Schlagwort: Sterben

  • Kriegsverbrecher*

    (21.11.2017)

     

    Wenn mit dem Elend der Flüchtlinge
    Kapital geschlagen wird
    ist es wesentlich
    daran zu erinnern
    dass deutsche Kriegsverbrecher*
    durch Steuergelder finanziert
    und mit Ämtern geehrt werden

    ֎֎֎

    * Ergänzung

    Interessierten Lesern wird das folgende Buch des Historikers, Aufklärers und Friedensaktivisten Dr. Daniele Ganser empfohlen:

    Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien.

    Verlag: orell füssli

    ISBN: 978-3-280-05631-8

  • Gefiederte Geschwister

    (21.11.2017)

    für Ilona

     

    Mit Wiedereinzug der kalten Jahreszeit
    bestücke ich das Vogelhäuschen im Beet
    vor dem Wohnzimmer
    Meine Geschwister kommen angeflogen
    Wir frönen fröhlich
    fern dem Dunst des Alltags
    fern dem Getöse aller Wichtigtuer
    den Wundern des Lebens
    Sie erinnern mich erfrischend
    an meine eindeutige Endlichkeit
    mitten im Unendlichen

    ֎֎֎

     

  • NATO

    (15.9.2017)

     

    Manche reden über die Kriegsverbrechen
    der NATO-Mitglieder
    in Jugoslawien, Afghanistan, Irak
    Libyen, Syrien oder anderswo
    klagen über die Beschlüsse
    zur Erhöhung der Militärausgaben
    angesichts der sozialen Misere im Lande
    übersehen dabei die eindeutige Gegebenheit
    dass im Falle einer Mehrheit im Bundestag
    mit einer regulären einjährigen Frist
    ein Austritt aus der NATO möglich ist
    und mit einer Frist von zwei Jahren
    der Stationierung ausländischer Streitkräfte
    ein Ende gesetzt werden kann

    ֎֎֎

    Ergänzende Quellenangaben unter:https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2017/09/nato1.pdf

     

  • Was alles auf der Strecke bleibt

    (5.3.2011)

     

    Der adlige Kriegsherr geht augenscheinlich fort
    der bürgerliche Kriegsminister setzt buchstäblich fort
    Menschenleben bleibt auf der Strecke 

    käufliche Politiker regieren
    Militär und Rüstungsindustrie delegieren
    Kinderträume bleiben auf der Strecke 

    die Bundeswehr wird zweckdienlich umgebaut
    das brüchige Rechtsbewusstsein wird zunehmend abgebaut
    das Völkerrecht bleibt auf der Strecke 

    das verführte Wahlvolk wird schlicht verschaukelt
    Humanität und Demokratie werden dreist vorgegaukelt
    Achtsamkeit und Gefühle bleiben auf der Strecke 

    aufdeckende Tatsachen werden bewusst verschwiegen
    Dunkelheit und Lügen sollen unumkehrbar siegen
    Vernunft und Redlichkeit bleiben auf der Strecke 

    korrumpierte Wissenschaftler verleiten und vertuschen
    ehemalige Friedensfreunde rechtfertigen und kuschen
    Rückgrat und Courage bleiben auf der Strecke 

    professionelle Söldner und freiwillige Soldaten morden
    öffentlich als Helden gepriesen werden diese Horden
    Menschlichkeit bleibt auf der Strecke

    ֎֎֎

     

  • Mittelbau-Dora*

    (2010)

    In dieser beklemmenden Dunkelheit
    in dieser erlahmenden Kälte
    in dieser erstickenden Enge
    schreist du im Siegesrausch
    dass du ein Meister bist
    aus Deutschland
    der alles nimmt
    was sich nach Leben sehnt
    der alles vernichtet
    was nach Menschlichkeit riecht

    Du bist ein Meister
    nicht nur aus Deutschland
    und die Vergesslichkeit
    ist eine Volkskrankheit
    nicht nur in Deutschland
    und die Ignoranz
    ist eine Seuche
    nicht nur in Deutschland
    und eine mögliche Wiederholung
    ist eine Konsequenz
    nicht nur in Deutschland

    Vergiss jedoch nicht
    dass die Mutter Erde
    von unzählig vielen
    verehrt wird

    ֎֎֎

     

    * Nach dem Besuch des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora wurde dieser Text verfasst. Unter Leitung von Wernher Freiherr von Braun wurde dort das vernichtende Nazi-Raketenprogramm realisiert. Braun arbeitete später für die Raumfahrtentwicklung der USA. Ca. 20 000 Menschen starben im Zusammenhang mit diesem Konzentrationslager.

