Schlagwort: Sterben

  • Betrag zur Lesung „Werte und Wertewandel) beim BDSÄ-Kongress 2916

     

    Ganz verschiedene Werte und Wertungen

     

    Anstatt eine theoretische philosophische Abhandlung zu diesem wichtigen Thema zu schreiben, will ich an einigen knapp skizzierten Beispielen aus meinem Alltag zeigen, wie unterschiedlich Werte erlebt und geäußert werden.

     

    Der Patient in der Notfallpraxis sagt: „Gestern habe ich mir den Zeigefinger in der Tür geprellt. Da bin ich heute Nacht wegen der Schmerzen durch die Hölle gegangen.“

     

    Die fünfundzwanzigjährige Frau fährt im Elektrorollstuhl in das Behandlungszimmer. Ich frage, warum sie im Rollstuhl sitzt.

    Sie antwortet lachend: „Ich habe eine angeborene Zerebralparese und kann seit ein paar Monaten nicht einmal mehr stehen. Außerdem habe ich regelmäßig epileptische Anfälle. Jetzt komme ich wegen meiner fieberhaften Grippe. Aber mir geht´s gut.“

     

    Der dreijährige bis jetzt gesunde Junge sagt zu seiner Mutter: „Jetzt ist alles dunkel. Warum hast Du das Licht ausgemacht? Mach es wieder an!“ –

    Der Junge war plötzlich auf beiden Augen blind geworden. Wenige Stunden später sahen die Ärzte im Schädel-Comptertomogramm Metastasen im Kleinhirn und an der Kreuzung der Sehnerven.

     

    Eine Frau mit metastasierendem Bronchialkarzinom im Endstadium, die im Pflegeheim liegt, sagt zu mir: „Wenn Sie mich noch einmal besuchen wollen, müssen Sie es bald tun. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Das schönste Erlebnis heute war, als die Schwester mir ein Glas warme Milch gebracht hat. Die Liebe, die ich hier empfange, ist ein großes Geschenk, für das ich unendlich dankbar bin.“

     

    Als Arzt in der Neurologischen Reha-Klinik nahm ich einen Patienten nach Schlaganfall auf meiner Station auf. Nach dem ausführlichen Gespräch mit Untersuchung fragte die Ehefrau: „Was kann ich noch für meinen Mann tun?“

    Ich legte mein Buch „Wenn das Licht naht – der würdige Umgang mit schwer kranken, sterbenden und genesenden Menschen“ auf den Tisch.

    Sie war verblüfft und lachte mich an. „Oh, Sie haben das geschrieben! – Dieses Buch hat mich auf der Intensivstation in München in den letzten Wochen am Bett meines Mannes am Leben gehalten. Eine Schwester hat es mir ausgeliehen.“

     

    Die zwanzigjährige Frau ägyptischer Abstammung sagt in der Sprechstunde: „Gottseidank bin ich nicht schwanger. Wenn mein Vater wüsste, dass ich einen Freund habe und mit ihm schlafe, würde er zuerst meinen Freund und dann mich umbringen.“

     

    Bei einem Hausbesuch in einer sehr wertvoll eingerichteten Villa werde ich in das ehemalige Arbeitszimmer des Hausherrn geführt. Jetzt ist es sein Schlafzimmer – mit Blick in den wunderbar gepflegten Garten. Der Mann liegt seit zwei Jahren nach Schlaganfall im Wachkoma und atmet spontan durch eine Kanüle in der Luftröhre, seine Augen sind geschlossen. Er reagiert nicht auf meinen Gruß.

    Seine Frau sagt: „Jeder Tag, den ich ihn hier pflegen darf, ist ein Geschenk für mich, für das ich jeden Tag dankbar bin. Und trotzdem hoffe ich, dass er bald friedlich einschlafen darf. Jeden Tag begrüße ich meinen Mann – und nehme ein bisschen Abschied.“

     

    In der Praxis habe ich eine Woche lang einen ägyptischen Mann behandelt, der seine in Leonberg verheiratete Tochter besuchte, nicht viel Geld hatte und schon die überstürzte Heimreise plante. Ich habe ihn dann kostenlos behandelt.

    Bei seinem letzten Besuch in der Praxis kniete seine Frau beim Abschied vor mir nieder, nahm meine beiden Hände und sagte etwas, was die Tochter übersetzte: „Ich bitte Gott, dass er mir zehn Lebensjahre nimmt und sie Ihnen schenkt.“

    Eine Frau mittleren Alters kam nach langem Krankenhausaufenthalt in die Sprechstunde, legte einen langen Arztbrief auf den Tisch und fragte, ob ich sie als neue Patientin annehme. Ich überflog den Brief und sah eine lebensbedrohliche Diagnose mit einigen Komplikationen und zwei Reanimationen.

    Ich sagte anerkennend: „Da haben Sie aber viel durchgemacht. Und die Ärzte haben Ihnen wirklich geholfen.“

    Die Frau antwortete wütend: „Das ist ein Scheiß-Krankenhaus!“

    „Wieso das denn?“

    „Da hat doch tatsächlich die Schwester an einem Morgen vergessen, mir einen Löffel zum Joghurt zu bringen!“

     

    Die Frau im Endstadium einer bösartigen Erkrankung wird von einem mir bekannten Hausarzt gefragt: „Was ist Ihnen denn noch wichtig? Gibt es etwas, was Sie unbedingt noch erleben wollen?“

    Die Frau sagt nach einiger Überlegung: „Der Haushalt muss aufgeräumt sein!“

     

    Mein Freund Nabil stammt aus Syrien. Nach dem Medizinstudium kam er mit seiner jungen Frau nach Deutschland und wurde Internist und Radiologe. Er hatte seit 1984 über viele Jahre seine Praxis im Haus neben meiner Praxis. Jetzt ist er wie ich Rentner, arbeitet in der Notfallpraxis weiter und leitet noch das Nuklearmedizinische Zentrum im Krankenhaus Sindelfingen. Häufig wird er als Übersetzer gebraucht, wenn Flüchtlinge aus den arabischen Ländern behandelt werden sollen. Nabil hat mir die beiden folgenden Geschichten erzählt.

    Ein 24-jähriger schlanker und gut aussehender Mann kommt mit nachhängendem rechtem Bein, spastischer Arm- und Handlähmung und Sprachstörung in die Klinik. Nach der Ursache seiner Lähmung gefragt berichtet er, ein ungarischer Grenzsoldat habe ihn bei der Flucht mit einem Elektroschockgerät mehrfach heftig auf die linke Schädel-seite geschlagen, dann habe es im Kopf geblutet. –

    Nabil fragt nach: „Wäre es nicht besser gewesen, wenn Sie in Syrien geblieben wären?“ –

    „Nein, ganz sicher nicht, die Regierungstruppen und die Rebellentruppen wollten mich zum Wehrdienst einziehen. Ich wollte nicht kämpfen. Wenn ich geblieben wäre, hätten Sie mich erschossen. Es ist alles gut. Ich bin hier und lebe!“

     

    Nabil machte von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in einer Flüchtlingsunterkunft in Leonberg und traf dort eine junge Familie aus Syrien.

    Der Ehemann erzählte: „Wir wurden täglich mit Bomben beschossen, in unserer Straße stand kein Haus mehr. Wir hatten nichts mehr, wir konnten nichts anders tun, als zu Fuß zur türkischen Grenze zu wandern. Meine Frau war im neunten Monat schwanger, unser eineinhalbjähriger Sohn war bei uns. In der Türkei wurde unser zweites Kind im Lager geboren, es ist jetzt vier Wochen alt. Aber wir sind hier, und wir sind gesund und dankbar.“

    Neulich machte ich mitten in der Nacht von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in Weissach in der Stadthalle, die als Flüchtlingsunterkunft umgebaut war. Nachdem ich den Patienten untersucht hatte, sagte die Angestellte vom Sicherheitsdienst: „Jetzt können Sie auch gleich noch mit dem Bürgermeister sprechen.“

    Ich war verblüfft: „Jetzt morgens um zwei Uhr ist der Bürgermeister hier?“

    Tatsächlich stand vor der Halle eine Gruppe junger Männer und unterhielt sich lebhaft. Ich stellte mich vor, und einer der Männer sagte: „Ich bin Daniel Töpfer, der Bürgermeister.“

    Ich lachte ihn an: „Das ist ja ungewöhnlich, nachts um die Zeit den Bürgermeister bei Flüchtlingen zu treffen? Was machen Sie hier?“

    Er lachte zurück: „Wir haben vier Partien Schach gespielt!“

    Da mischte sich einer der Flüchtlinge mit gutem Englisch ein und erzählte begeistert, dass sie oft Schach miteinander spielen, und das sei großartig, „but Daniel always wins, he is a champion!“

    In welcher Stadt in Deutschland nimmt sich ein Bürgermeister Zeit, um mitten in der Naht vier Partien Schach mit Flüchtlingen zu spielen?

