Zwistigkeiten auf die gegnerischen Parteien[2], sondern sie schlagen, noch dazu unter dem beifälligen Lachen des Göttervaters Zeus, heftig auf einander los[3]. Sie werden verwundet wie Menschen, dank ihrer Unsterblichkeit aber nicht tödlich, und sie beklagen ihre Verletzungen auf durchaus menschliche Art.

    Auch von nichttraumatischen pathologischen Veränderungen bleiben sie, wie etwa der Gott Hephaistos mit seiner Gehbehinderung[4], nicht ganz verschont. Götter reagieren äußerst empfindlich, wenn sie sich nicht genügend geehrt fühlen[5], sind verärgert und gekränkt, wenn man ihnen mit Hybris – Anmaßung – begegnet. Dann strafen sie unnachsichtig, senden Krankheiten[6], Unfruchtbarkeit[7], Tod und Verderben.

    1. Verwundete Götter:

    In seiner Ilias zeigt Homer die Götter in jener unmittelbaren, persönlichen Aktivität, wie sie sonst das Handeln der Menschen kennzeichnet[8].

    Herakles verwundet die Gottheiten Hera und Hades. Erstere, die Königin der Götter, verfolgt den illegitimen Sprössling ihres Gemahls mit gnadenlosem Hass. Wir erinnern uns, dass der stets für sterbliche Frauen entflammbare Zeus sich der schönen Alkmene in Gestalt ihres abwesenden Gatten Amphitryon genähert und mit ihr den überragenden Helden Herakles gezeugt hatte. Diesen Fehltritt nimmt die ständig betrogene Hera ganz besonders übel. Darüber, wie es zum Angriff des Herakles auf seine göttliche „Stiefmutter“ kommt, erfahren wir wenig mehr als nichts[9].

    Hera ertrug es, als sie des Amphitryon mächtiger Sprosse
    Traf in die rechte Brust mit dem Pfeile, dem dreifachgezackten.
    Damals ergriffen auch sie ganz unerträgliche Schmerzen[10].  

    Andere antike Quellen zu diesem speziellen Ereignis fehlen[11]. Aus dem Wort „damals“ können wir auf Vorzeitigkeit schließen. In der Ilias wird mehrfach von früheren Geschehnissen berichtet.

    In demselben Zusammenhang ist von der Verletzung des Hades die Rede. Anders als Hera, die den Schmerz einfach erträgt, lässt sich der Herr der Unterwelt von Paiéon behandeln[12].

    Hades ertrug den schnellen Pfeil, der übergewaltge,
    Als ihn derselbe Mann, des Zeus Sohn …
    in Pylos traf und ihm Schmerzen bereitet‘
    ... es war ja der Pfeil ihm
     in seine wuchtige Schulter gedrungen...
    Aber Paiéon heilte ihn dann mit lindernden Kräutern.

    Diomedes, ein weiterer griechischer Heros und wie Herakles Schützling der Göttin Athena, verletzt Aphrodite[13] und Ares.

    Von der lieblichen Aphrodite sagt Zeus: Dir sind nicht gegeben, mein Kind, die Werke des Krieges[14]. Dennoch hatte sie sich auf das Schlachtfeld gewagt, um ihren sterblichen Sohn Aeneas vor dem Schlimmsten zu bewahren. Der kampfesmutige Diomedes verfolgt sie.

    Nachspringend  stieß er ihr dann mit dem scharfen Speer in das Ende ihrer so zarten Hand.. nahe der Wurzel …; es floss das ambrosische Blut … chor genannt, wie es fließt bei den seligen Göttern …. Sie aber schrie laut auf und ließ den Sohn dabei  fallen, doch den fasste … und barg ihn in schwarzblauer Wolke Phoibos Apollon. Er bringt Aeneas in seinen Tempel auf der Burg von Troja, wo sich Artemis und Leto seiner annehmen und die Verletzungen heilen[15].

    Inzwischen wird die schmerzgeplagte Aphrodite von Iris mit windschnellen Füßen hinweg geführt. Ares stellt seiner Schwester (Geliebten, Gattin) seine Rosse zur Verfügung, Iris ergreift die Zügel … da flogen die Pferde

    Doch Aphrodite … fiel in den Schoß der Dione, ihrer Mutter 
    Halte es aus, mein Kind, rät diese, und fasse dich, wie du auch leidest!

    Dann wischt sie das göttliche Blut ab und heil ward die Hand, und die schweren Schmerzen wurden gelindert.

