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War es das wirklich wert? Musste das wirklich sein? (Gerhard Langenberger)

 

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Thilo griff nach dem schwarzen Handy, das zweite von links, und klickte die Nummer an. Thilo Altstädt hatte eine Reihe von drei unterschiedlichen Handys, die entsprechend unterschiedliche Farben hatten und akkurat in einer Reihe lagen. Mit dem schwarzen Handy führte er mehr inoffizielle Gespräche. Jedenfalls war dieses Handy nicht auf seinen Namen angemeldet.

„Thilo hier! Entschuldige, ich konnte vorhin nicht sprechen. Was hast du für mich?“

Thilo hörte aufmerksam zu.

„Das große Grundstück neben dem Alten Kloster auf dem Klosterrücken?“

Wieder sprach sein Gesprächspartner.

„Der Erbe wohnt in Montreal?“

Thilo hatte sich in seinem Sessel aufgesetzt. Das war ein Zeichen höchster Aufmerksamkeit. Sein Blick ging irgendwohin durch die Wände seines Büros. Im Inneren seines Kopfes sah er den Bergrücken mit dem herrlichen Panoramablick über den Verlauf der Fulda und des gegenüber liegenden Uferstreifens. Sofort hatte er die Möglichkeiten, die solch ein Grundstück bot, erkannt.

„Gut, und du glaubst, wir bekommen das durch den Bauausschuss und den Stadtrat? Das ist Naturschutzgebiet.“

Nach einigen intensiven Mmmms sagte er abschließend, „lass mir die Daten auf dem üblichen Weg zukommen. Seh ich dich heute Abend bei der Versammlung?“

Jetzt hatte sein Interesse an dem Gespräch deutlich nachgelassen.

„Schön, dann bis heute Abend. Ich werde später kommen, aber ich werde kommen. Grüß Claudia. Tschau.“

Thilo drückte die Gesprächsendetaste und legte das Handy wieder an seinen Platz in der Reihe, ganz links außen.

Thilo Altstädt war Bauunternehmer und Investor im Immobiliengeschäft und jederzeit an neuen Projekten interessiert.

 

 

 

„Eins, zwei, drei“, zählte Kurt. Kurz vor Drei gab es einen kurzen, trockenen Knall, der kaum von der Waldfront widerhallte. Der Rabe auf dem First des Schuppens neben dem alten Haus war verschwunden. Er war nicht weggeflogen, sondern weg gerissen, zerrissen. Nur ein paar schwarze Federn flogen umher und sanken tanzend zu Boden.

„Guter Schuss“, sagte Kurt, „das sind fast 800 Meter.“

„Jetzt du!“

Bernharda hob ihr Gewehr von der Verandabrüstung und stellte es zur Seite.

Kurt ergriff sein Gewehr und legte es auf. Sie warteten, bis ein weiterer Rabe auf das Dach geflogen kam und den First entlang hüpfte.

„Eins, zwei, drei“, zählte Bernharda, und sie zählte nicht langsam.

Wieder gab es diesen trocken, nicht sehr lauten Knall. Auch dieser Rabe würde keine Nachkommen mehr haben.

„Auch ganz gut“, lobte Bernharda.

Beide gingen zum gedeckten Frühstückstisch. Kurt drehte am Deckel der Thermoskanne und schenkte Kaffee ein.

„Danke.“

Kurt neigte zur Erwiderung des Dankes den Kopf.

Bernharda griff ein Brötchen und schnitt es mit dem Brotmesser auf. Sie reichte Kurt die Unterseite.

„Danke.“

Diesmal neigte Bernharda ihren Kopf, und beide lachten. Dies war ein altes Frühstücksritual, über das sie sich selbst gern amüsierten.

Schweigend aßen sie ihre Brötchenhälften.

„Hast du auch bemerkt, dass Molly lahmt. Nicht stark, aber ich glaubte, es zu bemerken?“ fragte Kurt.

Kurt und Bernharda wohnten außerhalb des Ortes in einem alten Bauernhaus mit riesigem Grundstück, Feldern, die waren verpachtet, Wiesen und einem größeren Stück Wald. Beide waren leidenschaftliche Jäger, außerdem ritten sie für ihr Leben gern und hatten auch zwei Pferde im alten Stall stehen.

„Ja, das habe auch ich bemerkt“, antwortete Bernharda.

„Ich war mir nicht sicher. Letzten Donnerstag ist sie nach einem Sprung hart aufgekommen und hat sich den linken Vorderlauf gestaucht.“

Da Bernharda das Lahmen bestätigt hatte, war sich Kurt auch sicher.

„Soll der Arzt kommen?“, fragte Bernharda.

„Nein, das ist sicher nicht notwendig. Wir lassen Molly ein paar Tage auf der Koppel, dann wird das wieder gut sein. Wenn nicht, ist dann immer noch Zeit, Dr. Rauber zu rufen.“

„Wenn nicht, haben wir eine Woche verloren.“ Bernharda ließ nicht locker.

„Bernharda? Diesen Ton kenne ich doch. Du hast schon beim Doktor angerufen, und er kommt heute Mittag. Stimmt´s?“

„Kurt, meiner Liebster, wie gut du mich doch kennst“, lachte sie.

 

Bernharda und Kurt liebten einander innig und fest. Beide hatten großen Respekt vor der Persönlichkeit des anderen; was sie nicht davon abhielt, sich häufiger gegenseitig auf den Arm zu nehmen.

Bernharda blickte zum dem alten, windschiefen Haus hinunter, das fast einen Kilometer unterhalb ihres Hause lag. Früher einmal gehörte das alte Haus zum Gehöft und wurde als Altenteil genutzt. Nachdem Frau Fuhrmann ins Pflegeheim gekommen war, stand es leer und verkam noch mehr. Etliche Raben zankten sich kreischend auf dem Dach und vollführten einen unvorstellbares Gezeter.

„Was soll nun aus dem alten Haus von Frau Fuhrmann werden? Sie ist jetzt schon über ein Jahr tot“, fragte Bernharda. Ihr Blick war vom Lärm der Krähen angezogen.

„Ich weiß es auch nicht“, antwortete Kurt, „es war mal im Gespräch, dass ihr Sohn es als Ferienhaus für seine Familie ausbaut. Ich habe aber schon lange nichts mehr darüber gehört. Außerdem wohnt Herr Fuhrmann schon seit Jahrzehnten in Kanada. Dort hat man bezüglich Landschaft und Ferienhäuser ganz andere Möglichkeiten. Und einfach so fliegt man ja auch nicht mal über den Teich.“

Hoffentlich wird es nicht verkauft, und der neue Besitzer reißt es ab und baut ein großes Hotel dorthin“, fuhr Bernharda nachdenklich fort.

„Hier ist Landschaftsschutzgebiet und deshalb ist eine bauliche Veränderung unmöglich. Der Vergrößerung unseres Stalles wurde deswegen auch nicht stattgegeben werden.“

Kurt war sich sicher.

„Hoffentlich hast du recht“, zweifelte Bernharda.

„Ja, hoffentlich.“

Kurt griff nach einem weiteren Brötchen und halbierte es. Auch er blickte zweifelnd. Offenbar war er sich seiner bestimmten Aussagen auch nicht so ganz sicher. Er wechselte das Thema.

„Wahrscheinlich hast du mit Dr. Rauber recht. Wir lassen Molly und Lisa zusammen auf die Südkoppel. Das wird den beiden sicher gefallen und warten ab, was Dr. Rauber sagt.“

Nachdem sie noch eine kleine Weile am Frühstückstisch gesessen hatten und ihre zweite Tasse Kaffee geleert hatten, sagte Bernharda: „Los! Noch eine Runde!“

Mit dem Kopfe zeigte sie auf die Krachmacher auf dem Dach der alten Kate.

„Eins, zwei, drei“, zählte Kurt, diesmal noch schneller.

Bernharda hatte sich Gewehr auf der Brüstung aufgelegt. Sie blickte durch das Zielfernrohr. Gleichzeitig suchte sie den Druckpunkt des Abzuges. Ihr Zeigefinger nahm den Druck auf. Ihr Körper spannte sich, und sie hielt den Atem an. Es ertönte ein kurzer, fast unterdrückter Knall. Die Federn der Elster stoben auf und schwebten langsam zur Erde. Von der Elster war nicht mehr zu sehen.

„Gut?“, fragte Bernharda und blickte Kurt triumphierend an, „genau zwischen die Augen.“

„Guter Schuss, zweifelsohne. Du hast die Elster einfach in Fetzen zerlegt. Ob zwischen die Augen? Ich weiß nicht recht? Ich glaube, der Treffer lag dafür etwas zu weit rechts.“

Kurt lachte, konnte aber seine Bewunderung nicht verbergen.

 

In diesem Augenblick trat Benny auf die Terrasse. Hinter ihm und neben ihm kam Daimler freundlich wedelnd mit auf die Terrasse. Daimler kannte Benny gut, und da Benny Hunde mochte, obwohl er Post austrug, mochte ihn auch Daimler.

Bernd Lüderweiß war Postbote in Holdenheim. Er war so etwas wie die örtliche Nachrichtenzentrale des Ortes. Fast alle Nachrichten und Gerüchte liefen über Benny. Sollte eine Nachricht unter die Leute gebracht werden, so musste man die Nachricht nur Benny -natürlich unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit- anvertrauen, und man konnte sicher sein, dass jeder sie erfuhr.

Mit großen Augen blickte er auf das Gewehr in Bernharda´s Hand. Bernharda sagte, „Hallo Benny. Guten Morgen“, dann drehte sie sich um und verschwand im Haus. Beiläufig hat sie noch die Waffe Kurts, die an der Wand lehnte, mitgenommen. Benny war überall zu Hause. Er legte einen kleinen Stapel Brief, schön der Größe nach geordnet, die großen ganz zu unten, auf den Tisch und setzte sich zu Kurt. Daimler legte sich zu seinen Füßen, damit er einige Streicheleinheiten abbekam.

„Dürft ihr denn ein Gewehr haben? Ich dachte, das sei verboten“, fragte er in seiner direkten Art.

„Natürlich dürfen wir. Wir haben die dafür notwendige Waffenbesitzkarte. Wir sind Jäger, und für unsere Jagd drüben brauchen wir Gewehre.“

Kurt erklärte diesen Tatbestand in aller Ruhe und gelassen. Bis zwölf Uhr wusste jeder im Ort, dass die Unkers mit Gewehren auf Vögel ballerten.

„Dürft ihr auch auf Vögel schießen?“

Das hier war jetzt sehr interessant, und das wollte er genau wissen. Wissen macht interessant, und Benny wollte immer im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stehen, und wenn er Neuigkeiten zu berichten hatte, dann hörten ihm die Leute endlich einmal zu.

„Als Jäger vielleicht schon, aber so eigentlich nicht. Aber die Elstern räubern häufig die Singvögelnester, und die Raben vermehren sich unkontrolliert.“

Kurt seufzte. Das waren höchst fadenscheinige Argumente. Er wusste das, und er wusste, dass es auch Benny wusste, und damit auch die ganze Stadt.

Aber was soll`s?, fragte er sich.

Eigentlich ging es ja niemanden an, dachte er, wider besseres Wissen, denn die Leute ging immer alles an, auch wenn es sie nichts anging.