    Meine Hochachtung, Herr Töpfer, für ihre meisterliche Bürger-Nähe!

     

    (Für die nicht Ortskundigen: Weissach ist eine Gemeinde mit etwa 7500 Einwohnern im Kreis Böblingen. Hier hat Porsche sein Entwicklungszentrum. Daniel Töpfer wurde 2014 im Alter von 25 Jahren mit 58% zum Bürgermeister gewählt.)

  • Ein hochbetagter Patient, seit vielen Jahren privat krankenversichtert bei der „Alten Oldenburger Krankenversicherung AG“, vor zehn Jahren wegen eines Aortenaneurysmas mit einer Stentprothese versorgt, wird mit Bauchschmerzen in das Krankenhaus Delmenhorst eingewiesen.

    Dort wird eine Computertomographie durchgeführt. Man findet ein retroperitoneales Hämatom als Ausdruck einer Aneurysmaruptur bei liegender Stentprothese.

    Der Patient wird mit dem Rettungshubschrauber in ein Gefäßzentrum geflogen und erreicht das Krankenhaus in den Abendstunden.

    Sofort wird auf dem OP-Tisch eine Angiographie durchgeführt, der Befund imponiert als Typ III Endoleak auf der linken Seite. In die alte, undichte Stentprothese wird auf der linken Seite ein neuer Prothesenschenkel platziert. Dann ist angiographisch alles dicht, und der Patient wird kurz vor Mitternacht auf die Intensivstation gebracht, und der fast sechzigährige Chefarzt hat Feierabend.

    Nachts um halb drei klingelt beim Chefarzt das Telefon: Der hochbetagte Patient blutet offensichtlich wieder.

    Das Team geht wieder in den OP.

    Es wird entschieden, nun den Bauch zu eröffnen.

    Eröffnen des Aneurysmasackes.

    Es wird klar: Die Stentprothese ist an vielen verschiedenen Stellen undicht, das Material ist aufgebraucht, zermürbt. Die Situation ist schwierig. Einen Stentprothesenausbau wird der hochbetagte Patient wahrscheinlich nicht überleben. Was tun? Man versucht, die vielen kleinen Löcher abzudichten. Das misslingt.

    Schließlich wird bei offenem Bauch auch von rechts über die Leiste ein neuer Prothesenschenkel in die alte, kaputte Stentprothese hineingebracht. Die Blutung steht, das Aneurysma wird verschlossen, die Leibeshöhle ebenfalls.

    Es wird jetzt hell draußen.

    Der Chefarzt hat noch Zeit, ein paar frische Brötchen zu holen und Kaffee zu trinken.

    Dann beginnt für ihn der neue Arbeitstag, mit zwei Stunden Schlaf.

    Der Hochbetagte liegt jetzt kreislaufstabil auf der Intensivstation.

    Er bekommt Besuch von seinen Angehörigen, die in diesem Rahmen auch mit dem Krankenhaus die Wahlleistungsvereinbarung unterschreiben.

    Der Hochbetagte erleidet nach der Operation mehrere Organversagen, er überlebt die Aneurysmaruptur letztlich nicht.

    Einige Wochen später erhält der Chefarzt ein Schreiben von der Alten Oldenburger Versicherung: Die Leistungen des Operationstages würden nicht erstattet, weil die Angehörigen die Wahlleistungsvereinbarung erst am Tag nach der Operation unterschrieben hätten.

    Der Chefarzt fühlt sich betrogen.

    Trotzdem wird er auch weiterhin nachts in die Klinik fahren, wenn seine Oberärzte Hilfe brauchen, sei es bei privaten oder Kassenpatienten.

    Er fragt sich aber auch, wie sich wohl die Angehörigen fühlen mögen, die ja eine Kopie dieses Schreibens der privaten Krankenversicherung bekommen haben – Zechprellerei ist sicherlich der falsche Ausdruck. Und sie würden doch auch niemals von einer Tankstelle wegfahren, ohne zu bezahlen.

    Wie mag sich die Mitarbeiterin der Alten Oldenburger Krankenkasse fühlen, die Verfasserin des Schreibens? Wahrscheinlich freut sie sich, einem gut verdienenden Chefarzt eins ausgewischt zu haben.

    Man muss sich aber auch fragen, wie es um eine Krankenkasse bestellt sein muss, die schamlos ausnutzt, dass ein lebensbedrohlich Erkrankter vor einer Notfalloperation keinen Wahlleistungsvertrag unterschreiben kann.  Die sich offensichtlich mit Zechprellermethoden am Leben halten muss.

    Die auch mit dem Slogan „Ihr Partner für Leben“ wirbt.

    Was einmal mehr ein Hinweis ist, dass man bei der Partnerwahl nicht vorsichtig genug sein kann.

    Copyright Prof. Dr. Heiner Wenk

     

  • Brustkrebs. Das Wort hängt schon monatelang wie eine giftgelbe Wolke im Haus und dringt in jeden Gedanken ein. Nach gelungener Operation und Chemotherapie war die Bedrohung zwar etwas verdrängt und hat einem leisen Wind der Hoffnung Platz gemacht. Aber die Angst durchfließt jetzt in der Kliniksprechstunde trotzdem wieder alle Poren von Judiths blassgelber Haut und ist wie dicke Luft im Raum zu spüren, während Judith und Arno auf den Befund der neuesten Untersuchung warten.

    Der Professor verdirbt die Stimmung von Judith und Arno mit wenigen Worten: „Leider haben wir mehrere Metastasen in der Leber gefunden. Das ist der Grund für Ihre Gelbsucht. Die Kernspinbilder zeigen, dass wir auch nicht mehr operieren können!“

    Tränen rinnen über Judiths Gesicht, Arno putzt sich verlegen die Nase, wischt wie zufällig über die Augen und streichelt unbeholfen die Schulter seiner Frau. Dann macht er rasch einen Vorschlag: „Da gibt es aber doch Lebertransplantationen. Damit ist meine Frau sicher zu retten! – Sie schaffen das, Herr Professor!“

    Der Professor wiegt langsam seinen Kopf: „Einige Metastasen haben sich auch in der Lunge angesiedelt. Das schließt eine Transplantation aus.“ Er macht eine kurze Pause und lässt den Satz wirken. Dann ergänzt er: „Ich schlage vor, Sie verdauen den Schreck erst einmal. Ich werde den Fall heute Nachmittag in unserer Tumorkonferenz vorstellen. Dann treffen wir uns übermorgen zu einem Gespräch über die Behandlung, die wir Ihnen empfehlen.“

    Die Verabschiedung ist kurz und wortkarg. Rasch verlassen sie den Raum wie auf einer Flucht. Auf dem Flur sinkt Judith in einen Stuhl. Arno setzt sich daneben. Schweigend verharren sie wie gefangen in einem tiefen Loch der Verzweiflung.

    Da sagt Judith fast tonlos: „Ich glaube, wir müssen uns aufs Schlimmste einstellen. Lass uns überlegen, was wir in der Zeit noch tun können, die mir verbleibt!“

    Arno braust auf und beherrscht seine Stimme nur mühsam: „Das kommt überhaupt nicht infrage! Du wirst wieder gesund! Ich weiß das! Ich will dein Gerede vom Sterben nicht mehr hören! Wir werden weiter kämpfen! Du hast doch gehört, dass der Professor dir übermorgen eine Therapie anbietet!“

    Judith schweigt bedrückt und sinkt weiter in sich zusammen. Sie spürt, dass sie Arno ihre Empfindungen und Bedürfnisse nicht vermitteln kann. Dabei braucht sie ihre Kraft, um mit sich und ihren Ängsten zurechtzukommen.

    Arno hat sich nach seinem Ausbruch rasch wieder im Griff und nimmt Judith liebevoll an der Hand: „Es tut mir leid, dass ich so heftig geworden bin. Komm, lass uns nach Hause gehen! Du musst daran glauben, dass du gesund wirst!“

    Judith spricht auf dem Nachhauseweg und beim Abendessen nur wenig. Beide sind in sich abgekapselt, und die unsichtbare Wand scheint zwischen ihnen gedankendicht zu sein. Nach dem Essen sitzen sie wortlos vor dem Fernseher vor einer Politdiskussion, aber beide können nicht zuhören. Nach einer Weile steht Judith auf: „Ich gehe ins Bett, ich bin müde!“

    „Gute Nacht, Judith, schlaf gut!“

    Arno gießt sich noch ein Bier ein.