    Bei der Verwundung des Ares greift Athena entscheidend ein[16]:

    Sie, mit strahlenden Augen … führt ihm die Lanze von Erz … gegen die Weichen am Bauch … dorthin traf sie stoßend und riss ihm die Haut auf

    Klagend zeigt Ares dem Allvater das göttliche Blut, das nieder rann aus der Wunde[17],

    Dann macht er seinem Unmut gegenüber Zeus und Athena gründlich Luft:

    Immer müssen wir Götter doch das Ärgste ertragen…[18] [sic!]
    Mit dir hadern wir alle; du zeugtest das sinnlose Mädchen,
    das verderbliche, das stets denkt an gewaltsame Taten…[19]
    Dieser wirfst du nie etwas vor mit Worten und Werken,
    Sondern du lässt sie, da du sie geboren, die scheußliche Tochter…[20]

    Diese Tochter, von Zeus selbst ausgetragen[21], steht ihm besonders nahe. Den „wimmernden“ Ares dagegen duldet er nicht länger in seiner Nähe[22] und beauftragt Paieon, ihn zu kurieren:

    Und Paeion streute ihm auf schmerzlindernde Kräuter,
    Und er heilte ihn
    Wie wenn die weiße Milch von Feigenlabe gerinnet,
    Erst noch flüssig, aber sehr rasch beim Rühren dann dick wird,
    So wurde geschwinde geheilt der stürmische Ares.[23]

    Doch dieser verzeiht seiner Schwester Athena die ihm in Diomedes‘ Namen zugefügte Verletzung nicht. Darum zahle ich dir jetzt heim  für das, was du tatest[24]. Athena jedoch ist nicht nur Kriegsgottheit wie ihr Bruder, sondern auch die Göttin der Weisheit und des Geistesblitzes, daher dem „stürmenden, blutbesudelten“ Ares weit überlegen. Sie weicht seiner Lanze aus und schlägt ihn lachend mit einem Grenzstein zu Boden[25].

     

    1. Nichttraumatische Krankheiten:

    Hephaistos ist ein Gott mit – wie wir heute sagen würden – eingeschränkter Gehfähigkeit[26]. Doch statt sich zu bemitleiden und aus seiner Behinderung eine richtige Krankheit zu machen, nimmt er sie gelassen hin und legt als geschickter Kunsthandwerker und Waffenschmied  Ehre ein. Kränkung allerdings verträgt er ebenso wenig wie irgend ein anderer Gott. Dergleichen erfordert Rache. Seine Mutter Hera, die ihn ohne die Mitwirkung eines männlichen Wesens erzeugt hatte und ihn, entsetzt über seine verkrüppelten Füße (oder über seine Hässlichkeit), vom Olymp herab warf, nötigt er auf einen von ihm konstruierten Thronsessel, von dem sie sich ohne seine Hilfe nicht mehr erheben kann. Aphrodite, die treulose Gattin, die er mit ihrem Liebhaber Ares in flagranti erwischt, fängt er in seinem unzerreißbaren Netz ein[27].

     

    1. Götter senden Seuchen

    Apollon, erzürnt wegen der Kränkung seines Priesters Chryses, schießt  Pestpfeile in das vor Troja befindliche Lager der Achäer[28].

    Artemis, Herrin der Tiere[29], schützt kleine Mädchen und Parthenoi, die sie aber bestraft, wenn sie ihre Jungfräulichkeit verlieren. Sie ist Hüterin der Frauen, doch Zeus verlieh ihr auch, zu töten, wen du nur möchtest[30]. So steht neben der sichtbaren Krankheit Artemis‘ unsichtbares Geschoss als denkbare Todesursache[31]. Dass Artemis mit ihren Pfeilen – so wie Apollon die Pest verursachte – bei den Gebärenden das Puerperalfieber hervorgerufen haben könne, an dem doch so viele Wöchnerinnen nach kurzer Krankheit sterben, ist ein neuzeitlich- interessanter aber unbewiesener Gedanke[32].

     

    1. Heilende Götter:

    Wir hören von Paiéon, dem Wundarzt der Götter. Die Ägypter sollen von ihm abstammen, denn sie sind kundiger im Umgang mit heilenden Kräutern als andere Menschen[33]. Der Paián ist aber auch ein Heilsgesang der jungen Griechen für Apollon. Bei Hesiod werden Paiéon und Apollon neben einander genannt als Ärzte, die Heilmittel gegen alles kennen und im Stande sind, vor dem Tode zu retten[34].

    Ein Sohn des Apollon ist Asklepios. Sterblich zunächst, empfängt er bald göttliche Ehren. Die Kulte für seine Söhne Machaon und Podaleirios bleiben eher von lokaler Bedeutung[35].

    Auf den Heiler der Krankheit Asklepios heb ich mein Lied an,
    auf den Sohn Apollons; die hehre Koronis gebar ihn[36].

     

    Abkürzungen:

    DNP: Der Neue Pauly

    Hom. h.: Homerische Hymnen

    Il.: Hom. Il.: Homer, Ilias

    Hom. Od.: Homer, Odyssee

     

    [1] W. Wamser-Krasznai, Ärzte und Tod in der Alten Welt. Mythos, Magie und Metamorphosen, in dies., Streufunde (Filderstadt 2017) 71-74.

    [2] Kein Krieg in Troja. Legende und Wirklichkeit in den Gedichten Homers (Würzburg 1997) 10.

    [3] Il. 21, 390.

    [4] W. Wamser-Krasznai, Hephaistos – ein  hinkender Künstler und Gott, in: dies., Auf schmalem Pfad (Budapest 2012/13) 72-82.

    [5] Hesiod, Werke und Tage. Griechisch und deutsch (Darmstadt1991) 138 f.

    [6] S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom S, 62 f.

    [7] Laser a. O. 85 f.