Bernharda kehrte zurück. Sie hatte Ihre vorher zu einem Pferdeschwanz gebändigten Haare geöffnet und trug jetzt eine langärmelige Bluse und Halstuch dazu. Sie trug in der Öffentlichkeit ausschließlich ein Halstuch, ihre Haare offen und langärmelige Blusen. Die lange Nummer, die in ihren rechten Unterarm eintätowiert war sollte niemand zu Gesicht bekommen. Vielleicht war es weibliche Eitelkeit, oder sie wollte einfach die heimlichen, starren Blicke der Leute darauf vermeiden. Kurt dagegen, der eine ähnliche Tätowierung auf seinem rechten Unterarm trug, 1525 AD 0879, kümmerte sich um die neugierigen und fragenden Blicke nicht. Irgendwann wurde er von einer neugierigen Seele danach gefragt, „Schmuck“, hatte er geantwortet. Dann hatte er laut gelacht und sich dabei nach links und rechts umschauend vorgebeugt.

„Frau Seidel, das war meine Kenn-Nummer, als ich im Konzentrationslager eingesperrt war“, flüsterte er verschwörerisch. Frau Seidel wusste bis heute nicht, was jetzt ernst gemeint war. Sie hatte sich entschlossen, nicht darüber zu sprechen.

Bernharda stellte zwei Gläser und eine Flasche Apfelbrand auf den Tisch. Sie wusste, dass Benny gern ein Gläschen trank, auch zwei oder drei, abends häufiger auch viele.

„Benny, schau mal! Siehst du den großen Baum schräg gegenüber oberhalb des Rains?

Benny bejahte die Frage, obwohl er nicht sicher war, ob der Baum, den er meinte auch der Baum war den Bernharda meinte.

„Dieser Baum gebar die Äpfel, die zu dieser Labsal veredelt wurden“, sagte sie, nicht ohne Stolz.

„Wir sammeln jedes Jahr die Äpfel und bringen sie zur Brennerei. Dort werden sie nach unseren Wünschen in flüssiges Gold verwandelt.“

Sie füllte die beiden Gläser, ihres halb und Bennys randvoll.

„Zum Wohlsein, Benny“, sagte sie leicht erhobener Stimme. Auch Benny hob sein Glas mit drei Fingern.

Routiniert, mit einer zackigen Bewegung schüttete er die Flüssigkeit über die Zunge.

„Mmmhh, guut“, japste er nach Luft schnappend.

Kurt trank niemals Alkohol. Er amüsierte sich, wie Benny nach Atem rang. Bernharda dagegen schien Wasser oder ein ähnlich mildes Getränk getrunken zu haben.

„Ah“, gab Benny ein Geräusch des Wohlbehagens von sich. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte seine Beine, „das hier ist wie im Paradies.“

Fasziniert wanderte sein Blick immer wieder auf den verkrüppelten Narbenrest, der einmal eine rechte Ohrmuschel war. Sie fehlte jeweils bei Bernharda und bei Kurt. Die Verletzung bei Bernharda war besser verheilt. Das heißt, bei ihr war die gesamte Ohrmuschel abgetrennt, während bei Kurt verkrüppelte und vernarbte Reste übrig waren. Bernharda versuchte die Blicke fern zu halten, indem sie ihr üppiges, lockiges Haar offen trug.

„Habt ihr keine Angst, so allein und einsam zu wohnen?“ fragte Benny. Dabei schob er auffällig sein Glas in Richtung der Flasche hin.

Bernhard schenkte sofort sein Glas voll.

„Nein, warum auch?“, fragte sie zurück.

„Wir würden uns zu verteidigen wissen“, fuhr sie fort. Ein Lächeln umspielte ihren Mund. Dabei wurde nicht klar, ob sie über den Gedanken angegriffen zu werden lächelte oder ob sie lächelte, weil Benny leicht blau anlief.

„Sagen Sie, Benny, Sie sind immer gut unterrichtet. Was wird mit dem alten Haus dort unten?“

Kurt zeigte auf das alte Gebäude unterhalb.

Sofort setzte sich Benny auf und nahm aufrechte Haltung an. Er griff nach dem Stapel Brief, den er auf den Tisch gelegt hatte und zog einen Brief heraus.

„Vom Bauamt“, sagte er wichtig, „da steht alles drin.“

Sein Ton verriet, dass er genau wusste, was in dem Brief stand.

Mit gespielt gespannten Gesicht sah er zu, wie Kurt den Brief öffnete und las.

Kurts und Bernhardas Blicke trafen sich.

„Dort unten sollen drei Apartmenthäuser, mit jeweils acht  Wohneinheiten und Tiefgarage gebaut werden. Wir werden davon in Kenntnis gesetzt und können Einsicht in die Pläne nehmen und werden um Stellungnahme gebeten.“

Benny hatte geduldig gewartet.

„Das werden Luxusapartments. Bei der Lage und der Aussicht gehen die weg wie warme Semmeln und zu jedem Preis“, erklärte er.

„Aber das hier ist doch Landschaftsschutzgebiet“, sagte Kurt, langsam seine Fassungslosigkeit überwindend. Er konnte nur mit Mühe seine Wut unterdrücken.

„Als wir damals den Stall vergrößern wollten, durften wir das aus eben diesen Gründen nicht.“

„Der Stadtrat hat eine Ausnahmegenehmigung des Paragraphen 18 des Landespflegegesetzes erteilt. Das hat Thilo Altstädt beantragt, nachdem er dem Erben das Grundstück abgekauft hatte. Man munkelt von zwei Millionen Euro“.

Benny war jetzt ganz in seinem Element. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, ohne den Blick von seinem leeren Glas zu wenden. Als Bernharda nicht darauf einging, schob er sein Glas zu ihr hin.

„Nein, Benny, zwei reichen! Sie müssen noch fahren“, sagte Bernharda energisch. Sie räumte Flasche und Gläser in die Kühe.

„Was werden Sie tun, Herr Unker?“, fragte er gerade heraus.

„Wir werden die Pläne einsehen und mit Herrn Brandl vom Baurechtsamt sprechen“, antwortete Kurt nachdenklich.

„Und was noch?“, Benny war wirklich neugierig.

„Nichts weiter! Zunächst jedenfalls.“

Kurt schaute auf das alte Haus und auf den Dachfirst, von dem sie noch vor wenigen Minuten die Raben geschossen hatten. Sie werden sich dann wohl ein anderes Ziel suchen müssen, wenn es überhaupt noch möglich ist zu schießen.

Als Benny merkte, dass es keine weiteren Neuigkeiten zu erhaschen gab, erhob er sich, seine Runde fortzusetzen. Daimler begleitete ihn zu seinem Auto. Es warteten noch mehr Leute auf ihre Briefe und natürlich auf Bennys Geschichten, zum Beispiel über die Schießkünste von Bernharda und Kurt Unker.

„Und?“, fragte Bernharda, als Benny mit seinem Postauto davon fuhr.

Kurt las noch einmal das amtliche Schreiben.

„Wir gehen auf das Bauamt und sprechen dort vor.“

 

„Dort, auf der anderen Straßenseite ist ein Parkplatz“, rief Kurt und zeigte auf die leere Parkbucht. Bernharda zog den Rover mit quietschenden Reifen über die andere Fahrbahn in den Parkplatz. Auf das wütende Hupen des geschnittenen Audis antwortete sie mit einem Lächeln und einem Luftkuss. Der andere Fahrer reagierte mit einem unflätigen Fluch. Richtig wütend wurde er, als Kurt und Bernharda noch vor ihm über die Straße rannten, nachdem der den abgewürgten Motor gerade wieder in Gang gebracht hatte. Hinter ihm hupte jetzt ein weiterer Wagen, was den Fahrer des roten Audis noch wütender machte und er seinen Wagen noch einmal abwürgte. Nichts geht mehr an die Ehre eines deutschen Autofahrers, als wenn er seinen Motor beim Anfahren abwürgt. Aber zweimal hintereinander und dann noch Hupen der Fahrerin des hinteren Autos sind zu viel. Er schrie seine neben ihm sitzende Frau an und fuhr mit durchdrehenden, quietschenden Reifen davon.

Herr Brandl stand sofort auf, als Bernharda und Kurt in sein Zimmer traten. Er bat sie, Platz zu nehmen. Nach einigen freundlichen einleitenden Worten sprach er lang und ausführlich. Er erklärte die Pläne und den Ablauf der Genehmigung. Die Dimensionen der Häuser waren wuchtiger als von Kurt befürchtet. Kurt meldete deswegen Bedenken an.

Herr Brandl schüttelte mit dem Kopf.

„Die Zustimmung im Bauausschuss und im Stadtrat sind rechtmäßig zustande gekommen. Die übergeordnete Behörde hat ebenfalls zugestimmt. Ich fürchte, da ist nichts zu machen. Natürlich können sie Rechtsmittel dagegen einlegen. Aber das ist ohne Aussicht. Die Rechtssicherheit ist bereits geprüft.“

Mit beruhigenden, beschwichtigenden Worten geleitete er Herr und Frau Unker zur Tür und schloss sie hinter ihnen.

 

„Sie waren gerade bei mir“, sagte Klaus Brandl in sein Handy.

Sobald er Tür geschlossen hatte, war er zu seinem Schreibtisch geeilt und hatte seinen Freund Thilo Altstädt angerufen.

„Sie werden natürlich Widerspruch einlegen, aber mach dir keine Sorgen, es ist alles rechtmäßig gelaufen. Und“, fügte er hinzu, „der Widerspruch geht über meinen Schreibtisch.

„Ich mache mir keine Sorgen. Es war deine Aufgabe, das Projekt zum Laufen zu bringen. Vergiss nicht, ich habe ein kleines Apartment in Göttingen. Dein Sohn Robert will doch dort studieren, soviel ich weiß?“

Thilo Altstädt sprach ruhig und geschäftsmäßig.

„Freunde müssen zusammen halten, nicht wahr, mein Freund.“

Dabei betonte er das Wort Freund besonderer Art und unmissverständlicher Weise.

„Natürlich“, beeilte sich Klaus Brandl zu versichern.

 

Nach dem Telefonat mit Brandl ging Thilo Altstädt zur Tür.

„Herr Fichter? Haben sie einen Moment Zeit?“

Nach mehreren unschönen Episoden mit seinen Sekretärinnen, die glaubten, ihre Position durch den Einsatz erotischer Köder verbessern zu können und einem höchst peinlichen Zwischenfall mit seiner letzten Sekretärin, die nach Feierabend splitternackt auf seinem Schreibtisch lag und die er ebenso splitternackt aus seinem Büro geworfen hatte, genau in dem Moment, in dem die Putzkolonne vorbei kam, hatte er sich für einen Sekretär entschieden.

Herr Fichter hatte sich auf Anhieb als Glücksfall herausgestellt. Als Mann hatte er ähnliche Denkmuster, er wusste sofort auf welche Details Thilo Wert legte. Herr Fichter genoss das vollste Vertrauen seines Chefs. Thilo war sich durchaus bewusst, dass es unter Männern zu Konkurrenzsituationen kommen kann. Aber die Hierarchie im Betrieb war eindeutig und unantastbar. Sie wurde auch genauso respektiert. Ansonsten achteten sie einander. Privat wusste Thilo von Herrn Fichter nur, dass er geschieden war und zwei Kinder hatte, die er abgöttisch liebte, und dass er mit einer Partnerin zusammen lebte. Mehr interessierte ihn auch nicht. Mehr wurde auch nicht mitgeteilt. Beide hassten diese kumpelhaften Männergespräche.

„Herr Fichter! Prüfen sie bitte, wann der nächste Mietvertrag eines unserer Apartments in Göttingen ausläuft und kündigen sie fristgerecht. In der Sache Fuldablick rufen sie Herrn Reitmaier an, und bitten sie ihn, ein weiteres Gebäude zum Wald hin zu planen und als Bauvorhabenänderung dem Bauamt in Holdenheim zur Genehmigung vorzulegen.“

„In Ordnung, Herr Altstädt“.