    In den nächsten Tagen bleibt die Unterhaltung zwischen Judith und Arno oberflächlich, ja auffallend belanglos. Jeden Versuch, über die schlechten Aussichten oder über mögliche Verhaltensweisen, Therapieangebote oder andere Konsequenzen zu sprechen, biegt Arno glatt ab mit dem Versprechen: „Du wirst sehen: Alles wird gut! Dann können wir planen, was wir machen, wenn du gesund bist.“

    „Wenn du meinst!“, sagt Judith und dreht sich um, damit Arno nicht sieht, wie sie mit den Tränen kämpft. Auch die Chemotherapie, die der Professor „als Therapieversuch“ vorschlägt, begrüßt Arno mit Begeisterung und demonstrativer Hoffnung, während Judith zögert mit ihrer Antwort. Arno entscheidet für sie: „Ja, natürlich will meine Frau die Chemotherapie!“

    Judith gibt sich geschlagen, sie ist still und nickt nur. Sie schaut den Professor an. Er versteht sie wortlos und nickt ebenfalls.

    In den nächsten Tagen kommentiert Arno jede einzelne Nebenwirkung der Therapie: „Du siehst, es wirkt! Du wirst gesund! Es wird dir besser gehen nach der Therapie!“

    Arno spielt Tennis mit seinem Freund und freut sich über die Ablenkung. Judith verbringt die Stunden überwiegend zuhause im Bett oder auf dem Sofa. Sie nimmt weiter ab, ist zum Umfallen schwach und völlig appetitlos. Sie versucht, den Haushalt so weit wie irgend möglich aufrecht zu erhalten und macht häufige und immer längere Pausen.

    Arno bleibt trotzdem bei seinem Optimismus und wiederholt bei jeder Gelegenheit: „Du wirst gesund! Ich verspreche es dir! – Lass uns über den Urlaub reden, den wir bald machen! Da kannst du dich von der Therapie erholen. Schau hier, ich habe neue Prospekte mitgebracht!“

    Lustlos blättert Judith in den Heften, legt sie weg, schließt erschöpft die Augen und nickt ein. Arno geht in die Küche und räumt das Geschirr in die Spülmaschine.

    Am Abend nimmt Judith im Bett noch einmal ihren ganzen Mut und alle Kraft zusammen. Sie greift liebevoll nach Arnos Hand: „Arno, wir müssen miteinander reden! Bitte hör mir zu! Ich kann nicht mehr! Ich werde nicht mehr gesund. Ich weiß es! Wir dürfen nicht länger den Kopf in den Sand stecken!“

    Arno wird sofort wütend: „Ich will das nicht mehr hören! Ich brauche dich! Ich liebe dich! Du musst gesund werden! Und jetzt hör auf mit deiner Schwarzseherei! Schlaf gut!“

    Er dreht Judith den Rücken zu und zieht sich die Decke über den Kopf. Judith hört an seinem Atem, dass er ihr vorspielt zu schlafen. Sie liegen lange wach, und das Schweigen baut eine undurchdringliche Mauer ins Bett zwischen sie.

    In den Tagen danach beobachtet Arno mit Sorge, wie Judith immer langsamer wird und nur noch mit seiner Hilfe stehen und wenige Schritte gehen kann. Jedes Wort macht ihr Mühe, und der Juckreiz quält sie sehr.

    Eines Nachmittags liegt Judith auf dem Sofa im Wohnzimmer und schläft. Arno sitzt daneben und schaut ein Tennisturnier im Fernsehen an. Da bemerkt er plötzlich, dass Judiths Atem aufgehört hat. Er schüttelt sie am Arm. Keine Reaktion. Judiths Arm fällt leblos neben ihren Körper. Da springt Arno auf und schreit: „Das kannst du mir nicht antun! Judith, komm zurück!“

    Seine ganze Panik bricht aus ihm heraus, er weint, schluchzt, versucht, Judith wachzurütteln, er wählt 112, brüllt ins Telefon: „Schnell, meine Frau atmet nicht mehr!“

    Aber der Notarzt kann nur bestätigen, was Arno längst weiß und nicht wahrhaben will.

    Als Arno in den Tagen nach der Beerdigung das Schlafzimmer aufräumt, findet er in Judiths Nachttischschublade obenauf einen Brief Für meinen geliebten Arno. Er setzt sich in den Sessel vor Judiths Bett und liest:

     

    Mein Liebster,

    ich kann Deinen Wunsch nicht erfüllen, wieder gesund zu werden, so sehr ich mich danach gesehnt habe. Seit der Diagnose mit den Metastasen in Leber und Lunge weiß ich, dass ich sterben werde. Es tut mir bitter weh, Dich verlassen zu müssen. Ich weiß, Du hast Dir und mir meine Heilung einzureden versucht, um mich zu schonen.

    Aber, Du geliebter Mann, wir sind beide schlechte Schauspieler. Du hast Dir so viel Mühe gegeben, mich aufzumuntern. Und ich wollte heiter und gelassen sein. Stattdessen habe ich resigniert und dadurch mein Schicksal immer mehr angenommen und mich zurückgezogen.

    Ich sehe und spüre Dein Leiden und Deine Verzweiflung, ja, auch Deine Hilflosigkeit. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, und ich hatte keine Kraft mehr, Dich aus Deinem Traum von meiner Genesung zu reißen und Dich mit den Fakten und Konsequenzen zu konfrontieren. Du willst Dich nicht mit meinem Sterben, unserer Trennung und Deiner drohenden Einsamkeit im Gespräch auseinander setzen.

    Nach so vielen herrlichen Jahren mit Dir voll Liebe, Ehrlichkeit und Vertrauen hätte ich unsere Ehe gern gekrönt mit gemeinsamer Arbeit an unserer Angst und Trauer in dieser schwersten Krankheitsphase. Ich habe gehofft, mit Offenheit und Annahme unseres Schicksals meine letzten Lebenswochen -die letzten Wochen unserer Liebe!- zu durchleben. Aber das war uns nicht vergönnt. Wir haben es beide nicht geschafft.

    Hoffentlich kommst Du über meinen Tod hinweg und kannst mit unserer Lebenslüge weiterleben. Bitte nimm professionelle Hilfe an, damit Du die Trauerarbeit gut bewältigen kannst. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen ein glückliches und erfülltes Leben.

    Ich habe keine Kraft mehr und sehne mich jetzt danach, endlich und ewig auszuruhen.

    Ich bin voll Dankbarkeit für Deine Liebe und mein Leben mit Dir.

    Ich werde sterben und immer bei Dir bleiben.

     

    In Liebe,

    Deine Judith.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

     

  • Ignaz Fülöp Semmelweis ist am 1. Juli 1818 in Buda geboren.

    Die Familie stammte aus Szikra/Sieggraben im Burgenland, wo sie als Winzer tätig waren. Der Vater betrieb einen Gewürz- und Kolonialwarenhandel im alten Budaer Stadtteil Tabán, am Fuß der Burg. Sie waren angesehene, wohlsituierte Bürger.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 1

     Bild 1:  Geburtshaus in der heutigen Apród-utca, unten Geschäft, oben Wohnung

     

    Nach zwei Jahren Philosophiestudium  an der Pester Universität geht Ignaz Semmelweis 1837 für ein Jahr zum Jurastudium nach Wien. Dann beginnt er das Studium der Medizin in Wien und Pest. 1844 wird er in Wien mit dem Thema  „Tractatus de vita plantarum“ promoviert. Er absolviert einen Lehrgang in Geburtshilfe und wird Aspirant, ohne reguläre Stelle und ohne Salair, bei Prof. Klein an der Geburtshilflichen Klinik. 1846 ist er provisorischer Assistent bei Klein.

    Unter L. J. Boër als Leiter der Wiener Geburtsklinik hatte die Todesrate der Gebärenden und Wöchnerinnen 0,84% betragen. Die Hebammen übten nur an Phantomen. Semmelweis wird bald klar, dass Boër spontan, unausgesprochen, das Prinzip der Non-Infektion anwandte.

    Nach dessen Amtsenthebung 1822 – als eines Mannes „gegen den Zeitgeist“ – folgt ihm sein am wenigsten begabter Schüler Johann Klein im Amt nach. Infolge der modernen pathologischen Anatomie, die zum vermehrten Üben an Leichen führt, steigt die postpartale Mortalität auf  7,45%.

    1840 wird die Klinik geteilt. In der 1. Abteilung, der Ausbildungsstätte der Studenten (Prof. Klein), wird immer häufiger seziert. Die 2. Abteilung (Dr. Bartsch) bildet Hebammen aus, die seltener sezieren. 1841-1846 sterben in der 1. Abt. 9,92% der jungen Mütter, in der 2. Abt. nur 3,38%. Zu dieser Zeit hält man das Puerperalfieber für eine Epidemie und führt sie auf atmosphärische, kosmische oder tellurische Kräfte zurück.