    [8] H. Jung, Thronende und sitzende Götter. Zum griechischen Götterbild und Menschenideal in geometrischer und früharchaischer Zeit (Diss.Bonn 1982) 18 Anm. 16.

    [9] „Herakles…shot…Hera under unknown circumstances“,  J. Larson, The singularity of  Herakles, in: S. Albersmeier (Hrsg.), Heroes. Mortals and Myths in Ancient Greece. Walters Art Museum (Baltimore 2009) 32.

    [10] Il. 5, 392-394.

    [11] Wie Hera und Hades vom Pfeil des Herakles getroffen wurden, wird als bekannt vorausgesetzt, R. Hampe, Nachwort zur Ilias (Stuttgart 2007) 562. Larson a. O. 32. Der Trojanische Sagenkreis besteht ja nicht nur aus Ilias und Odyssee, sondern aus weiteren fragmentarisch erhaltenen Epen, die zum Teil erneut von späteren Dichtern erzählt wurden. Troja war bereits, bevor es den Achäern unter Agamemnon und Achilleus in zehnjährigem Kampf unterlag, durch Herakles berannt und geplündert worden. Vom Haus des Königs Laomedon überlebten  nur eine Tochter und ein Sohn, der spätere König Priamos, DNP 1138 f.; Il. 5, 636-642 und Il. 21, 442-457.

    [12] Il. 5, 395-401.

    [13] Il. 5, 336-382. 416.

    [14] Il. 5, 428 f.

    [15] Il. 5. 445-448.

    [16] Il. 5, 856-858.

    [17] Il. 5, 870.

    [18] Il. 5, 873.

    [19] Il. 5, 875 f.

    [20] Il. 5, 879 f.

    [21] Laser a. O. 168.

    [22] Il. 5, 889.

    [23] Il. 5, 899-904.

    [24] Il. 21, 399.

    [25] Il. 21, 402-408.

    [26] Spekulative Diagnosen erstrecken sich von Klumpfüßen über posttraumatische Läsionen bis zur Lähmung als Berufskrankheit bei dem für einen Schmied ständig notwendigen Umgang mit Arsenbronzen, dazu Wamser-Krasznai a. O. 2012/23, 74-77.

    [27] dies. a. O. 2012/13, 75. 80.

    [28] Il. I 44-52; S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom Kap. S 62.

    [29] Potnia theron, Il. 21, 470.

    [30] Il. 21, 483 f.

    [31] DNP 53; Hom.Od. 11, 171 f.

    [32] G. Maggiulli, Artemide – Callisto, in: Mythos. Scripti in Honorem Marii Untersteiner (Genova 1970) 183.

    [33] Hom. Od. 4, 229-232.

    [34] Hes. Fr. 194 Rz, Laser a. O. S 94.

    [35] Wamser-Krasznai a. O. 2017, 71-74.

    [36] An Asklepios, Hom. h. 16.

  • Krankes und Morbides im Werk von Thomas Mann

     

    Das Wort Krankheit steht hier für bedrohliche pathologische Veränderungen am Patienten; das „Morbide“ setzt sich aus einer Gruppe von Befindlichkeitsstörungen zusammen, wie Hypochondrie, Resignation, Neurasthenie. Die Betroffenen erleben einen schleichenden Niedergang. Beide Erscheinungsformen, Krankheit und Morbides treten in den Erzählungen des Autors nebeneinander auf und  durchdringen einander, sowohl in demselben Text und auch innerhalb ein und derselben Person.

    Wir beginnen mit einer Erzählung, die unter den vielen Pathographien Thomas Manns als einzige von einer Krebserkrankung handelt.

     

    … betrauert von allen, die sie kannten.

    Ovarialcarcinom: (Die Betrogene, 1953)

    Eine Dame der Gesellschaft verliebt sich in den Englischlehrer ihres Sohnes, einen etwa 25 Jahre jüngeren Amerikaner. Der junge Ken ist zunächst an der so viel Älteren nur höflich interessiert, dann aber vom reizvollen Gegensatz immer stärker fasziniert. Kurz bevor sich die wieder erblühte Frau den drängenden Wünschen ihres Körpers ergeben kann, widerfährt ihr mit einer nächtlichen Massenblutung der Anfang vom Ende.

    Infektionskrankheiten

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten Seuchen eine ernsthafte Bedrohung dar. Man musste sich oft mit dem Lindern von Symptomen begnügen, und manche Chefärzte übertrugen hoffnungslose Fälle, die ihnen weder Ehre noch schnöden Mammon versprachen, lieber auf unbedeutende Assistenten. Die Rede ist von der Tuberkulose.

    Als Soldat und brav (Der Zauberberg, 1924)

    Joachim, ein junger Offiziersanwärter, kaschiert die Symptome so lange es irgend geht durch Sonnenbräune und militärische Haltung, während sein Vetter Hans das bleibt, was er in jeder Hinsicht ist, der „hübsche Bourgeois mit einer kleinen feuchten Stelle“. Nach dem missglückten Versuch, seinen Dienst wieder anzutreten, stirbt der Fahnenjunker an progredienter Laryngitis tuberculosa. Die Spur des anderen verliert sich in den Wirren des ersten Weltkriegs.