Thilo wusste, das läuft.

 

Vor Jahren, als Thilo in erster Linie Sohn aus wohlhabendem Haus war, genoss er bei der Damenwelt höchstes Wohlwollen und Aufmerksamkeit. Dabei war ihm alles Denkbare, was zwischen Mann und Frau zum beidseitigen und manchmal einseitigen Genuss beiträgt, angeboten, und er hatte fast alle dieser Angebote angenommen und ausgelebt. Auf dem Gebiet des zwischengeschlechtlichen, erotischen Austauschs war ihm nichts fremd, und ihn konnte ihn nichts mehr überraschen. Er genoss dieses Leben, wie sein Vater ihm immer wieder vorwarf, das Lotterleben in vollen Zügen, bis, ja bis er Michelle begegnete. Thilo liebte Paris, und er liebte es am frühen Abend durch die einzelnen Quartiere zu schlendern und sich einfach treiben zu lassen. Häufig wurde ihm zugenickt, und stets grüßte er zurück. Manchmal sprach er ein paar Worte mit den Menschen dort. Einmal, es war August, und Paris war voller Touristen, schlenderte er im Boraugh Butte Montmarte. Dies ist ein Viertel, das vorwiegend von Farbigen und Zuzüglern bewohnt wird.

Als er durch die Rue Paul Albert schlenderte, begegnete ihm eine groß gewachsene Dunkelhäutige. Wie angewurzelt blieb er stehen und drehte sich um. Es war nicht seine Art, sich nach Frauen umzudrehen und ihnen hinterher zu gaffen. Schon gar nicht ihnen hinterher zu gehen. Diesmal tat er es. Nach wenigen Metern blieb die Frau stehen und drehte sich ebenfalls um. Ihre Blicke trafen sich. Thilo ging einfach auf sie zu. Berührungsängste kannte er nicht. Er fragte sich freundlich, ob sie ihn nicht auf den Sacre Coeur begleiten wolle. Ihre großen, weißen Augen wurden noch größer. Bis heute ist Thilo der Meinung, dass sie gegen ihren eigentlichen Willen nickte. Jedenfalls gingen sie zusammen die unendlichen Treppen zur Basilika hinauf.

Oben angekommen setzten sie sich auf eine der Stufen, zwischen die vielen anderen Menschen, die dort schon saßen. Von hier hat man einen herrlichen Blick über die Dächer von Paris. Es dämmerte, und es wurde Nacht. Jetzt war Paris eine unglaubliche Lichterarena. Es wurde später und später. Die Lichter der Stadt wurden weniger, die Menschen auf den Treppen verliefen sich, Paris ging schlafen. Irgendwann saßen nur noch zwei Menschen auf der Treppe ziemlich weit oben. Ob die beiden etwas von dem Blick über Paris und der Veränderung des Anblick im Laufe der Nacht mitbekommen haben, können sie nicht mehr sagen. Als es wieder heller wurde, so gegen halb vier Uhr, saßen sie noch immer dicht nebeneinander und redeten und sprachen und erzählten. Bevor die Sonne aufging, standen sich auf und verabschiedeten sich. Jeder hatte zu Hause noch etwas zu erledigen. Genau eine Woche später wollten sie sich hier auf der Treppe wieder treffen.

 

Eine Woche später stieg Thilo aufgeregt zum Treffpunkt empor. Er war gute zwei Stunden zu früh, aber als er oben ankam, saß Michelle schon da und wartete. Ohne Worte setzte er sich rechts neben sie. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest, und hat sie bis heute nicht mehr los gelassen.

Seither war Thilo der glücklichste Mensch. Nur die Sorge um seine Familie drückte ihn ab und zu schmerzlich.

Durch seine Familie ist Konstanz in sein Leben getreten. Nach der verantwortlichen Übernahme des Baugeschäfts hatte sich viele geändert. Einerseits war der familiäre Charakter des Unternehmens, es gab Mitarbeiter, die in dritter Generation hier arbeiteten, geblieben, und Thilo legte größten Wert darauf, dass es so blieb. Er hatte für die Nöte, Sorgen und Probleme, auch privater Natur, seiner Mitarbeiter immer ein offenes Ohr und versuchte zu helfen, wenn es in seiner Macht lag. Andererseits bediente sich Thilo sehr zum Unwillen seines Vaters moderner Geschäftsmethoden, die die Wirtschaft in Deutschland schlagkräftig und erfolgreich gemacht hatten: Korruption, Bestechung, nur in Deutschland sind Bestechungsgelder steuerlich absetzbar, Hand-in-Hand-Geschäfte, Erpressung, Bedrohung hinlänglich und ließ nichts aus, wenn es seinem geschäftlichen Vorteil diente. Irgendwie fühlte er sich wie ein Patriarch einer großen Familie, für die er verantwortlich war und für die er etwas tat und von der er viel für sich erwartete.

Er kannte zwei Damen, eine aus Kassel und eine aus Frankfurt, deren Dienste sich einige der Holdenheimer Honoratioren oder Beamte gern und regelmäßig bedienten, obwohl sie Frau und Kinder hatten, die von diesen Vorlieben nichts wussten. Das blieb unter Männern, genau wie Entscheidungsfindungen in den entsprechenden Gremien und im Stadtrat zu Gunsten von Thilo oder der Altstädter Baugilde.

Selbstverständlich war Thilo Mitglied in diversen Vereinen, die er auch häufig finanziell unterstützte, und natürlich in der freiwilligen Feuerwehr, der heiligen, aber wichtigsten Instanz einer Stadt. Kurzum Thilo Altstädt war ein gern gesehener, beliebter Mann der Gemeinde.

Würde man ihn dagegen fragen, ob er an die große Liebe glaube, so hätte er ohne nachzudenken laut und deutlich mit Ja geantwortet. Genauso wie er auf die Frage nach der Liebe auf den ersten Blick geantwortet hätte. Er hätte ein riesiges Zustimmungsgebrüll veranstaltet.

 

Natürlich hatten Unkers Widerspruch gegen den Baubescheid eingelegt, fristgerecht am letzten Tag. Einen Tag später schon brachte Benny die Antwort, überraschend schnell für eine deutsche Behörde.

Bernharda war bei den Pferden und Daimler mit ihr, und so musste Benny mit Kurt vorlieb nehmen, der ihn an den Tisch bat und ihm einen Kaffee anbot. Benny hatte auf Höherprozentiges gehofft.

„Heute nur ein Brief“, sagte er, „sicher die Ablehnung Ihres Widerspruchs“.

Benny war gut informiert.

Kurt legte den Brief zur Seite. Er überlegte es sich aber und öffnete ihn.

Wohlformuliert und unter Berücksichtigung und Würdigung aller Aspekte wurde der Widerspruch abgelehnt.

Benny schaute immer wieder durch das Fenster zu den Pferden. Aber Bernharda, die er in Wirklichkeit auf dem Weg zum Haus hoffte, konnte er nicht erblicken.

„Werden Sie wegen der Ablehnung zu einem Anwalt gehen? Manchmal lohnt es sich schon. Bei Familie Willem hat das Gericht eine Ablehnung gekippt. Die durften danach ihre Videothek erweitern, obwohl der Anbau abgelehnt worden war.“

Benny war im Sammeln von Informationen und im Herausleiern derselben ein Profi.

Kurt hab nichts sagend die Hände und Schultern, „Mal sehen.“

Nach einer kurzen schweigsamen Minute fragte er Benny: „Nicht doch einen Kaffee? Die Kanne ist noch halb voll.“

Wieder blickte Benny durch das Fenster zur Pferdekoppel. Bernharda´s Brand war allemal besser als ein Kaffee.

Langsam sagte er, „Nein, lieber nicht. Ich habe schon Kaffee getrunken. Der Magen, wissen sie. Er verträgt kein zu viel an Kaffee.“

Benny schindete Zeit. Langsam sah er ein, dass er heute keinen Schnaps bekommen würde.

„Ich muss jetzt wieder gehen und mich beeilen.“

Im Hinausgehen meinte er entschuldigend, „Ich habe heute eine große Runde.“

Kurt setzte sich an den Tisch. Er las das amtliche Schreiben erneut. Er wusste genau den Inhalt oder besser die Aussage. Entschlossen stand er vom Tisch auf und ging zum Kühlschrank, ein riesiges, rotes Monstrum von Bosch. Die Tür des Kühlschrankes diente zusätzlich als Pinboard. Kurt hob einen Magneten, zog den Zettel weg und ließ den Magneten mit einem lauten Klacken zurück fliegen. Er hob das Telefon und wählte die Nummer, die auf dem Zettel vermerkt war.

„Unker hier! Guten Tag. Ich brauche einen Termin für eine Rechtsauskunft. Ihre Sozietät ist uns empfohlen worden. Bitte verbinden sie mich mit Dr. Ziegelroth. Unker ist mein Name.“

Kurt wartete geduldig, bis sich Dr. Ziegelroth meldete.

„Herr Dr. Ziegelroth, ich rufe Sie auf Grund eine Empfehlung an und möchte Sie um eine Rechtsauskunft über ein genehmigtes Bauvorhaben im Landschaftsschutzgebiet bitten. Ich brauch nur die Auskunft. Es wird kein Folgemandat geben.“

Kurt sprach bestimmt.

Dr. Ziegelroth schien empört und konstatiert.

Unbeeindruckt fuhr Kurt fort, „Berechnen sie uns den Höchstsatz. Abgemacht?“

Das war weniger eine Frage.

„Gut“, sagte der Anwalt jetzt.

Herr Dr. Ziegelroth hatte sich wieder beruhigt.

„Schicken Sie mir die entsprechende Vereinbarung.“

Kurt schien solche Situationen zu kennen.

„Mit der unterschriebenen Vereinbarung erhalten Sie auch die entsprechenden Unterlagen.“

Sie sprachen noch kurz über den Fall, dann sagte Kurt: „Ich denke, dass Sie die Unterlagen in 14 Tagen prüfen können. Der Angelegenheit ist sicher nicht sehr kompliziert.“

Herr Ziegelroth sprach noch einige Minuten, und Kurt hörte geduldig zu.

„Gut, dann nennen Sie mir gleich einen Termin.“

Wieder übte sich Kurt in Geduld. Dr. Ziegelroth musste schließlich noch in seinen Terminkalender sehen und bei seiner Sekretärin nachfragen.

„Mittwoch, also heute in 14 Tagen um 9 Uhr.“

„Ja, das passt mir“, antwortete Kurt und beendete das Gespräch.

Nach Beendigung des Telefonats holte er die Unterlagen. Zusätzlich schrieb er eine kleine Stellungnahme und machte die Unterlagen fertig. Wenn die Vereinbarung eintraf, sollte alles fertig sein. Kurt hatte mit einer Ablehnung des Widerspruchs gerechnet. Aber nicht so schnell, ja überschnell. Da hatte es jemand sehr eilig und hatte die Ablehnung schon vorbereitet, sie musste nur noch zur Post.

 

Pünktlich stiegen Bernharda und Kurt den hellen Absatz zum Portal des gläsernen Geschäftshauses hinauf. Zum Glas war viel Chrom und Marmor verbaut. Die Mieter mussten großen Wert auf Äußerlichkeit legen, die ausgezeichnete Geschäfte, gute Verdienste und vor allem Kompetenz suggerieren. Ein Glasaufzug an der Außenseite des Gebäudes geklebt, brachte sie in den fünfzehnten Stock.