     

  • Requiem für eine Kommilitonin (Fast eine Autobiographie)

     

    Sie saß neben mir in der ersten Vorlesung zu Beginn des Studiums. Wir machten zwei Semester lang viel zusammen. Man aß damals im  Kolpinghaus, wo man für DM 1,25 Spagetti mit Tomatensoße bekam. Es hieß nämlich, der Student geht so lange zur Mensa bis er bricht. In der Tat war das Essen in der Freiburger Mensa abscheulich, man meinte Spülwasser zu schmecken.

    Da ich von einem Realgymnasium kam, glaubte ich das, was in Physik und Chemie verzapft wurde, bereits zu wissen, sodass ich nicht zu lernen brauchte. Maren hatte an einem sprachlichen Gymnasium Abitur gemacht, lernte also etwas für die naturwissenschaftlichen Fächer, mit der Folge, dass sie im Vorphysikum viel besser abschnitt als ich. Es entstand eine Freundschaft, die auf einer gewissen Konkurrenzsituation basierte.

    Maren war Einzelkind so wie ich, hatte aber beide Eltern, von denen sie den Vater abgöttisch liebte, während sie ihre Mutter – wie ich mir später zusammenreimte – hasste.

    Ich dagegen lebte mit meinem verwitweten Vater unter dem Diktat der Mutter meiner Mutter. Papa war viel zu alt für mich, lieb und gütig, konnte mir aber die eigene Mutter, vor allem in seelischen Angelegenheiten, natürlich nicht ersetzen. In geistiger Hinsicht hatte ich ungewöhnlich viel von ihm, lernte und wurde nach Kräften gefördert. Obwohl das Geld in der Nachkriegszeit sehr knapp war, sparte er nicht an Büchern, Reisen, Theaterbesuchen. Was das tägliche Leben kostete, wusste mein Vater nicht. An manchen Tagen hatte ich gerade noch 50 Pfennig für eine Suppe, doch es wäre mir unangenehm gewesen, ihn um eine pünktliche Überweisung meines monatlichen Unterhalts zu bitten. Kurz, ich war reichlich unselbständig, unreif, übermäßig behütet und “durfte nichts”, was heißt, dass ich z. B. zu Hause in unserer kleinen Garnisonstadt nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein auf die Straße gelassen wurde. In Freiburg zu studieren war ein Privileg, das ich der Anwesenheit meiner etwas älteren Cousine am Studienort verdankte.

    Als weitere Vergünstigung durfte ich nach dem Semester zu Maren an die untere Weser fahren. Sie hatte einen Dackel und ein Paddelboot, nahm mich mit zu Bootsausflügen. Natürlich saß ich als Anfängerin vorn, was mich zunächst ziemlich  ängstigte. Als ich einmal vor ihr und ihrem Vater die Treppe hinaufging, sagte sie zu ihm: “Guck mal was für schöne Beine sie hat, wie Marmor”. Das hat sich, wie man sieht, eingeprägt. Viele Komplimente bekam ich ja nicht, empfand mich als Mauerblümchen und war es auch.

    Unsere Studienorte, Wege, Fachrichtungen trennten sich, wir blieben über Geburtstags- und Weihnachtsbriefe in Verbindung. Ich heiratete verhältnismäßig früh, kam damit und mit der Schwiegerfamilie nicht sehr gut zurecht, auch nicht mit der Zeit als Medizinalassistentin, landete aber glücklicherweise in dem für mich richtigen Fach.

    Maren wurde Anaesthesistin. Sie war entschlossen, sich damals nicht zu binden, nachdem sie einem Verehrer, der sie gleich nach dem Abitur heiraten wollte, den Laufpass gegeben hatte. Ich glaube, sie hat sich das insgeheim immer übel genommen, zumal sie erleben musste, wie eine Freundin und dieser Verehrer sich näher kamen und später auch heirateten.