    Wenn es Tuberkeln sind, so muss man sich ergeben (Buddenbrooks, 1901)

    Clara Buddenbrook, ein ernstes, strenges Mädchen, hatte schon als Jugendliche an Gehirnschmerzen gelitten, sie traten neuerdings periodisch in fast unerträglichem Grade auf. Manchmal führt sie eine Hand zum Kopfe, denn dort schmerzt es. Nach geraumer Zeit erliegt sie einer Gehirntuberkulose.

    An einem Zahne … (Buddenbrooks)

    Um die Gesundheit des Thomas Buddenbrook ist es nicht gut bestellt. Während seiner Volontärzeit in Amsterdam erleidet er einen Blutsturz und unterzieht sich einer Luftkur  in Südfrankreich. Frostige Blässe, bläuliches Geäder und eine Neigung zum Schüttelfrost sind ständige Begleiter als er in jungen Jahren bereits…Chef des großen Handelshauses wird. Seine Grundkrankheit ist zwar die Tuberkulose, aber die Ursache seines allzu frühen Todes ist sie nicht… Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben, hieß es in der Stadt. Man denkt an eine Apoplexie oder man behilft sich mit der gängigen Formel für Fälle, in denen man es nicht so genau weiß: „Verstorben unter den Zeichen des Herz-und Kreislaufversagens“.

    Die junge Frau litt an der Luftröhre…und Gott sei Dank, dass es nicht die Lunge war: (Tristan,1902)

    …kaum vom Wochenbette erstanden … äußerst verarmt an Lebenskräften, als sie beim Husten ein wenig Blut aufgebracht hatte …  es war, wie gesagt, die Luftröhre, ein Wort, das … eine überraschend tröstliche, beruhigende, fast erheiternde Wirkung auf alle Gemüter ausübte … Manchmal hüstelte sie. Hierbei führte sie ihr Taschentuch zum Munde und betrachtete es alsdann.

    Das Ende kommt rasch, nicht ohne dass Thomas Mann den Kontrast zwischen Gabrieles ätherischem Wesen und ihrem stämmigen Gatten, mehr noch: ihrem pausbäckigen, prächtigen und wohlgeratenen Sohn gehörig herausarbeitet hätte.

    Andere Infektionskrankheiten nehmen im Werk des Autors weniger  Raum ein. 

    Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt: (Buddenbrooks)

    Die Diagnose ist gelegentlich durch besondere Umstände erschwert, wenn nämlich die Anfangssymptome, Verstimmung, Mattigkeit, Appetitlosigkeit, unruhiger Schlaf, Kopfschmerzen, schon vorher bei anscheinend völliger Gesundheit vorhanden sind. Von völliger Gesundheit kann allerdings kaum die Rede sein, doch geraten wir hier an die Grenze zum Morbiden, von dem später noch zu reden sein wird.

    Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte Neigung zur…Wanderung an den Tag gelegt: (Der Tod in Venedig, 1911)

    Möglicherweise infiziert sich der Schriftsteller Gustav Aschenbach mit rohem Obst, das er vor einem kleinen Gemüseladen kauft, Erdbeeren, überreife und weiche Ware. Die nur halb körperlichen Symptome, die ihn wenig später befallen, sind Schwindel und eine heftig aufsteigende Angst … Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.

    Bevor wir uns dem „Morbiden“ zuwenden, müssen wir uns noch mit einer weiteren durch Infektion in Gang gesetzten Krankheit beschäftigen, der Syphilis.

    Krankheit, und nun gar anstößige, diskrete, geheime Krankheit … (Doktor Faustus 1947)

    Progressive Paralyse:

    Die Lues oder Syphilis wird gern als der „Affe unter den Krankheiten“ bezeichnet, da sie „alle“ Symptome nachahmen könne. Sie hat eine besondere Affinität zum Nervensystem. Adrian Leverkühn, ein hochbegabter Musiker und Komponist aus wohlsituiertem bürgerlichen Hause, handelt sich bei einer reizvollen Werktätigen im ältesten Gewerbe der Welt einen Primäraffekt ein, der scheinbar nach einer Therapie durch zwei Dermatologen spurlos verschwindet. Doch die Behandlung bleibt unvollständig, da der erste Arzt aus unbekannter Ursache plötzlich verstirbt und der zweite unter ebenso unklaren Umständen verhaftet wird – Teufelswerk, wie Adrian später erfährt. Nachdem er sich den Mächten der Finsternis überantwortet hat, erlebt er eine Steigerung seiner mentalen Fähigkeiten und Phasen höchster Seligkeit, schafft unerhörte  musikalische Werke. Nun hat seine Spirochaeta pallida eine Passion für das zarte Parenchym der Kopfregion. Zunächst leidet der Künstler nur an Schwindelerscheinungen und Migräne, wird aber volle vierundzwanzig Jahre post infectionem in tiefster Verzweiflung und Rettungslosigkeit, von unerträglichen Schmerzen gepeinigt, mit allen Anzeichen einer progressiven Paralyse enden.  