Die Sekretärin oder besser das Model zum Empfang der Klienten begrüßte sie freundlich, fast wie Bekannte. Sie war offensichtlich gut geschult. Es war wie so häufig im Leben: man sollte nicht von der Äußerlichkeit auf die Intelligenz schließen. Die Dame war blond, naturblond, schien ihrer Aufgabe durchaus gewachsen. Wie sich später herausstellte, war sie die Sekretärin im engeren Sinn, also die Vertrauensperson, die alles im Griff und den Überblick hatte und die nicht hoch genug dotiert sein kann, wenn man das Glück hat, eine solche eine Person zu beschäftigen. Dr. Ziegelroth war noch nicht anwesend. Die Blonde, Frau Huber, fragte nach den Namen. Dann erhob sie sich von ihrem Nussbaumschreibtisch und führte Bernharda und Kurt in einen kleinen, heimeligen Warteraum, mit traumhaftem Blick über die Stadt. Kurt warf einen wohlwollenden Blick auf die blonde Frau, die vor ihnen her ging. Zum ersten Mal sah er eine Frau in einem mittelblauen Hosenanzug, der elegant und perfekt kleidete und nicht aussah wie eine mehrfach gebrauchte Empfangsuniform, die bei den Besuchern regelmäßig Übelkeit erzeugte.

Frau Huber fragte natürlich nach, ob Kaffee, Tee oder Wasser und dazu vielleicht ein Croissant gewünscht würde. Sie fragte auch nach, ob sie schon Vorbereitungen für die Gespräch erledigen könne.

Jetzt öffnete Herr Dr. Ziegelroth die Tür zu seinem Zimmer. Er musste über einen separaten Eingang die Kanzlei betreten haben. Herr Dr. Ziegelroth war ein schlanker, groß gewachsener Mann in den Enddreißigern. Die blonden Haare streng geschnitten, mit einer längeren Strähne, die ihm immer wieder ins Gesicht fiel. Der hellgraue Anzug aus englischen Tuch, wahrscheinlich auch in London, Oxford Street, maßgeschneidert, ließ ihn wie einen englischen Sportsman aussehen: Eine Vertrauensperson und eine Respektsperson. Einen Schlips oder eine sogenannte Krawatte trug Herr Ziegelroth nicht, solche einen Schlaffphallus hatte er nicht notwendig.

Als er zuerst Bernhard begrüßte, blickte er ihr lange in die Augen. Es war kein Anmaßen, es war ein prüfender, freundlicher Blick, eine Einschätzung. Der Mann glaubte an seine Menschenkenntnis. Für Kurt hatte er ebenfalls einen längeren Händedruck, verbunden mit diesem Prüfblick, nur der Druck war deutlich fester. Ein Männerhändedruck. Nach ein paar einleitenden Worten, wie die Fahrt gewesen sei und ob sie das Haus gleich gefunden hätten, bat er sie in sein Zimmer. Frau Huber schloss hinter ihnen die Tür, von draußen. Nachdem sich jeder gesetzt hatte, blickte er erneut auf seine Klienten, diesmal war der Blick ein anderer. Es war ein Blick, der auf seine Ausführungen hinleiten sollte. Dieser Mann beherrschte die nonverbale Kommunikation. Diesen Menschen mochte man vor Gericht nicht zum Gegner haben. Die eigenen Interessen zu vertreten, war er der richtige Mann.

Leise sprechend begann er.

„Ich will nicht viel herum reden. Der Beschluss ist rechtskräftig und auch rechtmäßig zustande gekommen. Einen Formfehler konnte ich auch nicht finden. Die Sache ist höchst sonderbar und ungewöhnlich. Aber, wie bereits gesagt, unantastbar. Ich habe den Eindruck, sie war bestens eingefädelt. Da griff ein Rädchen in das andere. Das wurde so nicht zum ersten Mal gemacht. Das war richtig professionell durchgeführt. Ich sehe keine Möglichkeit, die Bebauung zu verhindern. Verzögern vielleicht, aber dafür zahlen Sie einen hohen Preis.“

Wieder schaute er von Bernharda zu Kurt und zurück. Diesmal war sein Blick mitleidsvoll, fast entschuldigend. Er wäre sicher gern zu einem anderen Ergebnis gekommen.

Er stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum, Kurt und Bernharda zu verabschieden. Es sollte nicht unnötig seine Zeit beansprucht werden. Während er sie zur Tür begleitete, Blondinchen öffnete ihnen die Tür zum Treppenhaus, sagte er abschließend: „Wenn sie keine Eigentumsansprüche geltend machen können“, er ließ den Satz offen stehen.

Kurt blieb stocksteif stehen. Abrupt drehte er sich um, strahlend ergriff er die Hand des verdutzt dreinschauenden Anwalts und schüttelte sie kräftig.

„Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass Sie der Richtige sind. Danke, Sie haben uns sehr geholfen“.

Herr Dr. Ziegelroth verstand nicht ein Wort. Verständnislos schüttelte er den blonden Schopf, hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Nun gut, was soll´s, dachte er und ging zurück.

Kurt legte seinen Arm um Bernhardas Schultern und schob sie zum Glasaufzug hin.

„Die Südwestspitze! Verstehst du?“ fragte er.

„Natürlich, die Spitze zum Alten Kloster hin gehört uns.“

Bernhard hatte sofort begriffen.

 

Auf der Straße trennten sie sich. Jeder wollte in Frankfurt etwas bummeln. Für zwölf Uhr hatten sie sich in der Brasseri ici verabredet. Dort, das war die unumstößliche Meinung Bernhardas, gab es das authentischste französische Essen in ganz Deutschland.

 

Knapp acht Wochen später zog eine Karawane von Baufahrzeugen über die Bergkuppe entlang des Grundstücks und entlang der Friedhofsmauer vom Alten Kloster.

Als Kurt den Tross bemerkte, zog er sich schnell an und fuhr mit dem Rover quer über die Wiese hinunter zum Alten Kloster. Hier an dieser Stelle lief das Grundstück spitz aus. Gegenüber, entlang des Weges lief die Friedhofsmauer und ging in einem ebenso spitzen Winkel in die Kirchenruine des Klosters über. Jetzt, nachdem das Kloster über einhundertfünfzig Jahre aufgegeben war, standen nur noch die Außenmauern. Alles war eine Ruine, aber eine Ruine, die unter Denkmalschutz stand. Selbst ein normaler Pkw hatte Mühe, um diese Spitze herum zu kurven. In den letzten Jahren ist deshalb jeder quer über die Eck des Unkerschen Grundstücks gefahren, und es hatte sich dort im Laufe der Zeit eine Fahrrinne gebildet, die jeder benutzte, wenn er zum alten Haus wollte wie Benny in den letzten Jahren regelmäßig und der Pflegedienst Heiland, zweimal täglich.

Das alte Haus sollte jetzt zu Gunsten von Luxusappartements mit Blick über die Fulda und weit ins Tal hinein fallen.

Kurt fuhr genau in diesen Spitz. Er zog sein Regencape über und setzte sich auf die nasse Motorhaube. Der Regen goss Wassermassen über die Landschaft und hatte alles aufgeweicht.

Das erste Baufahrzeug hielt direkt am Range Rover vor der Kurve. Der Rest der Fahrzeuge stockte ebenfalls. Tobias Czuszius, ein grobschlächtiger Kerl, stieg fluchend aus seinem Laster.

„Hey“, rief er, „was soll das. Mach den Weg frei!“

Dabei stapfte er auf Kurt zu.

„Los! Aus dem Weg, sonst helfe ich nach, und es gib was auf die Mütze“.

Drohend stand er vor Kurt.

Kurt blieb ruhig und machte keine Anstalten auf zustehen und den Weg frei zu geben.

„Hey Mann, verpiss dich“, dabei hob Tobias drohend die Faust. Er hob sie, als würde er häufiger damit seine Argumente bekräftigen. Er war für seine Schlagkräftigkeit bekannt und gefürchtet.

Langsam und umständlich stieg Kurt von seinem Wagen.

„Dies ist hier unser Grundstück. Sehen sie den Holzpflock dort“, er zeigte auf einen rot angemalten Holzpflock, der ganz an der Spitze des Grundstück eingeschlagen war, „genau bis dorthin geht das Grundstück. Ohne meine Erlaubnis fährt hier niemand darüber.“

Tobias` Blick folgte dem zeigenden Finger. Jetzt bemerkte er den Pflock und wurde unsicher.

„Wirklich?“, fragte er hilflos.

Er war ein guter Arbeiter, aber Denken war nicht seine Stärke.

„Wirklich, mein Junge“, antwortete Kurt ruhig.

Tobias wurde durch die respektlose Anrede wütend, aber er war der Situation nicht gewachsen. Einen Fluch ausstoßend ging er zum Fahrerhaus zurück und wählte mit dem Handy die Nummer seines Chefs. Er erklärte kurz die Situation und fragte, was zu tun sei.

„Habe ich das richtig verstanden? Er sagt, das sei sein Grundstück an der Ecke? Das ist gelogen. Ich war häufiger auf dem Grundstück. Die Straße verläuft dort entlang und macht eine Kurve um die Ecke, die schon immer so benutzt wurde. Reden Sie noch einmal mit ihm“, antwortete Thilo.

Tobias stieg wieder aus seinem Fahrerhaus in den Regen. Im Morast rutsche er fast aus. Wieder ein Grund für einen kräftigen Fluch. Das Handy hielt er in der linken Hand.

„Mein Chef, Herr Altstädt, den kennen Sie sicher, sagt Sie sollen endlich den Weg frei machen, oder er ruft die Polizei.“

Tobias hatte bei der Erwähnung des Namens seines Chefs wieder an Selbstsicherheit gewonnen.

„Nein“, antwortete Kurt ruhig und bestimmt.

„Jetzt machen Sie den Weg frei, es hat doch keinen Sinn. Mit einem einzigen Schlag ist Ruhe im Karton. Also!“

Tobias kam drohend näher und hob seine geballte Faust.

Kurt ging ebenfalls einen Schritt auf Tobias zu. Ziemlich durchnässt standen sich die Männer gegenüber. Einer vor schlecht beherrschter Wut zitternd, der andere kalt und ruhig. Beiden maßen einander. Ganz langsam zog Kurt seine rechte Hand unter dem Regenponcho hervor. Ungläubigkeit und Angst zeichneten das Gesicht von Tobias. Normalerweise ließ sich Tobias von einem Messer nicht beeindrucken, schon gar nicht von so einem kleinen Messer. Trotzdem ging er angstvoll Schritt für Schritt zurück. Es war nicht das kleine Messer, das im Angst einjagte, es war dieser ruhig und gelassen wirkende Mann, der, obwohl fast einen Kopf kleiner, ihm weit überlegen schien, und wie er das kleine Messer in seiner Hand hielt und wie es auf seine Niere zeigte. Insgesamt war das kleine, gemeine und hinterhältig aussehende Messer, mit der leicht gebogenen, doppelseitig geschliffenen Spitze, eine fürchterliche Waffe, glaubte er. Beim letzten Schritt rutsche er aus und saß mit dem Popo im Matsch. Seine Augen weiteten sich, und blasse Angst ergriff ihn. Kam jetzt der Angriff? Langsam kam Kurt näher. Auf allen Vieren krabbelte Tobias zurück. Er rappelte sich auf und sprang in sein Führerhaus.

„Er gibt nicht nach und hat mich mit einem Messer bedroht. Chef, was soll ich tun?“

„Sind Sie ein Mann oder was? Schieben Sie ihn mit ihrem Laster zur Seite! Das ist ein Befehl, Menschenskind.“ Thilo war am Telefon immer lauter geworden.

„Ich versuch´s Chef“, stammelte Tobias.

Nach wenigen Minuten klingelte das Telefon erneut.“

„Was zum Teufel ist jetzt wieder los“, schrie Thilo ins Telefon.