    Semmelweis sammelt Daten. Er bemerkt, dass in Paris an der Maternité-Klinik, wo nur Hebammen ausgebildet werden, die aber regelmäßig sezieren, die Sterblichkeit ebenso hoch ist wie an der Ärzteklinik, und er beobachtet in Wien, dass Frauen, die zu Hause oder gar auf der Straße entbinden, weniger häufig erkranken als in der Klinik.

    Von 1844-1846 ist Semmelweis zuerst Aspirant, dann Assistent an der von Klein geleiteten Geburtsklinik. Es belastet ihn, dass während dieser Zeit die Zahl der an Kindbettfieber sterbenden Frauen sogar bis auf 15-18%  ansteigt. Schuld daran ist, wie er wenig später mit Entsetzen erkennt, seine eigene forcierte Sektionstätigkeit, die ihn ja eigentlich zu der Ursache dieser verheerenden Sterblichkeit hatte führen sollen.

    1847 erreicht die Mortalität sogar 18,27%. Wie ein Blitzschlag trifft ihn fast gleichzeitig der Tod seines Freundes Kolletschka, Professor der Gerichtsmedizin, der in Folge einer Fingerverletzung während einer Sektionsübung an einer Sepsis stirbt.

    Semmelweis vermutet die Zusammenhänge und schließt als Ursache der Septikaemie auf  zersetzte organische Stoffe, die zum Resorptionsfieber führen.

    Zwei Monate später, im Mai 1847, beginnt er vor jeder Untersuchung einer Gebärenden oder Wöchnerin seine Hände mit Chlorina liquida, später mit Chlorkalk, zu waschen. Zu diesen Waschungen hält er auch alle seine Schüler an. Zwei Augenzeugen, der Engländer Dr. Routh und der Ungar Lajos Markusovszky, berichten darüber. Schon im Juni sinkt die Todesrate der Mütter im Wiener Gebärhaus auf 2,23%. Es ist vor allem die Statistik, mit deren Hilfe Semmelweis der Krankheit beikommt.

    Leider publiziert er seine Erkenntnisse nicht. Zwar hält er 1850 vor der Wiener Gesellschaft der Ärzte drei Vorträge, im Übrigen aber verbreitet sich die Kunde nur durch seine Schüler, seine Korrespondenz und durch die nach Wien kommenden Gastärzte. Der Dermatologe Hebra und der Internist Skoda, der 1849 einen Vortrag über die Semmelweis`sche Entdeckung hält, sind für ihn tätig. Dagegen reagieren die in ihrer Ehre gekränkten Geburtshelfer erbost und beleidigt. Zum Teil führen sie sogar insgeheim die Prophylaxe ein, während sie Semmelweis offen bekämpfen. Man wirft ihm Ungehorsam und Pflichtvergessenheit vor. Unter den positiven Stimmen ist die des Kieler Geburtshelfers G. A. Michaelis. Diesem wird die Erkenntnis seiner eigenen Verantwortung für den Tod so vieler junger Frauen, darunter den seiner Cousine, derart unerträglich, dass er Selbstmord begeht.

    1850 übersiedelt Semmelweis, kaum dass er unter anderem auf Betreiben von Skoda die Ernennung zum Wiener Dozenten erhalten hat, nach Pest.

    Inzwischen besteht die Welt nicht ausschließlich aus Geburtshilfe und ihren tragischen Folgen. In der Revolution von 1848 hat Semmelweis entgegen anderslautenden, auf unsicheren Quellen beruhenden Behauptungen, keine besondere Rolle gespielt. Hätte er sich politisch fortschrittlich engagiert, so wäre ihm von seinen Feinden Klein und Rosas mit Sicherheit ein Strick daraus gedreht worden. Seit Mai 1851 ist er als Primararzt am Pester St.-Rochus-Spital tätig.

     

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 2

     Bild 2: St. Rókus-Kórház

    Das Lehramt der theoretischen und praktischen Geburtshilfe an der Universität von Pest, das ihm nun angetragen wird, ist an die Beherrschung der ungarischen Sprache und an sein nachweislich politisch „günstiges“ Verhalten gebunden. Kaiser Franz Joseph bestätigt 1855 seine Berufung zum Universitätsprofessor.

    Erst 11 Jahre nach seiner epochemachenden Entdeckung, 1858,  erscheint endlich ein Artikel aus der Feder von Semmelweis in der ärztlichen Wochenzeitung/Orvosi Hetilap: „A gyermekágyi láz kóroktana“ (Ätiologie). Dann folgt in deutscher Sprache seine grundlegende Schrift: „Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers“ (Pest, Wien und Leipzig 1861). Im Vorwort heißt es:

    „Vermöge meines Naturells jeder Polemik abgeneigt, Beweis dessen ich auf so zahlreiche Angriffe nicht geantwortet, glaubte ich es der Zeit überlassen zu können, der Wahrheit eine Bahn zu brechen [..]. Zu dieser Abneigung gegen jede Polemik kommt noch hinzu eine mir angeborne Abneigung gegen alles, was schreiben heißt. [..] Ich muss [..] nochmals vor die Öffentlichkeit treten, nachdem sich das Schweigen so schlecht bewährt [..] finde ich Trost in dem Bewusstsein, nur in meiner Überzeugung Gegründetes aufgestellt zu haben“.

    Trotz dieser Berufung auf sein pazifistisches Naturell wird er jetzt selbst polemisch. „Die überaus größte Anzahl von medizinischen Hörsälen wiederhallt noch immer [..] von Philippiken gegen meine Lehre [..] und es ist nicht abzusehen, wann der letzte Dorfchirurg und die letzte Dorfhebamme das letzte Mal infizieren werden.“

    Jetzt sind die Kollegen erst richtig erbost und nicht bereit, dem Befürworter der aseptischen Methode öffentlich zuzustimmen. Eher sollten die Mütter zugrunde gehen, bevor das Ansehen der Professoren beschädigt werde.

    In seinem 1862 „an sämtliche Professoren der Geburtshilfe“ gerichteten Offenen Brief, setzt Semmelweis noch gehörig eins drauf, attackiert seine Kontrahenten namentlich und beschuldigt sie expressis verbis des Mordens.

    Die Resultate seiner Prophylaxe sind durchgehend sehr eindrucksvoll. Seit 1859 liegt die Zahl der an Kindbettfieber Verstorbenen in Pest unter 1%. Bereits 1862 erlässt der Stadthalterrat in Ungarn für sämtliche Munizipalbehörden und die medizinische Fakultät eine Anordnung über die Durchführung der Asepsis nach den von Semmelweis vorgeschlagenen Maßregeln. Dieser findet nun aber auch für seine Anhänger kein gutes Wort mehr und greift 1863 die Ablehner seiner Lehre in fünf Nummern des „Orvosi Hetilap“ heftig an.

    1865 lockt man ihn auf einer Reise, die angeblich zu einem Erholungsaufenthalt weiter nach Gräfenberg führen soll, in die Landesirrenanstalt Wien. Dort endet sein Leben auf Grund einer Sepsis am 13. August 1865.

    Mehr als 100 Jahre später, 1977, erkämpft der in Frankfurt am Main lebende Frauenarzt Dr. Georg Silló-Seidl die Herausgabe der im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien archivierten Krankengeschichte und übergibt sie dem Semmelweis-Museum für Medizingeschichte in Budapest.

    Die Anamnese stammt noch von Prof. Bókai in Pest. Aus ihr geht hervor, dass der vorher geordnet und logisch denkende, allerdings in Sachen Kindbettfieber kompromisslose Mann seit einigen Jahren zeitweise von einer unerklärlichen Schlafsucht befallen sei. In den letzten fünf Wochen bemerke man eine zunehmende Wesensveränderung. Er vernachlässige sein Äußeres, mache obszöne Bemerkungen, sei verschwenderisch, unruhig und kritiklos. Er schwitze, sei unmäßig im Essen und Trinken und unzuverlässig im Hinblick auf seine Pflichten.

    Bei der Aufnahme zeige sich eine von den Pester Chirurgen nicht beschriebene dunkel blaurote Stelle am rechten Mittelfinger. Als Semmelweis die vergitterten Fenster bemerke und am Fortgehen gehindert werde, fange er an zu toben, sodass ihn sechs Wärter kaum  bändigen können. Sie legen ihm eine Zwangsjacke an und bringen ihn in die Dunkelkammer.

    Am nächsten Tag fallen gesteigerte Unruhe, Sprach- und Gangstörung sowie eine hohe Pulsfrequenz auf. Obwohl sich die Rötung und Schwellung des Fingers über den ganzen Handrücken ausgedehnt haben, äußere er keine Schmerzen. Es folgen Gangrän, Osteomyelitis, Sepsis, geistige Verwirrung und schließlich der Tod. Über die Entstehung der Fingerverletzung wird spekuliert. Die Wahrheit wisse niemand.