    Ebenso einprägsam schildert Thomas Mann die Zeichen der Tabes dorsalis.

    Mehrere Herren mit entfleischten Gesichtern werfen auf  jene unbeherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet. Sobald sie in Gabrieles Nähe kommen, lächeln dieselben Herren und versuchen angestrengt, ihre Beine zu beherrschen (Tristan, 1902).

    Das Morbide

    Bei den Buddenbrooks wandert das Übel in Form von Neurasthenie, einer reizbaren Nervenschwäche, als schleichende Familienkrankheit über vier Generationen hinweg, um die beiden letzten Vertreter gänzlich zu zerstören. Eine Schwächung des „Selbst“ macht die Betroffenen unfähig, ihre Arbeits- und Lebenswelt sinnvoll zu strukturieren. Die veraltete Bezeichnung Neurasthenie ersetzen wir heute gern durch die des allgegenwärtigen Syndroms „burnout“.

    Buddenbrooks

    Thomas, der Firmenchef, empfindet, obwohl er kaum siebenunddreißig Jahre zählt, ein Nachlassen der Spannkraft, eine raschere Abnützbarkeit, die mit Rastlosigkeit und einem übertriebenen Hang zur persönlichen Sauberkeit und äußeren Perfektion einhergeht. Er wird sich darüber klar, dass oft die … sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstieges erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht. An seinem Bruder Christian missfallen ihm Dinge, die er schon an sich selbst mit Abscheu bemerkt hat, nämlich eine ängstliche, eitle und neugierige Beschäftigung mit sich selbst, die zerfahren, untüchtig und haltlos macht. Aber wir sind bloß einfache Kaufleute … unsere Selbstbeobachtungen sind verzweifelt unbeträchtlich.

    Christian bietet die Zeichen einer schweren hypochondrischen Störung. Er ist ein liebenswürdiger Taugenichts, alles andere als dumm, aber unfähig zu ernsthafter Arbeit. Während er sich als begabter Imitator und geistreicher Unterhalter betätigt, ergeht er sich andererseits in abstoßenden, detaillierten Beschreibungen seiner Qual. Haltlos und bar jeder Selbstkontrolle wird er schnell zum Spielball anderer „Suitiers“ und einer Frau von zweifelhafter Lebensführung. Als seine Ehefrau betreibt sie schließlich unter Berufung auf Wahnideen und Zwangsvorstellungen seine Entmündigung und die Einweisung in eine Anstalt.

    Hanno, der jüngste und letzte Buddenbrook-Spross, still und kränklich, leidend und mitleidend, taugt gewiss nicht zum Kaufmann, allenfalls zum Künstler. Seine Spannungen entladen sich in musikalischen Phantasien bis zur Kakophonie. Die bläulichen Schatten in den tief liegenden Augenwinkeln hat er von seiner Mutter Gerda, und dass sie schon bei dem Neugeborenen auftreten, kleidet, wie Thomas Mann bemerkt, ein vier Wochen altes Gesichtchen nicht zum besten.

    Tristan

    In geringer Abwandlung erscheinen das blaue Äderchen über dem Auge und die tiefen Schatten zu beiden Seiten der Nasenwurzel als Leitmotiv auch bei Tristans Gabriele. Für die Beschreibung ihrer Ankunft in Einfried  findet Thomas Mann ironisierende Sätze, da die beiden Braunen [Pferde] … mit rückwärts gerollten Augen angestrengt diesen ängstlichen Vorgang verfolgen, voll Besorgnis für soviel schwache Grazie und zarten Liebreiz. Wie pathetisch aber wird erst der Neurastheniker Spinell, den die Mitpatienten geschmackvoll den verwesten Säugling nennen! Er schwärmt die junge Frau an, die doch aus einem alten Geschlecht stamme, zu müde bereits und zu edel zur Tat [sic!] und zum Leben, … das sich gegen das Ende seiner Tage noch einmal durch die Kunst verklärt.

    Der Zauberberg

    Hans Castorp, Hospitant und weicher Neuling, bringt es auf dem Berghof mit Fiebermessen und anderen Bemühungen endlich dahin, dass er sich fast wie ein ‚richtiger‘ Patient fühlen darf.

    Der Tod in Venedig

    Gustav Aschenbach erliegt zwar am Ende der Cholera, doch auf der Basis eines Gefühls der Ausweg- und Aussichtslosigkeit, nachdem er sich, ein betörter Liebhaber, im Traum der Raserei des Untergangs ergeben hat und es auch im wachen Zustand gegen die Mahnung seines Gewissens unterlässt, die polnische Adelsfamilie vor den Gefahren der verseuchten Stadt zu warnen, damit er nicht auf den Anblick des leidenschaftlich Begehrten verzichten muss – Man soll schweigen! Man soll das verschweigen!  und:  Ich werde schweigen!

    Meisterhaft versteht es Thomas Mann, seinen Protagonisten stets solche Krankheiten aufzuerlegen, die längst durch das Morbide in ihnen vorbereitet sind und sich schon beim scheinbar Gesunden in persönlichen Eigenschaften und als Symptome einer reizbaren Nervenschwäche äußern.

     

    Lit. bei der Verfasserin.