    Sie besuchte mich einmal während der Zeit, als ich noch – todunglücklich – mit meinem Mann zusammen im Haus meiner Schwiegermutter lebte. Maren empfand die ebenso tüchtige wie bestimmende Frau ebenfalls als tyrannisch, verstand sich  aber gut mit dem Hund des Hauses (viel besser als ich), was ihr natürlich Sympathien einbrachte.

    Maren litt ebenso wie ich an Migräne, jedoch wesentlich häufiger und mit schwereren Symptomen. Damals half ihr, wenigstens einigermaßen, Avamigran, was i. v. zu injizieren war. Als ich sie einmal an ihrem Arbeitsort besuchte, hatte es sie gerade so schlimm erwischt, dass sie nur noch im Sessel hing und wimmerte, bis ich sie mit einer i. v. Spritze erlöste, d. h. es wurde nach etwa 20 Minuten erträglich. Wehleidig war sie nicht, fand dann rasch ihre Vitalität wieder.

    Irgendwann bekam sie eine Hepatitis. Ihre Arbeit hat sie nie länger als unbedingt notwendig unterbrochen. Zu welchem Zeitpunkt ihre depressiven Verstimmungen begannen, weiß ich gar nicht. Sie machte nicht viel Wesens darum und versuchte, sich an ihrem eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

    Später heiratete sie einen viel älteren Mann, ganz folgerichtig, wie ich im Hinblick auf ihre Familiengeschichte fand. Ihn lernte ich erst vor zwei Jahren kennen, einen kultivierten, liebenswürdigen Herrn alter Schule, der natürlich verheiratet gewesen war und Kinder hatte, nicht willens und auch nicht fähig, sich für Dinge des täglichen Lebens zu engagieren. Sie sagte nicht mehr als: die erste Zeit war sehr schwer. Wenig später wurde er hilfsbedürftig, zum Teil aus Bequemlichkeit. Maren stand treu zu ihm, hatte schreckliche Depressionen. Wir trafen uns in Abständen, gingen zusammen ins Ägyptische Museum. Sie meinte, dass zwischen uns “die Chemie immer noch stimme”. Clichés mag ich nicht, verstand aber die positive Botschaft. In der Folge gewann ich eine Art Oberhand, als ich gute Erfahrungen mit einer zweiten lebendigen, spannungsvollen und interessanten Ehe machte, erfolgreich bis zum 68. Lebensjahr eine Einzelkämpferpraxis führte und meinen Ehrgeiz durch ein Zweitstudium und kurzweilige schriftstellerische Tätigkeit befriedigen konnte.

    Es kam der Sommer 2016. Ich war wegen einer Tagung an Marens Wohnort, mit ihr zum Kaffeetrinken und „Schwätzen“ verabredet. Wir trafen uns, sie setzte einen Fuß unglücklich auf die Rolltreppe, fiel buchstäblich auf die Nase, erlitt einen Nasenbeinbruch und, was viel unangenehmer war, eine stark blutende Platzwunde unter dem linken Auge. Notfall-Ambulanz, ab ins Klinikum, ich fuhr natürlich mit. In dem Zimmer, in dem wir dann mehr als zwei Stunden warten mussten (ein Notfall nach dem anderen, Wochenende natürlich), war alles vorhanden. Ich zog Handschuhe an und war in Versuchung, selbst zu nähen, ließ es glücklicherweise  doch lieber bleiben und beschränkte mich auf Blutstillung und Zuspruch. Ein Kollege produzierte eine auch kosmetisch absolut einwandfreie Naht, für die Maren “nur” 125, – Euro zahlen musste, während die Rechnung für den Krankentransport mit mehr als 500 Euro zu Buche schlug.

    Es kam der Juli 2017. Ich wollte mich fernmündlich nach ihrem Befinden erkundigen und an dieses gemeinsame Erlebnis erinnern, bekam ihren Mann ans Telefon und musste hören, dass Maren vier Wochen zuvor verstorben war. Ich schrie auf, erfuhr, dass sie wohl eine Apoplexie erlitten hatte und die Kellertreppe hinuntergestürzt war. Ihr Mann, gehbehindert und an ihre Fürsorge gewöhnt, fand sie Stunden später bewusstlos in einer Blutlache. Sie verstarb drei Tage später in der Klinik, ohne noch einmal aus dem Koma zu erwachen.