    István Benedek: [..] “és az akkori brutális ápolási ‚módszerek‘- től szenvedett sérülésből kialakult szeptikus állapot vezetett korai halálához“ [..].

    Bei der Autopsie bestätige sich als Krankheitsursache eine durch Lues bedingte Paralyse. Darüber habe man aus falsch verstandener Diskretion mehr als 100 Jahre geschwiegen. Noch 1978 lehnt Silló-Seidl, der sich so sehr um die Beschaffung der Semmelweis‘ schen Krankengeschichte verdient gemacht hatte, diese Diagnose ab.

    Auch in Ungarn herrscht 25 Jahre lang tiefes Schweigen. Die Familie  magyarisiert 1879 ihren Namen in Szemerényi, was sie nach dem Einsetzen des Semmelweis-Kultes gern rückgängig gemacht hätte. Dies gelang jedoch nur den Nachkommen der Tochter Antonia, die seit 1894 den Doppelnamen Lehhoczky-Semmelweis tragen.

    1882 hatte der Freiburger Geburtshelfer Alfred Hegar eine ebenso sachliche wie positive Darstellung des Lebens und der Lehre von Ignaz Fülöp Semmelweis gegeben. Dem war 1885 eine grundlegende Biographie in ungarischer  Sprache gefolgt.

    1891 werden die sterblichen Überreste des nun endlich berühmt gewordenen Sohnes der Stadt nach Budapest überführt. Mit einem Spendenaufruf  am 22. April 1894, unter dem Titel Anyák mentője, iniziiert Jenő Rákosi, Chefredakteur des „Budapesti Hírlap“, den später weltweit üblichen Ausdruck „Retter der Mütter“.

    1906 wird die von Alajos Stróbl geschaffene Marmorgruppe enthüllt, die Semmelweis zusammen mit einer dankbaren Mutter darstellt. Sie hat heute ihren Platz vor seiner einstigen Wirkungsstätte, dem Rókus-Korház/ St.-Rochus-Spital.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 3  

    Bild 3: Statue von A. Stróbl

    Die Újvilág utca, wo sich die Gebärklinik befunden hatte, heißt jetzt Semmelweis utca. Unter dem Straßennamen trägt ein sprechendes Relief die Inschrift „anyák megmentője“.

     Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 4

     Bild 4:  Semmelweis-utca, „Retter der Mütter“

    Das Jahr 1965 wird, 100 Jahre nach seinem Tod, von der UNESCO zum Semmelweis-Jahr erklärt. In das restaurierte Geburtshaus zieht das Medizinhistorische Museum ein.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 5

     Bild 5: Hof des Museums mit einer Mütter-Statue aus dem fortgeschrittenen 20. Jahrhundert

    Heute spricht man in der angelsächsischen Literatur vom „Semmelweis-Reflex“, wenn  jemand kritiklos eine These oder eine Person ablehnt, die vielleicht nur ihrer Zeit allzu weit voraus ist. Unter der Semmelweis-Doktrin dagegen verstehen wir die Prävention und Non-Infektion durch die Verpflichtung zum Händewaschen mit einem desinfizierenden Mittel, seiner Zeit mit Chlorkalk. Seit 1969 trägt die Budapester Medizinische Universität den Namen von Ignaz Philipp  Semmelweis.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 6

     Bild 6: Statue im Hof der Gynäkologischen Klinik Budapest

     Medizinhistorischer Exkurs:

    Vier Jahre vor Semmelweis‘ Einführung der Prävention, 1843, hatte Oliver Wendell Holmes aus Cambridge/Massachusetts einen Vortrag in der Bostoner Ärztevereinigung gehalten, der in demselben Jahr unter dem Titel „The Contagiousness of Puerperal Fever“ gedruckt wurde. Darin heißt es: „The physician and the disease entered, hand in hand, into the chamber of the unsuspecting patient“ , also: Hand in Hand betraten der Arzt und die Krankheit das Zimmer des ahnungslosen Patienten. Er warnte davor, dass ein Arzt, der sich mit Geburtshilfe beschäftigt, jemals an der Obduktion einer an Kindbettfieber verstorbenen Frau teilnehme. Wenn der Arzt aber eine solche Person seziert oder ein Erysipel behandelt habe, müsse er sich gründlich reinigen, die Kleidung wechseln und dürfe mindestens 24 Stunden lang keine Wöchnerin anfassen. Nach dem Krankheitserreger forschte er nicht.

    Semmelweis sah die Ursache der Krankheit in einem zersetzten organischen Stoff, der zum Resorptionsfieber führe. Seit 1847 forderte er als Prävention die Non-Infektion und die Chlorwaschungen. Er schreibt in seiner „Ätiologie“ (S. 266): „Da es [..] sicherer ist, den Finger nicht zu verunreinigen, als den verunreinigten wieder zu reinigen, so wende ich mich an sämtliche Regierungen mit der Bitte um die Erlassung eines Gesetzes, welches jedem im Gebärhause Beschäftigten [..] verbietet, sich mit Dingen zu beschäftigen, welche geeignet sind, seine Hände mit zersetzten Stoffen zu verunreinigen.“ Damit fordert er eindeutig die Asepsis. Nach dem Krankheitserreger forschte auch er nicht.

    Über die Priorität ist natürlich gestritten worden, doch zeigt sich im Grunde nur, dass diese Erkenntnisse gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts förmlich in der Luft lagen. Dasselbe gilt für die Entdeckung der Krankheitserreger (Keime, Germina, Mikroben, Bazillen).

    Nachdem schon Varro, ein Zeitgenosse Julius Caesars, in seinem Buch zur  Landwirtschaft (1, 12, 2) über die in sumpfigen Gegenden lebenden winzigen Tierchen, die man mit den Augen nicht wahrnehmen kann, die aber schwere Krankheiten verursachen, philosophiert hatte, rissen die zum Teil durchaus erfolgreichen Versuche, Mikroorganismen nachzuweisen, nicht mehr ab. Antoni van Leeuwenhoek gelang 1674 mit einem selbst gebauten Mikroskop der Nachweis von Protozoen und Bakterien. Donné wies 1837 Vibrionen nach, Lucas Schönlein 1839 einen Pilz als Erreger des Favus scutularis. Dann kam Louis Pasteur, 1857, mit der Entdeckung der Milchsäurebakterien. Drei Jahre später gelang es ihm, die Mikroben durch Erhitzen auf 60-90 Grad (das Pasteurisieren!) unschädlich zu machen. Semmelweis dürften die einschlägigen Publikationen bekannt gewesen sein, doch hielt er es mit dem Gießener Chemiker Justus von Liebig, der den Kontakt faulender Stoffe mit gesunden für ausreichend hielt, um Krankheiten zu verursachen, und der die Erklärung des Zerfalls organischer Stoffe durch das Einwirken von Bakterien verspottete. 1863 konnte ein Bazillus als Erreger des Milzbrandes, Anthrax, nachgewiesen werden. All dies ereignete sich noch zu Semmelweis‘ Lebzeiten.

    In seinem Todesjahr, 1865, begann sich in Glasgow Joseph Lister mit dem Problem der Wundinfektion zu beschäftigen. Die Verwendung der Karbolsäure leitete die antiseptische Chirurgie ein. Als Ursache der Infektion betrachtete Lister die von Louis Pasteur so genannten lebenden Krankheitserreger, die Keime. Ebenfalls 1865 erkannte in Gießen der 20-jährige, bei Charkow/Charkiw-Ukraine geborene Ilja Metschnikow die Bedeutung der „Fresszellen“ für die Vernichtung von Krankheitserregern. 1908 erhielt er für seine Phagozytentheorie den Nobelpreis, zusammen mit Paul Ehrlich.

    Robert Koch wurde mit der Kultivierung des Bazillus anthracis 1876 und der Entdeckung des Mycobakterium Tuberculosis 1882 zum Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie.

    Niemals aber ist, wie István Benedek bereits in den 1980er Jahren schrieb, die Semmelweis-Doktrin so aktuell gewesen wie heute, wo sich vor allem in der westlichen Welt die nosokomialen Infektionen beinahe unbegrenzt vermehren.

     

    Epilog:

    Am 05. April 2009 wurde ich durch die Verleihung der Semmelweis-Plakette und mit einer Ehrenurkunde der Internationalen Semmelweisgesellschaft ausgezeichnet.

     Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 7

     Bild 7: Plakette pro arte medicea Hungariae, Künstlerin:  Katalin Gera

    „Ärztliche Ethik kennt keine Kompromisse“ ist das Motto dieser Gesellschaft. Ein Satz aus Semmelweis‘ Offenem Brief an Joseph Spaeth steht damit in direktem Zusammenhang: [..] “ein Jeder, der es wagen wird, gefährliche Irrthümer über das Kindbettfieber zu verbreiten, wird an mir einen rührigen Gegner finden“.

    Doch – ein Wermutstropfen fällt in den edlen Wein. Wer heutzutage die Semmelweis-Grabstätte auf dem Kerepesi-Friedhof in Budapest besuchen will, ist weitgehend auf sich selbst angewiesen, denn die Wärter wissen nichts von dem doch recht monumentalen Sarkophag, ja sogar der Name Semmelweis ist ihnen fremd! Es zeigt sich also auch hier wieder einmal mehr: der Prophet gilt nichts im eigenen Land!

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 8

     Bild 8: Semmelweis-Sarkophag

    Für ihre tatkräftige Unterstützung bei meinen Recherchen danke ich Prof. Dr. Beatrix Farkas, Dr. László Hodinka, Petúr Krasznai MBA, Dr. Péter Szutrély und Gerold Wiese MSc (Budapest, Keszthely, Münzenberg).

     

    Photos: Petúr Krasznai und Waltrud Wamser-Krasznai

    Literatur:

    J. Antall, Der Lebensweg von Ignác Semmelweis, in: Aus der Geschichte der Heilkunde  Suppl. 13-14 (Budapest 1984) 17-29

    I. Benedek, Ignaz PhilippSemmelweis (Wien-Köln-Graz 1983)

    Bericht von Lambrecht, Miklós, in: Nagy Ferenc (Hrsg.), Magyarok.

    A természettudomány és a technika történetében (Budapest 1992) 465-467 und in: Nagy Ferenc (Hrsg.), Magyar Tudóslexikon Á-tól Zs-ig (Better Kiadó 1997) 719-721 (Zweitabdruck)

    Blutiges Handwerk – Klinische Chirurgie. Zur Entwicklung der Chirurgie. Eine Ausstellung des Westfälischen Museumsamtes (Münster 1989/90)

    H. S. Robert Glaser – M. Henze, Metschnikow, Phagozyten und Gießen, Gießener Universitätsblätter 38, 2005, 69-74

    E. Lesky, Ignaz Philipp Semmelweis und die Wiener medizinische Schule (Wien 1964)

    Th. Mildner, De febre puerperale. Eine medizinhistorische Studie um den Hospitalismus im 18. Jahrhundert (Ruhpolding 1962)

    Sh. B. Nuland, Ignaz Semmelweis. Arzt und großer Entdecker (München 2006)

    H. Schipperges, 5000 Jahre Chirurgie (Stuttgart 1967)

    I. Ph. Semmelweis, Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers (Pest, Wien und Leipzig 1861), in: The Sources of Science (New York und London 1966)

    I. Ph. Semmelweis, Offener Brief an sämmtliche Professoren der Geburtshilfe (Ofen 1862)

    István Száva, Ein Arzt besiegt den Tod (Budapest 1968)

    G. Silló-Seidl, Die Wahrheit über Semmelweis. Das Wirken des großen Arzt-Forschers und sein tragischer Tod im Licht neu entdeckter Dokumente (Genf 1978)

     

    Copyright Frau Dr. med. Dr. phil. Waltrud Wamser-KRasznaiD

     

  • (vorgetragen bei der öffentlichen Lesung „Mein bester Text“ am Jahreskongress 2013 in Münster)

    Siegmund Kraft wurde 1945 in Bremen geboren. Sein Vater fiel kurz vor Siegmunds Geburt in einem der letzten Gefechte in Russland. Die Mutter zog den Jungen liebevoll auf und verdiente als Lehrerin den Lebensunterhalt. Siegmund entdeckte früh seine Liebe zum Langlauf und lief ein Jahr vor dem Abitur den ersten Marathon. Auch dadurch lernte er, mit Disziplin schwierige Momente zu bewältigen und gegen innere Widerstände bis zum selbst gesetzten Ziel auszuhalten. Seine Mutter erzog ihn im ehrenden Gedanken an den Vater, der ihr immer wie starker Baum erschienen war, an dem sie sich anlehnen konnte. Sie wollte aus Siegmund auch einen solch kräftigen und durchsetzungstarken Mann machen, und Siegmund nahm diese Prägung früh auf.

    Den ersten schweren Schicksalsschlag musste Siegmund verarbeiten, als seine Mutter während seines Jurastudiums verstarb. Dies brachte Siegmund dazu, noch härter zu arbeiten. Er beendete sein Studium in kürzest möglicher Zeit als Jahrgangsbester, und seine Doktorarbeit wurde summa cum laude bewertet. Eine wesentliche Hilfe für seinen Erfolg war sein fotografisches Gedächtnis, wodurch er regelmäßig Mandanten und Kollegen mit langen wortgetreuen Zitaten und Quellenangaben verblüffte.

    Nach der Gründung einer Anwaltskanzlei in Bremen heiratete er seine Jugendfreundin Helen, die mit ihm Abitur gemacht hatte, anschließend Schulmusik studierte und Lehrerin in einem bremischen Gymnasium wurde. Sie kauften eine Jugendstilvilla im besten Wohnviertel, die er mit Helens stilsicherer Hilfe renovieren ließ und innerhalb weniger Jahre vom Erlös mehrerer großer Prozesse bezahlte. Er war als Wirtschaftsanwalt bald weit über die bremischen Grenzen hinaus gefragt. Als der Sohn Felix geboren wurde, strahlten Helen und Siegmund als elegantes Paar das Bild der perfekten Familie aus.

    Siegmunds Sekretärin Frau Harmsen organisierte den Arbeitsablauf in der Kanzlei ebenso perfekt wie Helen die Familie und den Haushalt. Siegmund arbeitete nach seinem morgendlichen 10-km-Lauf in der Kanzlei oder bei Gericht. Der Nachmittag und Abend waren dem Aktenstudium und Prozessvorbereitungen gewidmet. Den Samstag nutzte Siegmund als normalen Arbeitstag. Am Sonntagvormittag absolvierte Siegmund einen längeren Lauf, der manchmal über die Marathondistanz ging. Die Nachmittage verbrachte er mit Helen und Felix.

    Felix war ein guter Schüler und sportlich wie der Vater. Als Felix zwölf Jahre alt war, wurde er an einem Spätnachmittag auf dem Gehweg von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und so schwer verletzt, dass er noch auf dem Weg in die Klinik starb. Siegmund reagierte nach einer kurzen Schockphase äußerlich routiniert, setzte aber seine Wut, Trauer und Verbitterung ein, um den Autofahrer in dem Prozess als gewissenlosen alkoholkranken Fahrer darzustellen. Er trug mit einem juristisch brillanten und emotionalen Plädoyer als Nebenkläger dazu bei, dass der Fahrer für die fahrlässige Tötung in Tateinheit mit Trunkenheit am Steuer zur Höchststrafe von sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, da er schon ein längeres Vorstrafenregister hatte. Damit verschaffte sich Siegmund eine gewisse Genugtuung, und die weiter schwelende Trauer betäubte er mit noch mehr Arbeit. Sein Lauftraining behielt er strikt bei und zwang sich, am Wochenende noch 28 km zu laufen und dabei die letzten drei Kilometer im Renntempo zurückzulegen. Er war erfahren genug, seine Kondition nicht mit einem Übertraining zu verderben oder gar eine Verletzung zu riskieren.

    Helen dagegen vergrub sich fast den ganzen Tag im Schlafzimmer und vernachlässigte sich und ihre häuslichen Aufgaben. Auch eine zuerst ambulante und später stationäre Psychotherapie, die Siegmund veranlasst hatte, gelang nur vorübergehend. Das beste Ergebnis der Therapie war aber nur eine funktionierende Frau, die mit ruhiggestellter Mimik und scheinbar gleichgültigem Gemüt die Hausarbeit erledigte. Ein halbes Jahr nach Felix´ Tod fand Siegmund Helen abends totenstarr im Bett. Neben ihr lagen zwei leere Röhrchen Schlaftabletten und eine leere Flasche Rotwein. Der Brief auf dem Nachttisch war kurz: „Liebster, es tut mir leid, ich kann nicht mehr! Ich muss zu Felix. Ich liebe dich. Helen.“

    Siegmund brach am Bett weinend zusammen und rief erst nach einer halben Stunde den Hausarzt und bat ihn, den Totenschein auszustellen. Frau Harmsen half Siegmund, eine würdige Trauerfeier zu organisieren. Siegmund arbeitete verbittert in seiner Kanzlei, hielt die Fassade eines in sich ruhenden Anwalts aufrecht und kam spät nachts in das kalte Haus, wo er nur kurz schlief. Morgens war er früh auf der Laufstrecke unterwegs und anschließend bei der Arbeit. Er vermied private Kontakte, und Frau Harmsen sah ihn nicht mehr lachen. Sie besorgte für ihn aus einem kleinen Restaurant nebenan Essen und machte ihm in der Kanzlei Frühstück. Die immer frischen Blumen auf seinem Schreibtisch nahm er nicht wahr. So vergingen zwei Jahre.