  • Spuren im Schnee

     (12.2.2018)

    für Maria

     

    Durch Schnee bedeckte Felder wandernd
    unser letztes Gespräch im Sinn
    denke ich über deine Vergesslichkeit nach
     über  das unvermeidlich Kommende
    im Lichte deiner bewegenden Vergangenheit 

    Der weiße Pfad trägt hier und da
    Spuren von Raben, Menschen und Hunden
    Die Früchte deines Lebens
    sind keine Spuren im Schnee
    die einfach wegschmelzen
    zertreten oder verweht werden
    Sie sind Lichtknospen
    die Menschen wie ich
    im Herzen tragen

    ֎֎֎

  •  

    Dort
    wo Spiegelbilder
    und materielle Welt
    sich berühren
    ist das Tor zur
    anderen Welt
    Dort kannst du
    verstorbenen Freunden begegnen
    und eines kann
    sich ins andere wandeln
    Unsichtbares wird sichtbar
    und Spiegelbilder
    beginnen zu leben

  • Waltrud Wamser-Krasznai: Dem Tod ein Schnippchen schlagen

    Auch das Altertum hatte seine Alternativen zum Tod als unabdingbarem Schicksal. Das Sterben musste nicht endgültig sein; auf die eine und andere Weise ließ es sich umgehen, je nach Bedeutung und Verdienst des Verblichenen oder nach seiner verwandtschaftlichen bzw. wahl-verwandtschaftlichen Nähe zu einer Schutzgottheit. Medea z. B. war die Enkelin des Sonnengottes Helios, Achilleus der Sohn eines Sterblichen mit der Meeresgöttin Thetis, Herakles ein Sohn des Zeus mit einer Menschenfrau und Schützling der jungfräulichen Göttin Athena, während Asklepios, der Sohn einer sterblichen Mutter, den Apollon zum Vater hatte.

    Die Alternativen bestanden etwa in Vergöttlichung, Entrückung oder auch in  einer Wandlung.

     

    1. Vergöttlichung = Divinisierung = Apotheose:

    Asklepios, der griechische Heilgott schlechthin, ist in der homerischen Ilias noch kein Gott, sondern ein Sterblicher, nämlich ein untadeliger, ja ein unvergleichlicher Arzt[1]. Schon als Kind soll er Wunderdinge vollbracht haben. Es „verbreitete sich …die Kunde, der Knabe könne alles, was er wolle, an den Kranken heilen und auch die Verstorbenen auferwecken“[2]. Hygin berichtet in seinen Fabulae über die Erweckung des Hippolytos[3]. „Die Tragödiendichter und Pindaros … sagen…er habe sich für Geld gewinnen lassen, einen reichen Mann, der schon im Sterben gelegen, zu heilen, wofür er auch vom Blitz sei erschlagen worden… Wir aber…wollen ihnen das …nicht glauben; sondern wenn er des Gottes [Apollons] Sohn war, werden wir sagen, ging er gewiss nicht auf schnöden Gewinn aus; tat er aber dieses, so war er nicht des Gottes Sohn[4]“.

    Doch so berühmt Asklepios als Heil-Heros bereits ist – die ungeheure Hybris, Verstorbene zu erwecken, zieht den Tod nach sich. Zeus erschlägt ihn mit seinem Blitz[5].

    Gleichwohl entwickelt sich vor allem seit dem Ende des 4. Jhs. v. Chr. ein Kult, der sich geradezu rasant ausbreitet, und zwar ohne dass sich die Göttlichkeit des Asklepios, wie etwa die des Herakles, in einer Apotheose manifestiert. In Reliefs und Inschriften auf der sog. Telemachos-Stele ist die Gründung des Asklepios-Heiligtums in Athen um 420/419 v. Chr. konkret fassbar. Literarische Quellen zur Divinisierung des Heros fließen spärlich und stammen aus späterer Zeit. Bei Cicero heißt es: „Das Zusammenleben der Menschen und die allgemein übliche Gewohnheit…haben… den Brauch eingeführt, besonders verdiente Männer aufgrund ihres Ruhmes und aus eigenem Antrieb in den Himmel zu versetzen. Aus diesem Grund wird Herkules, werden Kastor und Pollux, Äskulap, ja auch Liber verehrt“, und: „…vor allem in Griechenland hat man viele Gottheiten menschlicher Abkunft[6].“ Auch Pausanias[7] äußert sich dazu: „Die Menschen waren damals nämlich wegen ihrer Gerechtigkeit und Frömmigkeit Gastfreunde und Tischgenossen der Götter…wie ja damals sogar aus Menschen Götter wurden, welche bis heute verehrt werden, etwa Aristaios, die kretische Britomartis, Herakles, der Sohn der Alkmene, und Amphiaraos…sowie Polydeukes und Kastor.“ Der antike Reiseschriftsteller sieht also die Vergöttlichung nicht geschlechtsspezifisch. Außerdem bringt er mit dem Heil-Heros Amphiaraos einen Vorläufer bzw. einen Aspekt des Asklepios ins Spiel.