    Entlastet mich das jetzt? Es soll ja manchmal helfen, sich etwas von der Seele zu schreiben…

     

     

  •  

    Dr. med. Günter Struck,

    geboren 25.06.1923, gestorben 14.06.2017

    Mit Trauer haben wir die Nachricht erhalten, dass unser Mitglied und Freund Dr. Günter Struck verstorben ist. Er war eines der ältesten Mitglieder unseres Bundesverbandes und über all die Jahre eine wichtige Stütze der Aktivitäten im Verband. Wir verdanken ihm sehr gute literarische Leistungen, freundliche Begegnungen und erinnerungswürdige Gespräche. Für seine Verdienste wurde er 2006 mit der Schauwecker-Medaille ausgezeichnet.

    In dankbarem Gedenken

    Dr. Dietrich Weller

    Nachruf von Frau Dr.  Ulrike Zuber

    Wer jemals schön und gut,
    versinkt und verflüchtigt nicht.
    Echo und Widerschein
    halten Erinnerung fest.                                               (Alfred Rottler)

    Im Sommer 1993 tagte der Verein der katholischen Ärztearbeit im Erfurter Augustinerkloster. Ich hatte gerade meine Kündigung bekommen, weil der Landkreis Erfurt nach der Gebietsreform mich nicht mehr brauchte. Durcheinander von der Ereignissen der vergangenen Tage und nicht ahnend, was alles auf mich zukommen würde, beschloss ich, einige Vorträge im Augustinerkloster anzuhören. Dabei lernte ich das Ehepaar Drs. med. Dorothea und Günter Struck kennen. Die Unterhaltung mit ihnen gab mir etwas Mut, und Dr. Struck lud mich ein, im September 1993 nach Fulda zu kommen, um an der Tagung des BDSÄ  teilzunehmen. Das tat ich, und so wurde ich mit einem Gedichtbeitrag in den Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte BDSÄ aufgenommen. Das ist nun 25 Jahre her, aber ich habe das für mich so wesentliche Erlebnis nie vergessen.

    Es entstand eine regelrechte Freundschaft, und jedes Jahr trafen wir uns zu den Jahrestagungen, zwischendurch auch zu einer Lesung der Landesgruppe NRW in Köln und der Hessen in Frankfurt/Main. Günter schrieb, und Dorothea malte, eine ideale Ergänzung (z.B. Pyrmonter Blütenblätter Ginta Verlag 1993).

    Auch zu den Jahrestagungen des BDSÄ waren ihre Bilder oft ausgestellt und fanden Beachtung und Bewunderung.

     Günter Struck erschien mir immer wie ein Fels in der Brandung, der mit seinem Humor die Übersicht behielt und der nicht so leicht zu erschüttern war.

    Im Alter von fast 94 Jahren ist er am 14.06. dieses Jahres in Köln verstorben. Seine Frau wird sich mit ihrer großen Familie trotz aller Trauer dankbar so mancher humorvollen Begebenheiten erinnern.

     Ich auch und ebenso die Mitglieder des BDSÄ, die ihn kennengelernt haben.

    In alter Verbundenheit

    Dr. med. Ulrike Zuber, Erfurt

  • Beitrag zur Lesung über das Thema Gehen oder bleiben

    BDSÄ-Kongress Mai 2017

    Vorbemerkung: Mein Freund Ronald hat mir ausdrücklich erlaubt, diese Geschichte hier vorzutragen.

    Die emotionale Hürde

    Ronald rief mich an:

    „Du hast doch Erfahrung mit Patientenverfügungen. Ich brauche Deinen Rat.

    Meine Mutter lebt in Kanada mit ihrem zweiten Mann. Vor ein paar Tagen ist sie in der Küche gefallen und hat sich eine Kopfplatzwunde zugezogen. Ihr Mann rief den Krankenwagen, man brachte sie in die Klinik, dort wurde die Wunde genäht. Dann haben sie meine Mutter wieder entlassen. Ein paar Stunden später stürzte sie noch einmal und verletzte sich wieder. Als sie jetzt in das Krankenhaus kam, hatte einer der Ärzte die Idee, ein Computertomogramm vom Schädel zu machen. Dabei stellten sie eine große Hirnblutung fest, und Mutter wurde stationär aufgenommen.