    Eines Tags nahm Siegmunds bester Freund und Kollege ihn zwischen zwei Gerichtsterminen auf die Seite und sagte: „Siegmund, ich sehe, wie du nach außen hin diese Schicksalsschläge wegsteckst. Du wirkst für viele Bekannte wie eine große Eiche, die bei jedem Tornado steht. Aber ich weiß, wie sehr dich der Verlust von Felix und Helen immer noch plagt. Hast du nicht Lust, am Samstagabend bei uns zu essen? Erika hat ein paar Freunde eingeladen, die du auch kennst.“ Siegmund antwortete nach kurzer Bedenkzeit: „Ja, gut, ich komme!“

    Zu diesem Abendessen kam auch Sofia, Helens beste Freundin, die vor zwei Jahren ihren Mann verloren hatte. Siegmund und Sofia hatten in den letzten Jahren kaum Kontakt gehabt, weil Sofia während Helens schwerer Depression mit dem Sterben ihres Manns belastet war und seither sehr zurückgezogen lebte.

    Sofia und Siegmund unterhielten sich angeregt, sodass der Abend für beide erholsam und entspannend war. Siegmund nahm Sofias Einladung zu einem Spaziergang am nächsten Sonntag an. In den folgenden Monaten kamen sich Sofia und Siegmund immer näher. Siegmund konnte sich aus seiner seelischen Erstarrung und verbissenen Arbeit in Sofias Gegenwart lösen und freute sich auf die Treffen. Sofia war glücklich, aus ihrer Isolation herauszukommen. Die Beziehung zwischen Siegmund und Sofia wurde innig und vertraut. Nach einem Jahr heirateten sie.

    Sofia gab der Villa mit einigen ihrer Möbelstücke und Bildern eine persönliche Note. Ihre Liebe zum Garten war für jeden Besucher an den herrlichen Blüten, Büschen, Beeten und dem prächtigen Blumenschmuck im Haus sichtbar. Sofia begleitete Siegmund bei seinem morgendlichen Lauftraining und reduzierte es langsam. Dafür machten sie am Wochenende lange Wanderungen. Siegmund genoss das Leben im Haus wieder und freute sich besonders an den gemütlichen Abenden mit Sofia. So lebten sie fünf Jahre harmonisch und dankbar miteinander.

    Da die Kanzlei sehr gut lief und Siegmund mehr Zeit für sich und Sofia haben wollte, nahm er Eric Knudsen als Juniorpartner in die Kanzlei auf, der sich rasch einarbeitete und für Siegmund eine wertvolle Hilfe darstellte.

    Die Katastrophe schlich sich unerbittlich ein. Zuerst fiel Sofia auf, dass Siegmund sich an einem Sonntagmorgen nicht erinnerte, mit ihr eine Wanderung in der Lüneburger Heide vereinbart zu haben. Auch Frau Harmsen bemerkte, dass er seinen Füllfederhalter oft verlegte, der sonst immer am gleichen Platz lag. Besonders verblüfft war sie, als Siegmund bei einer Verhandlung in seiner Kanzlei aufstand, eine Tür öffnete und mit der Bemerkung „Das war die falsche Tür!“ wieder schloss und durch die andere Tür zur Toilette ging. Die Vergesslichkeiten und alltäglichen Fehler bei banalen Handlungen häuften sich. Die Krankheit schritt mit zerstörerischer Wucht voran.

    Er blieb oft mitten im Satz stecken, verlor den Faden und verwendete Wörter, die nicht in den Zusammenhang passten. In der Gerichtsverhandlung meldete er sich mehrfach zu Wort, stand auf und – wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Seine schriftlichen Notizen, die er Frau Harmsen nach den Verhandlungen zur Bearbeitung vorlegte, wurden fahriger und enthielt immer mehr Ungenauigkeiten. Er gab immer mehr Gegenständen die Bezeichnung „das Ding da“. Diese Sprachunsicherheit und die Abflachung des Wortschatzes fielen umso dramatischer auf, weil Siegmund als hervorragender Redner mit druckreifer Sprache und unfehlbarem Gedächtnis bekannt war. Anfänglich tat er diese „Kleinigkeiten“ als Folge seiner Überarbeitung ab. Die Zeichen wurden aber häufiger und schwerwiegender. Er verlor sogar einen Prozess, weil ihm im richtigen Moment sein bewusst vorbereitetes und entscheidendes Argument nicht einfiel.

    Frau Harmsen bereitete mit Eric Knudsen viele Arbeiten so vor, dass Siegmund nur noch unterschreiben musste. Sofia sorgte dafür, dass Siegmund krankgeschrieben wurde. Der Hausarzt verschrieb Medikamente zur Förderung der Hirndurchblutung und äußerte Sofia gegenüber den Verdacht auf eine rasch fortschreitende Demenz.

    Als Siegmund eine Kreuzung bei roter Ampel überfuhr und von der Polizei gestoppt wurde, stand er wie ein kleiner schuldbewusster Junge da und ließ sich von dem Polizisten zurechtweisen.

    Sofia ließ Siegmund nicht mehr Auto fahren und bat ihn mehrfach, die Kanzlei zu verkaufen. Erst als der Vorsitzende der Anwaltskammer ihm eindringlich die möglichen Folgen von Schadensersatzklagen aufgrund von falschen Beratungen schilderte, gab Siegmund nach. Eric Knudsen übernahm Siegmunds Anteil an der Kanzlei. Sofia nahm keine gesellschaftlichen Verpflichtungen mehr an.

    Zuhause füllte Siegmund das Kaffeepulver in den Wasserbehälter und stopfte den Kaffeefilter in die Kanne. Im Bad putzte er sich mit dem Kamm die Zähne und kämmte sich mit der Zahnbrüste. Er verirrte sich sogar nachts in seinem eigenen Haus und rief Sofia, die ihn ins Bett zurück brachte. Beim Essen versuchte er, mit der Gabel zu schneiden. Als er mit dem Messer die Suppe löffeln wollte und nicht mehr wusste, wohin die Suppe geführt werden musste, ging Sofia dazu über, Siegmund zu füttern.

    Bei einer neurologischen Untersuchung zeigte Siegmund eine schwere Störung beim Benennen von Gegenständen und beim Rechnen im Zehnerbereich. Als er eine Uhr mit Zeigern zeichnen oder ein Quadrat und ein Dreieck nachmalen sollte, saß er ratlos mit zitterndem Stift vor dem Blatt und krakelte nur zusammenhanglose Striche aufs Blatt. Der Arzt bat ihn, möglichst rasch viele Gegenstände aufzuzählen, was man in einem Supermarkt kaufen könne. Siegmund dachte lange nach, schließlich fielen ihm Kartoffeln ein, mehr nicht. Die Untersuchungen und die Vorgeschichte sicherten die Diagnose Rasch fortschreitende Alzheimer-Demenz. Siegmund konnte dem einfühlsamen Gespräch des Arztes nicht folgen. Als Sofia und Siegmund die Klinik verließen, fragte er: „Was hat er gesagt? Bin ich krank?“

    Siegmunds geistige Fähigkeiten und das alltägliche Verhalten verschlechterten sich auch unter gesteigerter Medikamentendosis rapid. Die Tabletten wurden deshalb wieder abgesetzt. Sofia betreute Siegmund rund um die Uhr. Sie musste ihm auch auf der Toilette beim An- und Ausziehen und bei der Reinigung helfen.

    Eines Morgens wollte er sich im Schlafzimmer anziehen und wurde wütend, als sie ihm helfen wollte. „Das kann ich allein!“, brauste er auf, „geh ins Wohnzimmer!“ Also beobachtete sie ihn durch den offenen Türschlitz und kämpfte mit den Tränen, als sie sah, wie lange er brauchte, um das Hemd so hinzuhalten, dass er es anziehen konnte. Als er nach einer langen Weile erschöpft ins Wohnzimmer kam, hatte er das Unterhemd auf das Hemd angezogen, die Knopfreihe falsch geknöpft, und das Hemd hing teilweise aus der Hose. Einen Socken hatte er vergessen, und die Schuhbändel waren nicht gebunden. So kam jeden Tag ein neues Vergessen dazu, der Wortschatz wurde kleiner, die Sprache lückenhaft.