„Der Mann hat die Reifen aufgeschlitzt.“

„Was hat der gemacht?“ schrie Thilo ungläubig.

„Er hat beide Vorderreifen seitlich aufgeschlitzt“, wieder holte Tobias.

„Scheiße, Scheiße“, brüllte Thilo.

„Chef, was soll ich machen? Die anderen stehen nur herum und tun nichts.“

„Nichts, tun Sie nichts. Verdammt noch mal. Ich komme sofort“.

Thilo rannte sofort los.

Nach nicht einmal einer halben Stunde brauste ein Mercedes MG 350 in halsbrecherischem Tempo neben der Kolonne herunter. Thilo schlüpfte schnell in seine Gummistiefel und zog seine derbe Regenjacke über. Auf einen Schirm verzichtete er. Seine Haare klebten sofort an der Stirn fest. Er kümmerte sich nicht darum.

Sofort ging er entschlossen auf Kurt zu.

„Was ist hier los“, schrie er schon, bevor er vor Kurt stand. Lässig und ruhig, die rechte Hand hinter seinem Rücken verborgen, kam Kurt ihm entgegen.

„Das hier“, Kurt deutete auf das Grundstück und die Spitze, dabei zeigte er auf den Holzpflock, „bis dort ist unser Grundstück“.

Kurt machte eine kleine Pause.

„Sie verstehen? Sicher verstehen Sie!“

Thilo blickte weiter zu dem roten Holzpflock. Dann ging er zu dem Pflock und stellte sich daneben. Er schaute sich die Gegebenheit genau an. Ihm war sofort klar, das vielleicht ein PKW mit Rangieren hier um die Kurve kam, aber unter keinen Umständen eine Baumaschine oder ein großer Lastwagen. Ohne das Grundstück zu befahren ging hier nichts. Das war ihm sofort klar.

„Der Weg macht hier eine Kurve. Das war schon immer so. Ich sehe nicht ein, warum das jetzt plötzlich nicht mehr gelten soll.“

Thilo war von seinen eigenen Worten nicht überzeugt.

„Ohne unsere Erlaubnis darf hier niemand über unser Grundstück fahren“.

Kurt wies Thilo sachlich auf die Tatsachen hin.

Thilo kickte den Pfahl meterweit in die Wiese. Fast wäre er dabei ausgerutscht. Er konnte gerade noch sein Gleichgewicht halten.

„Sie! Wissen Sie was sie mich können? Sie können mich gern haben. Ich muss auf das Grundstück, und ich werde auf das Grundstück kommen.“

Kurt stellte ich ganz dicht vor Thilo und blickte ihn fest an.

„Bisher wurden nur Reifen aufgeschlitzt. Es könnten auch einmal Bäuche sein; Ihrer zum Beispiel. Wer unser Grundstück betritt ohne unsere Erlaubnis, begibt sich in Gefahr. Übrigen dürfen Sie und Ihre Baumaschinen das Grundstück nicht einmal berühren. Haben Sie verstanden?“

Jetzt war der Ton drohend und entschlossen.

Thilo hatte die Änderung wohl bemerkt.

„Gut, gut“, beschwichtigte er, „ich werde das prüfen. Aber eins müssen Sie sich klar machen. Ich bekomme immer, was ich will. Machen Sie mich nicht zu ihrem Gegner.

„Damit machen Sie mir keine Angst, Herr Altstädt. Aber Sie sollten mich genauso wenig zum Feind zu machen. Meine Gegnerschaft ist zum Spielen schon gefährlich genug, aber meine Feindschaft kann tödlich sein.“

Kurt hatte diese Drohung ruhig und gelassen ausgesprochen, als bemerke er, dass die Sonne täglich aufgeht.

Thilo war irgendwie beeindruckt und schluckte trocken.

„Und jetzt trollen Sie sich!“

Kurt schubste Thilo so, dass er wieder nach seinem Gleichgewicht suchte. Wütend und innerlich aufgewühlt ging Thilo zu seinem Wagen. Er schlüpfte aus den Gummistiefeln. Mit drehenden Reifen fuhr er los, die Gummistiefel ließ er im Morast stehen.

 

Direkt vor der Aufgangstreppe zum Gebäude, in dem das Bauamt untergebracht war, hielt Thilo mit quietschenden Reifen. Ohne abzuschließen rannte er in den ersten Stock, und ohne anzuklopfen polterte er in das Zimmer seines Freundes Klaus Brandl.

„Sag bloß, dass das stimmt, dass das Grundstück in der Kehre beim Alten Kloster ist nicht befahrbar, sondern gehört zum Grundstück der Unkers.“

Thilo schnarrte grußlos los.

Klaus Brandl war überrascht und ahnungslos.

„Von was, bitte schön, redest du? Jetzt setzt sich erst einmal.“

Klaus Brandl stand auf uns schloss seine Bürotür.

„Ich will mich aber nicht setzten“, brüllte Thilo.

„Ich will wissen, ob es stimmt, dass ich die Ecke nicht befahren kann.“

„So beruhige dich doch! Erzähl in aller Ruhe, was ist los. Ich verstehe kein Wort.“

Thilo setzte sich.

„Ich kann beim Alten Kloster nicht um die Kurve fahren. Mit meinen Fahrzeugen schon gar nicht. Der Unker behaupt, dass diese Ecke ihm gehört.“

Thilo wurde wieder wütend.

„Kann ich mir nicht vorstellen. Der Weg machte schon immer dort eine Kurve. Jeder fuhr so, wenn er zur Alten wollte.“

Klaus Brandl lehnte sich beruhigen zurück.

„Los, schau im Grundbuch nach. Ich will es wissen. Ich muss es wissen. Sofort!“

Thilo war wieder laut geworden.

Klaus Brandl suchte das entsprechende Register im Computer. Plötzlich wurde er blass.

„Tatsächlich! Es stimmt“, sagte er merklich kleinlaut.

„Das Grundstück geht dort fast bis zu den Mauern des alten Klosters. Nur ein enger Streifen von 165 cm ist öffentlich als Zufahrtsweg eingezeichnet.“

Thilo war aufgesprungen und hatte den Monitor herumgerissen.

„Für was bezahle ich dich eigentlich, wenn dir solche Sachen entgehen? Du Stümper! Wie komme ich jetzt auf das Grundstück? Hey, ich frage dich etwas: wie komme ich mit meinen Maschinen auf das Grundstück? Jetzt hat es dir die Sprache verschlagen. Können wir die Friedhofsmauer einreißen. Vorübergehend wenigsten?“

„Nein, das geht nicht. Es geht vieles, aber das geht absolut nicht. Die ganz Anlage steht unter Denkmalschutz.“

Klaus Brandl zog sich schützend hinter der sachlichen Erklärung zurück.

„Was sollen wir jetzt tun?“

Thilo hatte seinen Oberkörper weit über den Schreibtisch gebeugt. Er sah aus wie ein angriffslustiger Kampfhund.

„Es gibt nur eine Möglichkeit.“

Thilo hatte sich aufgerichtet.

„Ich bin gespannt“, sagte er um Ruhe in seiner Stimme bemüht.

„Du musst dich mit dem Eigentümer des Grundstückes einigen. Entweder du kaufst die Ecke oder du bezahlst einen Obolus für die Überfahrt deiner Fahrzeuge.“

Brandl atmete auf, er hatte die Lösung gefunden.

„Klaus, mein Freund, du meinst, es gibt keine andere Möglichkeit?“ fragte er skeptisch. „Doch, mit dem Hubschrauber, aber dafür bekommst du auch keine Genehmigung. Nein, es gibt keine andere Möglichkeit.“

Thilo drehte sich um: „Niete.“

Frau Hauser, die Politesse hob gerade den Scheibenwischer, um ein Strafmandat dahinter zu klemmen.

Das war genau das, was Thilo jetzt gebrauchen konnte. Er riss den Überweisungsträger in Fetzen und warf sie vor die Füße von Frau Hauser.

Ohne auf die anderen Verkehrsteilnehmer zu achten, fuhr er auf die Straße. Während des Fahrens rief er in der Firma an.

„Herr Fichter, habe ich heute noch wichtige Termine?“

„Nein? Dann fahre ich für heute nach Hause.“

Zu Hause stapfte er sofort in das Badezimmer hinter der Garage. Hier zog er sich aus, um keinen Schmutz ins Haus zu tragen. Michelle sah sofort, dass sich Thilo geärgert hatte.

„Gehst du laufen?“ fragte sie.

„Ja“, antwortete Thilo kurz angebunden.

Immer wenn er sich geärgert hatte, joggte er eine große Runde. Das reinigt die Gedanken, sagte er immer. Nicht zufällig führte in sein Weg diesmal über den Hohen Rücken zum Grundstück und zum Alten Kloster. Das Grundstück war nur über diesen einen Zufahrtsweg zu erschließen. Auf der linken Seite lag der Wald mit dem Taleinschnitt. Südlich fiel der Rücken steil ab, und westlich stand das Alte Kloster. Nördlich lag das ehemalige Anwesen, das ursprünglich einmal dem Kloster gehört hatte. Vor über hundert Jahren wurde das Kloster aufgelöst. Heute gehörte alles den Unkers. Thilo rannte weiter. Die Situation war wirklich so, dass er über das Grundstück musste. Gut, dachte er, dann kaufe ich ihnen das Stück ab.

Nach zwei Stunden kam er zurück nach Hause. Er duschte und zog sich für die Familie um. Erst jetzt bekamen Lisa, Lena und Leon den Begrüßungskuss.

Später, als die Kinder im Bett lagen, ihren Gute-Nacht-Kuss erhalten hatten und schliefen, fragte Michelle, „Probleme?“

„Probleme gibt es immer wieder. Man muss sie nur zu lösen wissen.“

Thilo war wieder ruhig und gelassen. Er liebkoste seine Frau. Die Situation war geklärt, Vorerst wenigstens. Er musste mit den Unkers verhandeln.

„Machst du dir Sorgen?“

Michelle ließ nicht locker.

„Ich mache mir keine Sorgen, und du solltest dir auch keine mache. Es sind keine Probleme, die man nicht lösen könnte. Ich werde sie jedenfalls lösen. Um jeden Preis“, fügte er noch an.

Schon am nächsten Morgen würde er zum Herrenhaus fahren und die Sache zu einem Abschluss bringen. Michelle kuschelte sich an ihren Mann, der sie fest an sich drückte.

 

Am nächsten Morgen, nach dem zweiten Frühstück, das Michelle und er stets noch genossen, nachdem die Kinder in der Schule waren, fuhr Thilo zum Herrenhaus. Er bog von der Straße und fuhr den Weg hinunter. Schon von weitem sah er Bernharda und Kurt über die Wiesen reiten. Eigentlich war es kein Reiten, sondern Galoppieren. Die Pferde waren schweißnass und ihre Reiter ebenso. Daimler, der das Wettrennen mit den Pferden liebte und jedes Mal verlor, war genauso schweißig wie die anderen. Thilo kletterte auf das Dach seines Mercedes. Nach wenigen Minuten, als die beiden Reiter zurück rasten, hüpfte er und winkte. Bernharda und Kurt änderten die Richtung und kamen angeritten. Thilo setzte sich auf seine Motorhaube. Genau wie Kurt gestern auf seiner Motorhaube saß. Kurt merkte die Anspielung genau.

„Guter Morgen“, sagte er freundlich, „nach dem Regen gestern.“

Daimler blieb stehen und gab vernehmlich Laut. Einmal sogar bellte er.

„Guten Morgen“, antwortete Thilo ebenso freundlich, „für die Natur war der Regen ein Segen.“

Das waren die Friedensangebote, und sie wurden angenommen.