    In den folgenden Stunden verschlechterte sich ihr Zustand rapide, und sie starb.

    Mein Stiefvater war natürlich völlig entsetzt, er fuhr aber schließlich nach Hause. Am nächsten Morgen wollte er beim Bestattungsinstitut die Beerdigungsformalitäten regeln. Der Bestatter sagte nach einem Blick in seinen Computer:,Ihre Frau ist nicht als tot gemeldet. Sie lebt noch.`

    ,Nein, nein, sie ist tot! Ich war dabei, als sie starb!`

    Der Bestatter blieb bei seiner Meinung: ,Sie würde hier auf meiner Liste stehen, wenn sie tot wäre. Bitte gehen Sie noch einmal zur Klinik, und vergewissern Sie sich!`

    Mein völlig verunsicherter Stiefvater fuhr zur Klinik. Dort traf er auf die Krankenschwester, die beim Sterben meiner Mutter anwesend gewesen war.

    Sie erschrak beim Anblick meines Stiefvaters und berichtete stockend:

    ,Ich habe Ihre Frau nach ihrem Tod zugedeckt in den Raum für Verstorbene geschoben. Als ich eine Weile später kam, um sie zu waschen, hörte ich ein Röcheln unter der Decke. Ihre Frau war tief bewusstlos und atmete ganz flach. Ich schlug sofort Alarm, und wir brachten sie auf Station. Dort liegt sie jetzt.‘

    Ein Arzt erklärte meinem Stiefvater, es sei ihm völlig unklar, wie es nach dem festgestellten Tod noch einmal zur Spontanatmung hatte kommen können. Dieser jetzige Zustand könne noch lange anhalten. Vielleicht sogar Wochen und Monate. Eine Hoffnung auf Heilung habe er nicht, die Hirnblutung sei viel zu ausgedehnt. Wenn Mutter überleben würde, dann nur schwerst hirngeschädigt.“

    Ronald machte eine kurze Pause, dann fragte er: „Wie sollen wir uns verhalten, was soll ich meinem Stiefvater raten? Soll die Ernährung fortgeführt werden? Sollen Medikamente gegeben werden?“

    „Zuerst will ich dir sagen, wie leid mir diese Situation tut. Das ist eine echte Schock- und Horrorgeschichte. Gibt es eine Patientenverfügung?“

    „Ja, die gibt es, und meine Mutter hat ganz klar verfügt, dass sie in einem hoffnungslosen Krankheitszustand keine lebens- und leidensverlängernden Maßnahmen will.“

    „Dann ist nach deutschem Recht die Situation ganz klar. Ernährung anzuordnen, zum Beispiel intravenös oder mit Magensonde, und Medikamente zu geben, sind ärztlich anzuordnende Leistungen. In dem vorliegenden Fall würden Ernährung und Medikamente das Leben und vielleicht sogar das Leiden verlängern. Die Ärzte dürfen also gar keine Ernährung und Medikamente geben, da dies gegen den erklärten Willen deiner Mutter geschieht.

    Die entscheidenden Fragen bei jedem neuen Medikament oder jedem neuen Ernährungsbeutel sind:

    • Darf ich diesen nächsten Beutel, dieses nächste Medikament geben?
    • Nützt es dem Patienten?
    • Würde der Patient das jetzt wollen?

    Es geht nicht darum, ob das Medikament oder die Ernährung objektiv wirkt, sondern ob sie subjektiv nützen. Und über den Nutzen entscheidet allein der Patient.

    Nach deutschem Recht sind Ernährung und Medikamentengabe gegen den erklärten Willen des Patienten vorsätzliche Körperverletzung nach §223 StGb. Ich vermute, das ist nach kanadischem Recht auch so. Aber das kann man ja fragen.“

    Ronald sagte erleichtert: „Diese Antwort habe ich erwartet. Danke, dass du das so klar formulierst. Was soll ich tun?“

    „Schlage deinem Stiefvater vor, mit der Patientenverfügung zu den behandelnden Ärzten zu gehen und sie auf die Vorschriften deiner Mutter zur Therapie in dieser Lebensphase aufmerksam machen. Er sollte sie bitten, die Ernährung und die Gabe von Medikamenten einzustellen. Wichtig ist eine sorgfältige palliative Versorgung, die für Beschwerdefreiheit sorgt. Dann wird sie in den nächsten Tagen, vielleicht sogar innerhalb eines Tages sterben. Das ist meiner Meinung nach das Gnädigste, was Ihr für sie noch tun könnt. Sie hat es so verfügt, deshalb müsst Ihr es so machen.