    Dieser war mit seinem Kult offenbar in besonderer Weise dazu geeignet, die in klassischer Zeit veränderten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Der „Heiler der Krankheit“, wie es im homerischen Hymnos[8] heißt, trägt in weitaus stärkerem Maße als die anderen Götter menschliche Züge. Asklepios wendet sich dem Individuum und seinen Nöten helfend zu, er ist ein Gott, der „Hand anlegt“[9]. Es kam sogar zu Kultübertragungen. In Troizen wurde  Hippolytos im Kultbild des Asklepios, das Timotheos arbeitete, weiter verehrt[10].

    Heros und Apotheose:

    Nach einem überaus abenteuerlichen Leben wirft sich Herakles, um seine Qualen zu beenden, in den auf seinen Wunsch errichteten Scheiterhaufen. In den reinigenden Flammen werden seine Glieder göttlich[11] und die Olympier nehmen ihn auf in ihre Reihen.

     

    Weiterleben im regionalen Kult:

    Etwas anders als beim Vater liegt die Sache bei den Asklepios-Söhnen, „gute Ärzte, die zwei, Podaleirios und auch Machaon[12]. Nach Pausanias, der sich auf die kleine Ilias beruft, stirbt Machaon durch die Hand des trojanischen Bundesgenossen Eurypylos[13], nach einer anderen „sehr abgelegenen“ Version[14]  durch die Amazonenkönigin Penthesileia, die mit ihren Kriegerinnen ebenfalls zur Unterstützung der Trojaner herbeieilt. Sein Leichnam wird von Nestor, der dem untröstlichen Bruder Podaleirios „mit großer Zuwendung“ beisteht[15], nach Gerenia in Messenien überführt und dort bestattet. An seinem Grabmal erweist man ihm kultische Ehren. Als die Adoranten dort Linderung von Krankheit erfahren, entsteht bald ein bedeutendes Heiligtum[16]. So lebt Machaon als Heros Iatros weiter in einem regionalen Kult[17].

     

    2. Entrückung:

    Achilleus ist als Zögling des weisen Kentauren Chiron ein Heil-Heros, der sich auf die Wundbehandlung versteht. Als er am Pfeilschuss in die berühmte Achillesferse stirbt, entrückt ihn seine göttliche Mutter Thetis und bringt ihn nach Leuke, die weiße Insel im Schwarzen Meer, wo griechische Siedler ihm einen Tempel errichten und ihm göttliche Ehren erweisen[18]. Nach den Dichtern Ibykos und Simonides[19] wird Medea dort seine Gemahlin.

    Diese, eine Tochter des Königs von Kolchis und Enkelin des Sonnengottes Helios, ist heilkundig und verfügt über magische Kräfte. Aus Rache an Pelias, der den Jason als einen Anwärter auf den thessalischen Thron zum Einholen des Goldenen Vlieses auf eine lebensgefährliche Reise schickt, verführt Medea die Töchter des Pelias, ihren alten Vater in Stücke zu zerlegen und zu kochen, um ihn zu verjüngen. Die Zauberin hatte zuvor, um die Peliaden zu überzeugen, mit derselben Methode einen alten Widder erfolgreich verjüngt[20].

    Als der von Medea leidenschaftlich geliebte Iason sie verlässt, um die Tochter des Königs von Korinth zu heiraten, nimmt die Verratene furchtbare Rache. Um den Gatten an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, ermordet sie die gemeinsamen Söhne. Während Jason sie mit gezücktem Schwert verfolgt, entschwindet die Magierin auf einem vom Sonnengott gesandten  Schlangenwagen. Sie wird, wie wir hörten, im Elysium mit Achilleus vermählt[21].

     

    3. Verwandlung = Metamorphose:

    Hyakinthos: Dich hat …Phoibos Apollon vor allen andern geliebt…er „warf  die Scheibe hoch in die Lüfte“…die aber ließ der harte Boden zurückprallen und schleuderte sie dir, Hyakinthos, ins Gesicht. Da erblasste der Gott ebenso wie der Knabe. Den Leib des Zusammengesunkenen fängt er auf… bald trocknet er die unheilvolle Wunde, bald hält er durch Heilkräuter die fliehende Seele auf. Doch …unheilbar war die Wunde. So oft aber das Frühjahr den Winter vertreibt…so oft ersteht er neu und blüht als Hyazinthe auf der grünen Wiese[22].

    Prokne und Philomele:

    Die attische Königstochter Prokne ist an den Thraker Tereus verheiratet worden. Mit ihm hat sie einen Sohn, Itys. Oft sehnt sie sich nach ihrem Vaterland und besonders nach Philomele, ihrer geliebten Schwester. Tereus verspricht, diese abzuholen und zu ihr zu bringen. Stattdessen entledigt er sich seiner Verantwortung gegenüber der Schwägerin auf die schlimmste Weise. Er nimmt sie gefangen, tut ihr Gewalt an und reißt ihr die Zunge heraus, um sie am Herausschreien des Frevels zu hindern. Doch Philomele versinkt nicht in Passivität. Sie verfertigt ein Gewebe mit geheimen Schriftzeichen, die das furchbare Geschehen offenbaren und sendet es an ihre Schwester Prokne. Diese versteht und gerät außer sich vor Wut und Schmerz. Als Bachantin befreit sie ihre Schwester und tötet ihren kleinen Sohn Itys, um den verbrecherischen Vater im Innersten vernichtend zu treffen und zu strafen. Bevor sich dieser rasend vor Zorn auf die beiden Schwestern stürzen kann, verwandelt Zeus alle drei in Vögel. Als Nachtigall ruft nun Prokne jede Nacht schluchzend nach ihrem kleinen Sohns[23].