„Ich versorge die Pferde“, sagte Bernharda, „komm Daimler“.

Der Wachhund zögerte. Aufmerksam und bereit stand er und ließ Thilo nicht aus den Augen.

„Daimler komm mit“, rief Bernharda noch einmal.

Nach einem abschließenden Knurren drehte er sich um und jagte Bernharda hinterher. Kurt stieg vom Pferd.

„Ich muss kurz duschen. Kommen Sie doch auf die Terrasse.“

Nach wenigen Minuten kam Kurt geduscht und umgezogen zurück.

„Ihr Hund, was ist das für eine Rasse?“

„Das ist ein Rhodesian Ridgeback, sicher der intelligenteste Hund, ausgezeichneter Wächter, ein guter Jäger. Der in Afrika zur Löwenjagd benutzt wird. Wir haben ihn mitgebracht.“

Kurt war sichtlich stolz auf den Hund.

„Darf ich Sie zum Frühstück einladen? Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

„Nein, Danke, ich habe gerade gefrühstückt.“

Unaufgefordert setzte sich Thilo an den Tisch.

„Aber eine Tasse Kaffee dürfen Sie nicht ablehnen.“

„Nein, Danke, auch Kaffee hatte ich gerade.“

„Ich mache Ihnen auch gern Tee?“

„Nein, Danke, auch keinen Tee.“

„Ein Schluck Wasser vielleicht?“

„Nur ein Schluck Wasser vielleicht“, gab er sich geschlagen.

Kurt kam mit einer Flasche klarer Flüssigkeit und einem Glas wieder. Er schenkte drei Viertel voll.

„Ein Schluck Wasser, bitte schön, Zwetschgenwasser!“ Kurt grinste breit.

„Das können Sie nicht ablehnen.“

„Prost“, sagte Thilo, sich seiner erneuten Niederlage bewusst.

„Prost.“

„Brr, was für ein Teufelsgebräu ist das?“

Tränen liefen ihm über die Backen. Der ganze Kopf war gerötet, und Thilo hustete.

Kurt beobachtete grinsend das Schauspiel.

„Noch einen Schluck, Ähh, Wasser?“ fragte Kurt.

„Nein, nein, auf keinen Fall“, antwortete Thilo, jetzt wieder bei Atem. Er wurde langsam unruhig und wollte zur Sache kommen.

Kurt stand auf, er räumte die Flasche und das Glas ins Haus. Stattdessen kam er mit einer Kanne Kaffee und zwei Tassen zurück.

„Danke, ich trinke wirklich keinen Kaffee“, sagte Thilo.

„Die Tasse“, Kurt deutete auf die zweite Tasse, „ist auch für Bernharda.“

Thilo merkte, dass Unker mit ihm spielte.

Endlich fragte Kurt: „Nun, Herr Altstädt, was können wir für Sie tun?“

Thilo räusperte sich und beugte sich vor.

„Herr Unker, ich hab das Grundstück dort“, er deutete auf das große Grundstück, mit der alten Hütte, „von Herrn Hagenköter, dem Erben, gekauft. Der lebt drüben in Montreal und hatte keine Verwendung für das alte Haus. Er hat es mir verkauft samt Grundstück. Ich habe jetzt die Baugenehmigung für ein paar Apartments erhalten, die sich harmonisch in das Landschaftsgefüge einpassen. Wir alle sind irrtümlich davon ausgegangen, dass der Abkürzungsweg, der unten über ihr Grundstück führt, öffentlicher Weg sei. Das ist aber nicht so. Der Zwickel, über den der Weg führt, gehört Ihnen, obwohl es wegen der jahrelangen Duldung so etwas wie ein Gewohnheitsrecht gibt. Ich möchte Ihnen das Stückchen Grundstück abkaufen.“

Bei den letzten Worten trat Bernharda mit einem Brötchenkorb an den Tisch und setzte sich. Sie hatte die letzten Worte mitgekommen. Thilo schaute nacheinander beide an.

„Ich mache Ihnen einen guten Preis“, zog Thilo nach.

Kurt, der sich alles in aller Ruhe angehört hatte, blickte kurz zu Bernharda.

„Ich fürchte…“, Bernharda antwortete an Stelle von Kurt.

Thilo, der eine Antwort von Kurt erwartete, blickt unsicher hin und her.

Kurt nahm sich ungerührt ein Brötchen, schnitt es in zwei Hälften und legte die obere Hälfte auf Bernharda´s Teller.

„Danke, Schatz“, Bernharda blickte zu Kurt. Zu Herrn Altstädt gewandt meinte sie, „haben Sie schon gefrühstückt?“

„Ja, danke, ich habe es ihrem Mann schon gesagt. Ich habe schon mit meiner Frau gefrühstückt“.

Thilo wurde ungeduldig und ärgerlich. Hier wurden Spielchen mit ihm getrieben.

„Also, ich biete ihnen zwanzigtausend Euro für die 120 Quadratmeter.“

Thilo wollte zum Ende kommen.

Kurt nahm die Summe zur Kenntnis, während er seine Brötchenhälften mit Erdbeermarelade bestrich.

„Walderdbeermarmelde, vom mir gesucht und von Bernharda eingekocht. Ein Genuss! Sie sollten sie probieren.“

Kurt biss herzhaft zu. Jetzt hatte er einen roten Rand über der Oberlippe. Ruhig nahm er seine Serviette und putzte den Mund. Der Bissen wurde ausführlich gekaut und geschluckt.

„Wir sind an einem Verkauf nicht interessiert.“

Das klang endgültig.

„Bernharda, wie ist deine Meinung?“ fragte Kurt.

„Keine Verkauf!“

Bernhardas Ton war noch entschiedener und nicht minder endgültig.

„Hören Sie, sind Sie vernünftig. Ich brauche das Stückchen Land: fünfzigtausend Euro! Das ist sehr viel Geld.“

Nur noch mühsam konnte Thilo seine Wut zügeln.

Daimler kam jetzt auf die Terrasse und setzte sich vor Thilo. Ein leises, fernes Knurren war vernehmbar. Thilo rutschte mit seinem Stuhl etwas weiter weg. Jetzt fühlte er sich gänzlich unwohl in dieser Situation.

„Die Antwort heißt Nein! Wir wollen nicht, dass dort unten gebaut wird“, sagte Bernharda ruhig und stopfte den Rest ihres Brötchens in den Mund.

Erregt sprang Thilo auf. Er achtete nicht auf das laute Knurren des großen Hundes.

„Ich habe bisher mehr als zwei Millionen Euro investiert. Ich muss dort bauen, und ich werde dort bauen“, schrie er und seine Stimme überschlug sich fast.

Kart hatte seinen Arm fest um den Hals des Hundes gelegt und hielt ihn fest.

„Ruhig, Daimler, ganz ruhig. Keine Probleme“, sagte er ruhig und leise. Mit der anderen Hand drückte er Daimler wieder in Sitzstellung.

Thilo hatte seinen Kopf vorgeschoben. Entschlossen die Lippen zusammengepresst mit vorgeschobenem Kinn schrie er weiter, „Sie werden mich noch kennen lernen. Ich bekomme immer, was ich will. Ich betone: immer. Am Schluss werden Sie mir das Grundstück schenken. Wollen wir wetten?“

„Angenommen“, sagte Bernharda ruhig.

Thilo warf seinen Stuhl zur Seite und stapfte zu seinem Wagen. Daimler bellte laut und angriffslustig. Kurt umarmte Daimler und tätschelte ihn am Hals.

„Waren wir gut?“ fragte Bernharda.

„Wir waren ganz gut“, bestätigte Kurt.

„Was werden wir tun?“

„Das was wir am besten können: kämpfen“, sagte Kurt und füllte seine Tasse mit Kaffee nach.

 

 

Thilo fuhr betont langsam Das tat er immer, wenn er erregt war. Ein Unfall verschlimmerte die ganze Situation und war höchst ärgerlich. Er musste nachdenken. Im Büro angekommen setzte er sich an seinen Schreibtisch. Nach kurzem Nachdenken griff er nach dem schwarzen Handy.

„Hier spricht Thilo. Ich bitte Rückruf auf dieser Nummer.“

Das Handy war nicht registriert.

Nachdem er den Rückruf erhalten hatte und die Situation erklärt hatte, rief er Herrn Fichter, um das Tagesgeschäft zu beginnen. Gerade heute konnte er viel später anfangen, obwohl er heute früher nach Hause musste. Er hatte Lena versprochen, mit ihr zum Baden zu gehen.

 

Am nächsten Morgen trat Bernharda durch die Nebentür aus der Küche hinaus in den Garten. Mit einem Blick erkannte sie, was geschehen war. Sie sah die dicht über dem Boden abgeschnittenen Zuchtrosen, ein Hobby von Kurt. Und sie sah Daimler liegen. Ihre Narbe, die quer über ihre linke Halsseite verlief, lief rot an. Immer ein Zeichen von Erregung. Die Narbe war schlecht versorgt und zog durch den Narbenzug die gesamte linke Gesichtshälfte nach unten.

Laut rief sie nach Kurt. In wenigen Augenblicken stand er neben ihr. Sofort ging er zu Daimler. Er sah die toten Augen, und er sah das Kabel fest um seinen Hals geschnürt. Kurt kniete neben Daimler und streichelte seinen Hals. Er löste traurig das Kabel und warf es voller Wut hinter sich. Das war also das unterdrückte Geräusch gewesen, das er heute Nacht gehört hatte. Er glaubte sich verhört zu haben, besonders als er beim Nachsehen alles ruhig fand und glaubte, Daimler sei irgendwo auf der Grundstück unterwegs. Jetzt erst wurde ihm auch das Geschreibsel auf der Garagenwand bewusst: wir töten auch euch.

„Der Kampf hat begonnen“, sagte Bernharda. Ihr Ton war unaufgeregt, ja fast mit etwas Spannung auf das was noch kommen könnte.

„Ich rufe die Polizei“.

Mit diesen Worten griff Kurt nach seinem Handy. Danach holte er einen Spaten und begann am Kastanienbaum eine Grube auszuhaben.

Nach etwa zweieinhalb Stunden kamen zwei Polizisten angefahren. Lustlos blickten sie auf die abgeschnittenen Rosen und auf die Drohung und auf den toten Hund.

„Das da“, er deutete auf Daimler, „äh, den Hund dürfen sie nicht begraben. Der muss zur Abdeckerei gebracht werden. Zeigen Sie mir morgen auf dem Revier die Einlieferungsbescheinigung.“

Der Polizist hatte die frische Grube gesehen.

„Wollen Sie Anzeige erstatten. Das waren Randalierer oder Vandalen, die kriegen wir nie.“

Schulterzucken wollten sich die Polizisten schon zum Auto begeben.

„Natürlich erstatten wir Anzeige“, sagte Kurt.

„Dann müssen Se zu uns auf das Revier kommen.“

Das war resigniert gesprochen, jetzt gab es noch mehr Arbeit.

„Wir kommen später vorbei“, sagte Bernharda.

Als das Polizeiauto verschwunden war, legten sie Daimler in die Grube. Jeder legte noch eine Rose dazu. Bernharda und Kurt hielten sich kurz an den Händen. Sie weinten. Nach wenigen Minuten war das Grab geschlossen. Sie zogen sich um und fuhren in die Stadt auf das Polizeirevier.