    Das Therapieziel ist nicht mehr, die Frau am Leben zu halten und zu heilen, sondern es hat sich durch die sehr schlechte Prognose verändert. Jetzt besteht das Therapieziel darin, der Patientin zu helfen, damit sie möglichst beschwerdefrei sterben kann.“

    Wir wechselten noch herzliche Worte, und ich bat Ronald, mich über den weiteren Verlauf zu informieren. – Ein paar Tage später rief er mich wieder an:

    „Mein Stiefvater ging in die Klinik und wollte mit den Ärzten sprechen. Er war sich völlig klar darüber, dass es seine Aufgabe war, jetzt den vor Jahren gemeinsam verfassten Beschluss umzusetzen und die Ärzte um eine Beendigung der Therapie zu bitten. Aber er brachte es nicht über´s Herz, den Ärzten diese Entscheidung zu vermitteln. Denn er sah plötzlich den Konflikt, dass er dann entscheiden müsste, dass JETZT die Flüssigkeitszufuhr abgestellt wird. Er hatte das Gefühl, damit den Todeszeitpunkt durch Verhungern zu bestimmen. Und dies, obwohl er wusste, dass der natürliche Verlauf diesen Zeitpunkt bestimmen würde.

    Also verließ er die Klinik, ohne den Ärzten den Beschluss in der Patientenverfügung mitzuteilen. Er sagte zu mir: ,Lass mich noch ein paar Tage warten. Ich hoffe, dass die Natur einen gnädigen Abschluss findet.`“

    Die Mutter starb einen Tag später bei laufenden Infusionen.

     

  • Dr. med. Cordula Sachse-Seeboth,

    RAPIDOT, Pandoras Pillbox,

    Amazon 2017

     

    Rezension von Dr. Dietrich Weller 

    Eine Warnung vorweg: Es soll Menschen geben, die an das Gute im Menschen und besonders in unserem Gesundheitssystem glauben. Wenn Sie diesen Glauben aufrechterhalten wollen, sollten Sie Rapidot, den Debutroman von Cordula Sachse-Seeboth, der im April 2017 erschienen ist, nicht anfangen zu lesen. Denn wenn Sie anfangen, kommen Sie nicht mehr weg. Sie werden hineingerissen in einen Strudel von kurzen Kapiteln, die mit einer rasanten und leider realistisch möglichen Handlung alle Hinterhältigkeiten und kriminellen Machenschaften offenlegen, die bei der Erprobung eines neuen Medikaments im Rahmen von vorgeschriebenen Studien denkbar sind. Die Gier nach Geld und Macht sind die Treibfedern einer Bande von Gangstern im vornehmen Klinik- und Pharmamilieu von Berlin. Die Handlung spielt hauptsächlich in der Kardiologischen Klinik der Cordialité (wer könnte die Parallele zu der berühmten Charité übersehen?), wo Professor Lindberg der Leiter der zweiten Studienphase zu einem revolutionären Mittel gegen das gefährliche Vorhofflimmern ist. Rapidot ist das als Handelsname geplante Kunstwort aus rapid – schnell und Anti-dot – Gegengift.

    Die studienerfahrene Ärztin und Autorin Cordula Sachse-Seeboth schildert mit enormem Sachwissen und verblüffenden Details zu Praxis und Risiken des Studienablaufs, wie gewissenlose Drahtzieher planmäßig Menschenleben aufs Spiel setzen, um die Genehmigung für das Medikament Rapidot zu erhalten. Den Verbrechern im weißen Kittel und im blauen Zweireiher, die mit teilweise sarkastischer Eiseskälte geschildert werden, steht die junge Assistenzärztin Zoe gegenüber. Sie wird als Assistentin von Lindberg eingestellt und mit der Durchführung der Studie betraut, weil er testosterongesteuertes Interesse an ihr hat und sie ihn mit kluger Ablehnung und geistreicher Schlagfertigkeit reizt. Zoe ahnt die geplanten kriminellen Pläne der Pharmafirma und die lebensgefährdende Wirkung von Rapidot und heckt einen ebenso kriminellen Plan aus, um die Versuchspersonen zu retten. Zoe entdeckt die Hintergründe, die zu zehn „zufälligen“ Unfalltoten im Vorfeld der ersten Studienphase geführt haben. Dadurch verwickelt sie sich immer mehr in eine für sich selbst lebensbedrohliche Lage. Das Netz der Gier und der Süchte, der Lügen und Finten, der Morde und Rettungsversuche wird entfaltet, es führt zu mehreren packenden Höhepunkten und fällt dann auf total verblüffende Weise in sich zusammen.