    Kallisto:

    Bevor sich die schöne Nymphe dem Gefolge der jungfräulichen Artemis anschließt, gelobt sie ebenfalls Keuschheit. Als die Göttin eines Tages dennoch die von Zeus verursachte Schwangerschaft ihrer Gefährtin entdecken muss, lässt sie ihr im Zorn ein dichtes Bärenfell und Krallen wachsen. Was Kallisto dann zustößt, wird in verschiedenen Parallelmythen berichtet. Ob sie von den Pfeilen ihrer Herrin Artemis, von Hera, der eifersüchtigen Gemahlin des Zeus, oder gar von ihrem eigenen Sohn Arktos, dem Zeus-Sprössling, getötet wird – jedenfalls kreist sie seither als Sternbild der Großen Bärin[24] um den Polarstern[25].

     

    Literatur:

    Benedum 2008: C. Benedum, Der Wundarzt und Heilheros Machaon in Thessalien und Messenien, in: Austausch von Gütern, Ideen und Technologien in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer (Weilheim 2008) 499-506

    Bieber 1925: M. Bieber, Tereus, AM 50, 1925, 11-18 Taf. 2

    Kerényi 1956: K. Kerényi, Der göttliche Arzt (Darmstadt 1956)

    Kerényi 71984: K. Kerényi, Die Mythologie der Griechen 2, Die Heroen-Geschichten  (München 71984)

    Kerényi 21997: K. Kerényi, Töchter der Sonne (Stuttgart 21997)

    Klöckner 2005: A. Klöckner, Mordende Mütter. Medea, Prokne und das Motiv der furchtbaren Rache im klassischen Athen, in: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. Kulturwissenschaftliches Kolloquium Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, 11.-13. Juli 2002 (Stuttgart 2005) 247-263

    Krug 1012: A. Krug, Rez. zu: Riethmüller, Asklepios 2005, Gnomon 84, 2012, 726-737.

    Simon 1968: E. Simon, Tereus. Zur Deutung der Würzburger Schauspieler-Scherbe (Aschaffenburg 1968)

    Wamser-Krasznai 2007: W. Wamser-Krasznai, Metamorphosen der Haut im antiken Mythos, AktDermatol 33/2007, 96 f.

    Wamser-Krasznai 2017: W. Wamser-Krasznai, Ärzte und Tod in der Alten Welt. Mythos, Magie und Metamorphosen, in: dies., Streufunde (Filderstadt 2017) 71-83

    [1] Hom. Il. 4, 194. 9, 518.

    [2] Paus. 2, 26, 5.

    [3] Hyg. fab. 49; Apollod. 3, 121; Schol. Pind. P. 3,96; Paus. 2, 27,4.

    [4] Plat. polit. 3, 408 b. c; Aischyl. Ag. 1022-4; Eur. alc. 3-4; Pind. P. III 55-8.

    [5] Pind. P. III 34 ff. Pind. Schol. V. 3-6.

    [6] Cic. div. Lat.-Dtsch, (Darmstadt 1990)  2, 62, 6-1; 3, 39, 12-13.

    [7] Paus. 8, 2, 4.(Arkadien).

    [8] Hom. h. 16.

    [9] Klöckner 2001,132; Krug 1985, 121.

    [10] Paus.2, 32, 4.

    [11] Apoll. Rhod. 1. 752.

    [12] Hom. Il. 2, 731.

    [13] Paus. 3, 26, 9.

    [14] Spätbyzantinische Handschrift, die eine Herkunft aus der Aithiopis andeutet; Apollod. Epitome=Textauszug 5, 1, Krug 2012, 731.

    [15] Benedum 2008, 501.

    [16] Paus. 3, 26, 9.10.

    [17] Heil-Heros, Kerényi, 1956, 86.

    [18] Prok. Chr. 106. 14, ca. 550 n. Chr.

    [19] Apoll. Rhod. Kerényi 21997, 91; ders. 71984, 219.

    [20] Ov. Met. 7.

    [21] Wamser-Krasznai 2017, 71-79.

    [22] Ov. Met. 10.

    [23] Soph. Tereus Fr. 523 f., Simon 1968, 161.163.

    [24] Auch der „Große Wagen“.

    [25] Wamser-Krasznai 2007, 96.

  • Wellen schlagen

     (2.1.2018)

    für Nasim und Christian

    Wellen, die heute vielfältig geschlagen werden

    können morgen bewegende Melodien hervorrufen

    So wandere mit einem Korb

    voller Blumen zärtlicher Vertrautheit

    streue Perlen des Lichtes

    und entfache die feurige Freude

    am Begreifen und Gestalten

    des wunderträchtigen Lebens