 

Eine Woche später, in der Nacht zum Mittwoch, erwachte Michelle. Auch Thilo war wach, aber nicht so richtig. Er murmelte etwas Unverständliches und schlief weiter. Michelle war dagegen hellwach. Ein krachendes Geräusch hinter dem Haus hatte sie erschreckt. Sie hatte das Gefühl, dass das krachende Geräusch das ganze Haus erschüttert hätte. Schnell schlüpfte sie in ihren Morgenmantel, um nachzusehen. Vorsichtig und leise ging sie durch das Haus. Alles war wie immer. Michelle war eine mutige Frau, und sie wollte auch draußen im Garten und um das Haus nachsehen. Als sie durch die Verandatür auf die Veranda treten wollte, traf sie fast der Schlag.

„Thilo, Thilo“, schrie sie zitternd, „Thilo komm bitte schnell. Bitte ganz schnell.“

Sie schrie hysterisch so laut, dass auch die Kinder aufwachten und aus ihren Zimmern kamen. Alle zusammen blickten auf das Chaos. Die gesamte Veranda war in die darunter liegende Garage gestürzt. Die Außenwand und Teile der Rückwand waren vollständig eingedrückt, so dass die gesamte Garage eingestürzt war. Dieses Krachen hatte Michelle und auch Thilo geweckt. Alle Autos, auch die beiden Oldtimer, ein Volvo P1800 und Thilos ganzer Stolz ein Austin Martin Le Mans aus dem Jahre 1932 lagen vollständig unter Schutt, Mörtel, Steinen und Balken verborgen. Jetzt sahen sie auch die große Baumaschine, die durch das Chaos halb verdeckt quer in der Garage stand. Eigentlich hätte sie ihnen sofort auffallen müssen, denn nahezu unbeschädigt stand sie da. Über den flachen Austin Martin, der direkt an der Außenwand stand, ist das riesige Fahrzeug einfach hinweg gerollt. Jetzt stand er mit demr Vorderrad genau auf dem zerstörten Volvo, der neben dem Austin stand. Thilo erkannte sofort seinen grün lackierten CAT-740. Es war eines seiner eigenen Großfahrzeuge. Wie ein Henker stand dieses Fahrzeug inmitten des ganzen Schutts.

Thilo konnte das ganze Elend nicht mehr sehen. Er ging zurück ins Haus.

Am Esstisch sitzend sagte er, „Michelle, bitte ruf Ulmer an und bring die Kinder wieder ins Bett.“

„Ich soll jetzt um diese Uhrzeit, es ist kurz nach vier und mitten in der Nacht, Ulmer anrufen?“ fragte sie verständnislos.

„Dann ruf wenigstens auf dem Polizeirevier an“, sagte Thilo tonlos.

„Nein“, verbesserte er sich. Thilo hatte schnell seine Fassung wieder, „ich rufe Ulmer an.“

 

Beim zweiten Frühstück schwiegen Thilo und Michelle lange. Überall roch es nach Mörtel und Staub. Die Zähne knirschten.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Michelle. Ihre Furcht war greifbar.

„Thilo, hast du Feinde?“

„Sieht fast so aus“, meinte Thilo sarkastisch.

„Ich weiß, du bist nicht zimperlich mit deinen Methoden, wenn es sich um das Geschäft dreht. Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht. Aber jetzt beginne ich darüber nachzudenken. Was ist, wenn derjenige unser Haus in die Luft sprengt. Denk auch an die Kinder. Sind sie noch sicher. Du weißt, was ich meine?“

Michelle hatte wirklich Angst.

„Jetzt mal ganz ruhig“, sagte Thilo beschwichtigend. Aber es kam gereizter als er wollte. Auch er war ziemlich bestürzt und erschrocken. Er hatte mit Vielem gerechnet, aber nicht mit so einer Reaktion.

„Michelle, sei ruhig. Euch kann nichts passieren. Ich habe alles im Griff“, beruhigte Thilo.

„Das sehe ich. Das sehe ich ganz genau“, antwortete Michelle leise und stand auf.

 

Es war wenige Minuten nach acht Uhr morgens, als wiederholt die Glocke betätigt und sofort danach gegen die Tür gebollert wurde. Nach nur einer kurzen Pause wurde erneut geklingelt und gegen die Holztür geschlagen, als sollte sie eingetreten werden.

Bernharda ging hinunter und öffnete die Tür.

Die beiden Polizisten, die letzte Woche auch schon hier waren, standen vor der Tür.

„Dürfen wir herein kommen?“

Mit dieser Frage trat der Große wie selbstverständlich auf Bernharda zu.

„Nein“, sagte Bernhard kurz, aber so klar, dass ihr Nein wirklich nein bedeutet. Sie bewegte sich nicht, um den Weg frei zu machen.

„Nein?“, war die verständnislose Frage des größeren Polizisten, der auch so etwas wie der Wortführer war.

„Nein!“, antwortete Bernharda noch einmal.

Der große Polizist baute sich vor Bernharda auf.

Die eher kleine Frau wich keinen Zentimeter zurück.

„Was gibt es?“

„Heute Nacht wurde ein Anschlag auf den Bauunternehmer Altstädt verübt.“

Der Polizist schien sich in seiner Wichtigkeit zu sonnen.

„Irgendein Verbrecher hat einen Baulaster, so ein riesiges Ding, vom Werkhof der Bauunternehmung gestohlen und ist damit direkt in die Garage von Herrn Altstädt Privathaus gerast und hat die ganze Garage zum Einsturz gebracht. Alle Autos sind kaputt. Die gesamte Garage ist zerstört. Sogar das Lieblingsauto von Herrn Altstädt ist völlig zerstört, unreparierbar.“

„Und warum kommen Sie da zu uns“, fragte Bernharda.

Ein verstecktes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

„Ja, wegen der Sache mit ihrem Garten und dem Hund. Da könnte doch ein…, ähh“, er stockte, „ein Zusammenhang bestehen“, beendete er den Satz.

„Aber Sie selbst sagten doch, dass das Rowdies und Vandalen waren, die man niemals erwischen wird“, erwiderte Bernharda, „und warum kommen Sie damit zu uns?“

„Ja, ähmm“, der Beamte verlor seine Sicherheit. Warum war diese kleine Frau nicht von seiner männlichen Größe von 1,95 Meter und seiner körperlichen Masse, 116 Kilogramm, beeindruckt? Er holte tief Luft.

„Weil Sie Probleme mit Herrn Altstädt haben.“

„Wir haben keine Probleme mit Herrn Altstädt. Herr Altstädt hat Probleme mit uns.“

Bernharda streckte sich auf die Zehenspitzen und hob drohend ihr Gesicht empor, „warum kommen Sie zu uns?“

Ihr Ton war jetzt drohend.

Der Polizist machte beeindruckt einen Schritt zurück und stellte sich neben seinen Kollegen.

„Wir befragen alle Leute hier“, sagte der kleinere Polizist.

Der größere Mann atmete erleichtert auf. Sofort drängte er sich wieder in den Vordergrund.

„Wo waren Sie heute Nacht?“ fragte er barsch.

„Hier und im Bett. Wie es sich für ein Ehepaar gehört. Zusammen im Bett!“

Ihr Augen blitzten vor Belustigung.

„Kann das jemand bezeugen? Ich meine außer ihrem Mann?“

Jetzt wurde die Situation richtig lächerlich.

„Sie meinen, ob außer meinem Mann noch jemand in unserem Schlafzimmer war?“

Bernharda konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen.

Der Große schnaubte vor Wut. Die Situation glitt ihm aus der Hand.

„Oder meinen Sie vielleicht, ob wir Besuch im Haus, also im Gästezimmer, hatten?“ fuhr Bernhard amüsiert fort. „Wir haben tatsächlich Besuch. Kurts Patenkind, die in Berlin studiert, besucht uns gerade. Sie hätte bestimmt bemerkt, wenn jemand in der Nacht das Haus verlassen hätte.“

Die Polizisten bemerkten den Hohn in ihrer Stimme.

„Die Schwarze?“

Der große Polizist sprach das Wort aus, als sei es eine Bezeichnung für Pest und Schwefel. So einer kann man nicht ernsthaft glauben.

„Können wir sie sprechen?“ fragte der Kleine um auch mal was zu sagen.

„Sie schläft noch“, antwortete Bernharda. Sie stand immer noch wie ein Fels in der Tür.

„Können Sie sie wecken?“

„Nein!“

„Dann muss sie zu uns auf das Revier kommen“, sagte der Größere Beamte bestimmt.

„Nein, Sie müssen wieder kommen“, antwortete Bernharda genauso bestimmt und schloss die Tür.

Betroffen standen die beiden Polizisten vor der verschlossen Tür und wussten nicht, wie sie reagieren sollten.

 

Michelle war am Abend recht einsilbig. Auch die Kinder merkten die Spannung der Eltern. Sie verabschiedeten sich früh und gingen ohne den täglichen Protest zu Bett.

„Thilo, bitte, rede mit mir. Das ist kein Spiel, das ist bitterer Ernst. Du bringst uns alle in Gefahr. Worauf hast du dich eingelassen? Wer sind deine Gegner. Ich liebe dich und die Kinder von ganzem Herzen, und ich möchte nicht, dass dir oder den Kindern etwas passiert.“

Thilo fühlte sich unbehaglich.

„Michelle, mach dir keine Sorgen. Ich regle das. Deshalb muss ich noch einmal weg.“

Mehr brachte er nicht über seine Lippen. Er stand auf und ging zum Geländewagen, dem einzigen Wagen der der Zerstörung entkommen war, weil er auf dem Bauhof stand, als die Garage zum Einsturz gebracht wurde. Er musste noch einmal mit den Unkers sprechen.

Unterwegs ging ihm einiges durch den Kopf. Michelle machte sich große Sorgen. Sie war eine intelligente Frau, man musste ihre Ängste ernstnehmen. Auch er selbst hatte Zweifel. Er war von der Wucht der Ereignisse völlig überrascht. Immer wieder kamen Zweifel. Den Verlust von zwei Millionen Euro konnte er verschmerzen, klar das tat weh. Er würde sie über die Firma abschreiben. Daran würde auch die Firma keinen Schaden nehmen. Aber dazu müsste er klein beigeben. Nein! Klein beigeben wäre eine Niederlage. Aufgabe ist das Eingeständnis seiner Niederlage. Das konnte er nicht zulassen. Er, Thilo, würde kämpfen und siegen. Er würde wie immer der Sieger und der Gewinner sein. Thilo hasste Niederlagen. Das war schon im Sportunterricht so oder im Verein oder bei Wettkämpfen.

Mittlerweile stand er auf dem Hof der Unkers. Thilo stieg aus und klingelte. Musik klang in sein Ohr. Thilo ging leise um das Haus. Er horchte. Jetzt hörte er die Stimme von Kurt Unker, der zur Musik sang. Dieser hatte eine raue Stimme. Als jetzt ihre Stimme dazu klang, änderte sich die Atmosphäre. Bernharda Stimme war hell, fast schrill, aber in ihr schwang Melancholie und Sehnsucht. Jetzt fiel wieder Kurts Stimme ein. Woher kenne ich diese Melodie, fragte sich Thilo. Natürlich, die Unkers haben früher immer auf dem Herbstmesse gespielt. Die Leute mochten die zwei, und das Zelt war immer gut gefüllt. In den letzten Jahren haben sie nicht mehr gespielt. Warum eigentlich nicht mehr, fragte er sich, auf die Musik lauschend. Jetzt fiel ihm auch der mögliche Grund ein: die unschöne Sache auf dem Wochenmarkt. Ja, das war damals sicher der Grund gewesen.