    Obwohl der Roman 600 Seiten umfasst, wird der Leser von Kapitel zu Kapitel weitergelockt, denn die Autorin beherrscht die Dramaturgie perfekt: Sie lässt den Leser oft am Ende eines Kapitels im spannendsten Moment „hängen“ und schwenkt zu einem anderen Handlungsstrang um. (Daher kommt der Fachbegriff cliffhanger.) Die einzelnen Kapitel sind knapp und präzise aufgeteilt und geschildert. Sie springen mitten in die Handlung, und schildern Menschliches und Allzumenschliches in bildhafter Sprache, die häufig mit witzigen und geistreichen Dialogen gespickt ist. Skrupellosigkeit, Raffinesse, kriminelle Energie und tiefe Menschlichkeit werden eindrucksvoll verwoben. Die Charaktere der Handlung sind plastisch und lebensecht beschrieben, sehr gut ausgearbeitet, auch mit vielen kleinen Charakteristika versehen, und der Leser kann sich jede Hauptperson klar vorstellen. Das Böse und das Gute liegen sehr nahe beieinander. Und beides ist glaubwürdig.

    Imponierend finde ich, dass die Autorin im Anhang nach Ideen der Arzeimittelkommission, der Cochrane Collaboration und der Zeitschrift arznei-telegramm einen realisierbaren und wertvollen Katalog von Verbesserungen der bis jetzt gültigen Vorschriften für Studienabläufe zusammengestellt hat. Die dort noch enthaltenen Lücken in den Regeln haben unter anderem den vorliegenden Pharma-Thriller möglich gemacht. Dass die Autorin auch eine gehörige Portion Humor hat, zeigt sie mit dem angehängten Kapitel „Aufklärung über Nutzen und Risiken des Buchkonsums“.

    Ein beeindruckender und (auch für Nichtmediziner!) lesenswerter Debutroman, der mich neugierig macht, womit die Autorin uns demnächst überrascht. Ihren Kindern hat sie Kinderbücher versprochen, und Science-Fiction steht auch auf ihrem Plan. Wir dürfen gespannt sein.

    Dr. med. Dietrich Weller,

    Präsident im Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte BDSÄ

    —>> Lesen Sie auch www.rapidot.de

  • aus Wicht, Dreck am Saphir, Vindobona Verlag, 2013

     

    Das archaische Lächeln

    Ein heit´res Lächeln flog im Dunkeln durch die Welt
    und ward ganz unversehens dort zerspellt
    durch eine Neutronenbombe.
    Die Seele starb, was übrig blieb
    kam in den Besatzer-Souvenirbetrieb.
    Ein Kind erhielt das Ding,
    von dem keiner mehr wusste, was es war
    als es Vater abholen ging.
    Es bedankte sich, wie es musste,
    doch war die Verwendung nicht klar.
    Das Zweifeln hat nicht lange gewährt
    der Abwurf hatte sich kaum verjährt
    da starben die Sieger selbst,
    was keiner ahnen konnte,
    an den Folgen ihrer eigenen Bombe
    Und mit ihnen starb auch ihr Lächeln,
    über das sich Gelehrte anderer Sterne und Zeiten
    später noch streiten.