    Im Sommer stand Siegmund einmal lange im Garten vor den blühenden Rosen. Sofia fragte: „Woran denkst du?“ Nach einigem Überlegen fragte er: „Ist heute Dienstag oder Dezember?“

    In einem unbeobachteten Moment verließ Siegmund bei strömendem Regen auf Socken das Haus, nur mit Hemd und Hose bekleidet. Sofia rannte sofort los, als sie die offene Haustür sah und fand ihn durchnässt an einer Bushaltestelle. Sie gewöhnte sich deshalb an, die Haustür abzuschließen.

    Eines Nachts wachte Sofia auf, das Bett neben ihr war leer. Sie fand Siegmund innen vor der Haustür stehen. Er war nackt. Sie fragte: „Was machst du hier?“ – „Warte auf den Bus, muss zur Arbeit!“

    Am nächsten Tag sah Sofia, wie Siegmund im Arbeitszimmer mit heruntergelassener Hose auf dem Papierkorb saß. Sofia stieß einen entsetzten Schrei aus. Siegmund fragte ruhig: „Warum schreist du, Mama? Bin auf der Toilette!“ – Sofia hatte er vergessen.

    Sofia sah ein, dass sie Siegmund nicht mehr zu Hause pflegen konnte. Das überstieg ihre Kräfte. Sie brachte ihn in einem Pflegeheim in der Nähe unter und besuchte ihn täglich. Siegmund nahm die Ortsveränderung nicht wahr. Jeder Besuch Sofias war ein neues Erlebnis für ihn, aber es tat ihr weh, jeden Tag zu hören: „Schön, Mama, dass Du endlich kommst!“

    Sie blieb eines Abends wie immer an seinem Bett sitzen und wartete darauf, dass er einschlief. Da atmete er leise ein und aus und ein und aus. – –

    Die Eiche war gefällt.

     

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • Wenn es so wäre,
    dass nach meinem Tode
    nichts mehr weiteres kommt
    und nach dem Tode der Erde
    keine Weiterentwicklung mehr ist,
    wenn es so wäre,
    dass eine geistige Welt
    nur im Kopfe der Künstler lebt,
    selbst, wenn es so wäre …

    Die Trauer um das verlorene Kind,
    die Sorge um hilfloses Leben
    die Liebe zum Du
    und zu anderen Leben
    Sie wären der Boden,
    aus dem eine neue Welt
    erwächst
    und Leben geboren wird,
    wo nichts ist.

    Deine Liebe
    lässt Wüsten bewässern
    und erloschene Sterne
    wieder im Lichte erstrahlen.

    Für Gaby

    Copyright Dr. Helga Thomas

  •  

    Ich bin die Trauer, fühle mich sehr krank,
    denn jede Hoffnung, Lebensmut mir sank.
    Der Glaube fror, verlassen hat er mich;
    Einst war er stark und reich, ja, königlich.
    Ich spür, mein Herz nicht mehr im Rhythmus schlägt,
    ob es schon lahm, für sich ein End erwägt?
    Die Wolken greifen tief, der Regen fällt;
    und mein Gemüt ist grau und ist gequält.
    Mein Haus ist leer, die darin warn sind fort,
    und Glanz und Gold, die gingen überbord.
    Mein Magen, auch, verweigert jede Speis;
    verschnürt bin ich, von Freiheit ich nichts weiß.
    Ich bin die Trauer, kenne Liebe nicht;
    Ich wandere durch Gassen, wo kein Licht.
    Ich werd vertreiben oft, werd angezünd´t,
    verlacht, mit Tropfen, die da giftig sind.
    Ich bin die Trauer, trag ein schwarz Gewand,
    werd eingeladen nie, bin ortsbekannt.
     

    Copyright Dr. Renate Myketiuk

  • Einsamkeit

     

    Ich sprech zur Wand, doch die bleibt stumm, sie schweigt;
    versteht mich nicht, ist mir nicht zugeneigt.
    Oh, Graun, die Einsamkeit ein enges Haus,
    ob ich jemals aus dir werd kommen raus?
    Voll Sonnenschein, da flimmert sie, die Luft;
    jedoch, mein Herz lebt tief in eis’ger Gruft.
    Wenn einer sagt, so horch, ein Vogel singt,
    ach, meiner Seel wie Totensang es klingt.
    Warum nur geht vorbei an mir der Tod?
    Sieht er und spürt und fühlt nicht meine Not?
    Ach, Tod, kannst du denn Freund sein, der auch liebt?
    Der aus der Gruft mich holt und Wärme gibt?
    Wer hat erschaffen nur die Einsamkeit?
    Ist sie geboren denn vor aller Zeit?
     

     

    Copyright Dr. Renate Mykteniuk

  • Engelchen sprach zu Engelchen:
    Wir fliegen in die Höh.
    Wenn ich nach unten seh,
    sehe ich die Erde rund und schön,
    sehe Menschen froh spazieren gehen.

    Sehe Kamele dort im Wüstensand,
    Sehe Affen hier am Dschungelrand.
    Sehe blaue Meere, Wälder grün:
    Warum müssen wir zum Himmel ziehn? 

    Engelchen nahm vom Engelchen
    Das Händchen in die Hand:
    Die Städte dort, das böse Land
    Dort leben Menschen, die im frommen
    Mordgewand zum Himmel  kommen.

    Erkoren waren sie zu Leben,
    Sie können Hass und Tod nur geben.
    Egal ob Kind, ob Frau, ob Greis,
    egal ob braun, ob gelb, ob weiß,

    egal  ob böse oder gut,
    sie töten stets in blinder Wut
    und denken dort am Himmelsthron,
    sind Engelchen ihr Mörderlohn.

    Engelchen schrak vor Engelchen:
    Im Himmel werden wir sie sehen?
    Vor unserer Tür werden sie dort stehen?
    Ins Paradies müssen wir sie lassen?
    Und die dort lieben, die so hassen?

    Das tut mir weh, das tut so weh.
    Doch komm, ich hab da die Idee:
    Wir drehen um jetzt auf der Stelle
    Fliegen schnell zur bösen Hölle

    Richten dort ein Zimmer ein
    Für alle guten Engelein.
    Der Teufel kommt ins Paradies
    Mit seinen Hexen, die gewiss

    Die frommen Mörder treulos quälen
    Und ihnen Lust und Liebe stehlen.
    Gott hört die Engelchen Idee
    Holt sich den Teufel  in die Höh
    Und übergibt ihm feierlich
    Zum Paradies den Dieterich.

    Verschworen nur die Engel wissen,
    wie fromme Mörder büßen müssen:
    Die Engelchen im Himmelreich
    Tun es allen Hexen gleich,

    Schrubbern fromme Mörder  glatt,
    Bis diese ausgepresst und platt
    Sich nur noch nach der  Hölle winden
    Um im Fegefeuer Lust zu finden.

     

    Copyright Prof. Dr. Dr. Klaus Kayser

     

  •  

    Es war schwarz und es war sein Sonntagskleid.
    Die Klinge war geschliffen und war scharf.
    Die Augen lagen tief und sie waren bereit
    Zu töten bei Befehl und Bedarf.

    Oh Allaf, die Wüste kennt
    Nur Sand, keine Rosen, kein Herz!
    Oh Allaf, die Seele brennt
    Und tötet den ehrvollen Schmerz!

    Sie war schön und war jung und war achtzehn Jahr.
    Ihr Kleid war so kurz und so bunt.
    Locker und wild war ihr nachtschwarzes Haar
    Und kirschrot der lockende Mund.

    Oh Allaf, die Wüste kennt
    Nur Sand, keine Rosen, kein Herz!
    Oh Allaf, die Seele brennt
    Und tötet den ehrvollen Schmerz!

    Er war stark und war blond und stampfte das Bein.
    Er tanzte die Brust mit funkelndem Schwung.
    Sein Blick fiel auf sie und sie fiel auf ihn rein.
    Sie war ja so schön und er war ja so jung.

    Sie tanzten das Leben und das Leben war gut.
    Die Nacht war so mild und voll auch der Mond.
    Er hat sie geküsst und auf ihr geruht
    Und tief in ihrem Herzen gewohnt.

    Der Bruder, der Kurde, er sah was er sah.
    Die Familie, die Ehre geopfert der Lust.
    Der Vater befahl was mit ihr geschah.
    Der Bruder, das Messer fand die liebende Brust.

    Er hielt sie in den Armen und sterbend sie sah
    Die Tränen, sein Sonntagskleid voller Blut.
    Vater, mein Vater, befahl was geschah.
    Mein Bruder, mein Bruder, du warst mir so gut.

    Oh Allaf, die Wüste kennt
    Nur Sand, keine Rosen, kein Herz!
    Oh Allaf, die Seele brennt
    Und tötet den ehrvollen Schmerz!

     

    Copyright Prof. Dr. Dr. Klaus Kayser