     

    Generation Kriegsende

    In den Schößen unserer Mütter geborgen
    als Bomben fielen
    atmeten wir als Säuglinge den Rauch
    über verbrannten Städten
    manche sehen noch den Freund
    heulend
    neben der Leiche der erschossenen Mutter
    rotznasig
    am vorüberziehenden Treck

    heute
    denken wir das Wort Krieg noch
    mit tierhafter Angst
    auch sehen einige die neue Uniform
    und die MPI
    in der Hand unserer Soldaten
    skeptisch
    während Zeitungen von Kosmosflügen
    berichten
    lesen wir daneben von Kerntests

     

    lingua novi temporis

    wenn wir von den Oberen sprechen
    sagen wir man, von meinem
    Nachbarn spreche ich von Hans Schulz
    er verlangt nichts von mir und ist freundlich

    wenn wir von Politik sprechen
    sagen wir,  man hat das und das
    getan, andeutend, das geschah
    ohne unsere Einflussname

    wenn wir von der misslichen Lage
    sprechen, sagen wir, man
    wird das schon ändern
    auf man lohnt kein Schimpfen

    wir haben die Hoffnung
    die Ohren des Tischnachbarn
    in der Kneipe können mit man
    nichts anfangen, das ist besser

     

    Viele der Feistwangigen

    Viele der Feistwangigen, die
    uns kommandieren
    haben ihr Fett
    mit Gesinnung erhandelt
    und sind auch bereit,
    später noch
    mit Gesinnung zu handeln.

    Uns, die wir noch keine
    käufliche Gesinnung haben
    bleibt oft nur
    der Hass als
    Ansporn zum Handeln

     

    Der Bart

    Wir leiden oft zu sehr an den Zerrüttetheiten
    an Angst und Arbeitsscheu und Impotenz
    da nutzt es nichts, die Seele auszuweiten
    denn für die Obern hat das seine Konsequenz

    Der Mensch, so spricht man klug und laut
    und weist dabei auf Friedrich Engels Buch
    ist zwar nach Art der Affen aufgebaut
    doch ist er Mensch durch seine Arbeitssuch´

    Die Reste seiner Affigkeit trägt mancher noch
    als Bartgestrüppe im Gesicht
    wir distanzieren uns jedoch
    von ihnen und trauen ihnen nicht

    denn nur den wahrhaft Großen sei dies zugesagt
    dass ihre Größe dadurch wird´ bewiesen.
    Verrucht sei jeder Kleine, der es wagt
    auch nur den äußeren Vergleich mit diesen.

    Doch trotzdem lassen wir die Bärte sprießen
    und kompensieren so die Impotenz
    es mag die Obern auch verdrießen
    wir tun´s in eig´ner Kompetenz.

     

    Befindlichkeiten I     (1961/62)

    In der Zeit, da das Misstrauen wächst
    wie dein Bart von einem Tag zum andern,
    bedarf eine Freundschaft wahrhaft großen
    Vertrauens gegeneinander
    oder Naivität und Dummheit und knechtische Unterordnung
    und du fragst dich, ob du selbst
    der Geliebten deine Gedanken
    und dem Gast dein wahres Gesicht
    zeigen darfst.
    Du weißt nie, ob man dich
    deiner Zweifel wegen
    und manchmal auch Eigenliebe
    nicht für
    verdammungswürdig hält.

     

    Befindlichkeiten II

    Man sagt uns, dass
    wir einer hellen Zukunft
    entgegengehen
    wir lernen die Brutalität
    und wären doch oft gern
    zärtlich
    in uns ist Hass
    darum sind wir
    käuflich
    wer weint, tut es nachts
    am Tage gibt es nur
    Lachen

    unsere Kunst ist es,
    nicht zu sterben.

    Heute verrate ich meinen Freund
    denn ich will morgen noch
    leben

    die kleinen Hilfen bleiben ungenannt
    aber manchmal sagst du doch
    Bruder
    um das Lächeln, mit
    dem wir Befehle überhören
    sollten uns spätere Generationen
    bewundern.

     

    Über Pazifismus

    Ich höre den Gesang von den Gräbern
    von dem Hass gegen den Krieg
    man will uns wieder mal zeigen,
    nur bei uns gibt es wirklich Sieg.

    Ich halte mich nicht für klüger
    ich seh das zerfurchte Gesicht
    jenes Sängers von sinnlosen Gräbern
    sehr viel Neues sehe ich nicht.

    Der Hass hat abgenommen
    man konserviert ihn wohltemperiert
    der moralische Sieg ist wieder gewonnen
    doch für ne Idee wird noch immer krepiert