Bernharda kaufte auf dem Samstagswochenmarkt Gemüse ein. Das tat sie damals jeden Samstag. Oft wurde sie von ihrem Mann begleitet. Damals aber war sie allein. Gerade als sie an die Reihe kam, drängte sich Frau Schulze vor. Wir alle keinen doch die olle Schulze. Bernharda sagte einige freundliche Worte dazu. Frau Schulze dagegen muss mit unflätigen Worten geantwortet haben. Sie hatte dabei Bernharda einfach zur Seite geschubst. Sofort wurde Frau Schulzes Kopf an ihren Haaren nach hinten gerissen, und ein kleines Messer ritzte die Haut über ihrer Kehle. Zuerst war Frau Schulze zu keiner Bewegung fähig, dann rannte sie laut schreien davon. Thilo erinnerte sich nicht, wie die Sache damals ausging. Man hatte einfach nichts mehr davon gehört, obwohl Frau Schulze Anzeige erstattet hatte. Ja, seit damals kauften die Unkers nicht mehr auf dem Markt ein, und sie traten auch nicht mehr beim Herbstfest auf.

Thilo fand das jetzt schade. Er gab sich einen Ruck und klopfte gegen das Fenster. Kurt öffnete, seine Geige noch in der Hand.

„Guten Abend Herr Altstädt. Kommen Sie doch bitte herein“ sagte Kurt freundlich. Er öffnete die Tür einladend.

Bernharda ging schnell nach oben, sich umziehen.

„Nehmen Sie Platz.“

Kurt bot ihm einen Stuhl am Esstisch an.

„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ fragte er, als freue ihn der später Besuch, „einen Tee oder ein Glas Rotwein. Bernharda hat gerade eine Flasche geöffnet, Oder ein Glas Wasser?“.

Kurt ging in die Küche und holte ein Glas, das er halb mit Rotwein füllte und vor Thilo stellte.

Bernharda kam auch gerade wieder herunter und setzte sich hinter ihr Weinglas. Sie hob das Glas und wünsche Herrn Altstädt: „Zum Wohle.“

„Nachdem auch Thilo einen kleinen Schluck getrunken hatte, sagte er, „Ich wollte noch einmal mit Ihnen sprechen.“

Thilo stotterte.

„Mir gehört das Grundstück dort südlich von Ihrem Grundstück. Ich habe eine Baugenehmigung für dieses Grundstück. Die Bebauung können Sie nicht verhindern, höchstens verzögern. Warum einigen Sie sich nicht gleich mit mir? Fünfzigtausend Euro sind viel Geld, insbesondere für so ein kleines Stückchen Wiese. Was könnten Sie alles mit dem Geld anfangen? Wünsche hat doch jeder. Zum Beispiel könnten sie Ihren Stall ausbauen und vergrößern, neue Pferde kaufen, ihre Rosenzucht professionalisieren.“

Thilo machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Erwartungsvoll blickte er zu Bernharda und dann zu Kurt.

Bernharda war es, die antwortete.

„Herr Altstädt, das Geld spielt keine Rolle. Es ist eine Frage des Prinzips. Bieten Sie uns eine Million Euro, und wir werden trotzdem ablehnen. Ohne unsere Zustimmung können Sie nicht bauen und unsere Antwort heißt: nein!“

Thilos Herz begann zu rasen, die langsam aufsteigende Wut trieb den Blutdruck.

„Wir könnten vorübergehend die Friedhofsmauer abtragen und später im Originalzustand wieder aufbauen, dann haben Sie nichts und nichts gewonnen.“

Innerlich zitterte Thilo. Er wollte sich das alles nicht mehr nehmen lassen.

„Nein, Herr Altstädt, das können Sie nicht und Sie wissen das ganz genau. Die ganze Anlage des Alten Klosters ist vor zwei Jahren komplett renoviert worden. Das Denkmalschutzprogramm hat nicht unwesentlich Geld dafür bereitgestellt. Niemals bekommen sie die Erlaubnis zum Abriss der Mauer oder irgendetwas anderem. Ohne unser Grundstück können Sie nicht bauen. Also vergessen Sie die Pläne und verschmerzen Sie ihre Niederlage.“

Jetzt zitterte Thilo auch äußerlich.

„Das werden Sie noch bereuen. Sie sollten meine Möglichkeiten nicht unterschätzen“, keifte er. Die Gesichtszüge waren vor Wut verzerrt.

„Das Gleiche gilt auch für Sie. Unterschätzen Sie uns nicht. Also hören Sie gut zu“, sagte Kurt in seine ruhigen Art.

„Ich habe schon ganze Familien, Alte, Junge, Kinder, Mütter mit Babys auf den Armen von Maschinengewehrsalven zerfetzt gesehen. So was macht mir keine Angst. Aber sie sollten an Ihre Frau, übrigens, eine ganz entzückende Persönlichkeit, und an Iihre Kinder, die uns sehr gefallen, denken. Sie können Ihre Familie nicht schützen. Noch einmal, denken sie an Ihre Familie. Geben Sie das Bauvorhaben auf. Vor allem geben Sie auf, sich mit uns anzulegen.“

Kurt hatte eindringlich auf Thilo eingeredet.

„Niemals gebe ich auf. Wie sagten Sie? Es ist eine Prinzipienfrage“.

Thilo war außer sich, fast ohne Selbstkontrolle. Er hatte beide Fäuste geballt und bewegte sie drohend auf und ab, als sollte sie seinen Entschluss verstärken.

Kurt war aufgestanden, „Herr Altstädt, Selbstüberschätzung und Eitelkeit verstellen häufig den Blick auf die Tatsächlichkeit. Manchmal endet so eine Fehleinschätzung auch tödlich.“

Mit diesen Worten, fast freundlich und kameradschaftlich gesprochen reichte Kurt Thilo die Hand zum Abschied. „Darf ich Sie noch zur Tür begleiten?“

Thilo schlug nach der Hand und schrie: „Du bist ein Bastard! Ihr werdet des Lebens nicht mehr froh. Ich mache euch so was von fertig.“

Er rannte zur Tür und verschwand.

Kurt ging zu Bernhard zurück. Er griff nach seiner Geige, „eins, zwei drei“, zählte er leise, und dann erklang wieder Musik: Lieder aus fernen Landen, teilweise schaurig, teilweise schön.

 

Im Laufe des späten Vormittags unterrichtete Herr Ulmer, der Polizeichef, seinen Parteifreund Altstädt über die wenig erfolgreichen Ermittlungen. So ließ er nicht mit sich umgehen, dacht Thilo. Er würde entsprechend reagieren, es musste eine schnelle Entscheidung her. Jede Verzögerung kostete Geld. Entschlossen steckte Thilo sein schwarzes Handy ein und fuhr zur Fulda hinunter. Während er am Fluss entlang ging, telefonierte er lange. Nach dem Gespräch öffnete er das Handy und entfernte die SIM-Karte. Thilo knickte sie und warf sie in die Fulda. Die Batterie warf er hinterher. Auf dem Rückweg zur Firma hielt er und warf das Handy in eine graue Tonne, die zum Entleeren am Straßenrand stand.

 

 

Michelle war wie ausgewechselt. Thilo kümmerte sich rührend um die Familie. Er machte früher Feierabend und unternahm häufiger Ausflüge mit der Familie. Die Kinder fanden diesen Zustand herrlich. Nur Michelle blieb unbeeindruckt. Ihre großen Augen blickten gehetzt und ängstlich, als vermutete sie hinter jedem Baum, hinter jeder Eck einen Angriff. Nachts schlief sie schlecht.

„Thilo, ich spüre Gefahr. Gefahr für uns alle. Tu endlich was dagegen“, sagte sie mehrfach. Thilo konnte es schon bald nicht mehr hören und reagierte entsprechend heftig. Das tat ihm dann sofort wieder leid. Auch seine Nerven waren angespannt.

Nach einer erneuten Auseinandersetzung mit Michelle machte er ihr den Vorschlag, mal wieder zusammen essen zu gehen.

„Ohne Kinder nur wir beide.“

„Ich lasse die Kinder nicht allein“, rief sie und rannte weg.

Thilo rannte hinter ihr her. Er hielt sie fest und drückte sie fest an sich, ihren Kopf an seine Brust drückend. So standen sie lange dicht bei einander. Als sie sich von ihm löste, nahm er ihren Kopf in seine beiden Hände und blickte in ihre Augen.

„Schatz beruhige dich. Es ist alles dafür getan, dass die Angelegenheit geklärt wird.“

Michelle drückte ihn brüsk weg von sich.

„Wenn du uns so liebst, wie du immer sagst, dann beende die Angelegenheit, wie du die Sache nennst. Beende sie sofort. Nimm dein Telefon und beende, was uns bedroht. Thilo, ich fühle die Bedrohung und die Gefahr. Ich spüre, wenn das nicht sofort beendet wird, geht es schlimm aus. Glaube mir.“

Michelle war verzweifelt.

„Nein, ganz sicher nicht.“

Thilo versuchte zu beruhigen.

„Es ist alles geregelt, dass es geregelt wird. Nur noch ein paar Tage.“

Thilo hatte voller Fürsorge und Überzeugung gesprochen. Michelle fühlte ganz genau, dass er nicht ganz so sicher war, wie er tat. Sie schüttelte ihren Kopf und lief weg.

 

 

Wie so häufig ritt Kurt seine Runde im Galopp über die Felder. Wenn er sich dem Waldrand näherte, verlangsamte er das Tempo. Auch heute verlangsamte er stark und ritt im Schritt auf den Wald zu. Dann zögerte er.

„Brrr“, sagte er leise und stieg ab. Langsam ging er auf den Waldrand zu. Sein Pferd hielt er hinter sich am Zaum. Jetzt sah er das Seil quer über den Weg gespannt. Bei der Höhe von 50 Zentimeter wäre das Pferd mit Sicherheit gestrauchelt und er vom Pferd gestürzt. Vielleicht hätte er sich sogar den Hals gebrochen. Er drehte sich langsam und gab seinem Pferd mit der flachen Hand einen festen Hieb auf die Hinterhand.

„Los lauf“, rief er.

Mona erschrak und galoppiert los. Sie würde den schnellsten Weg zum Stall finden. Kurt blieb aufmerksam stehen. Plötzlich knackte es, und vier Männer traten aus dem Dickicht. Der erste, der Anführer, schlug immer wieder mit einem Baseballschläger in seine geöffnete linke Hand. Der zweite, der mit der geöffneten schwarzen Lederjacke und dem weißen T-Shirt schwang eine kurze Kette. Die anderen beiden gingen etwas versetzt. Der linke hatte ein große Messer in der Hand, und der rechte, mit dem Dreitagesbart trug über jeder Faust einen Schlagring.

„So mein Kleiner, jetzt geht es dir schlecht.“

Der Große mit dem Schläger trat vor.

„Na, hast du Angst?“, höhnte der zweite und ließ seine Kette surren. Er machte ebenfalls einen Schritt auf Kurt zu. Der Anführer hob seinen Schläger. Die anderen traten seitlich vor, um den Schläger nicht zu stören. Jetzt machte der erste Mann einen schnellen Schritt auf Kurt zu. Genau in diesem Moment sprang Kurt noch vorne. Mit seiner linken Hand griff er nach dem Baseballschläger und hielt ihn fest. Gleichzeitig gab es ein reißendes, flatschendes Geräusch, als das kleine Messer durch das Hemd seitlich in den Bauch fuhr. Todesschreiend ließ der Mann seinen Schläger los und sank verkrümmt zu Boden. Sofort wich Kurt dem Schlag der Kette aus, die ihn nur quer über dem Rücken traf. Den Baseballschläger in der linke Hand rammte er dem zweiten Mann den Griff mitten ins Gesicht. Blut, Zähne, als sich der gesplitterte Oberkiefer vom Schädel löste, und Knochensplitter von Nasenbein und Jochbein spritzen herum. Ohne auf das grässlich gurgelnde Geheul zu achten, sprang Kurt auf den Mann mit dem Messer zu. Das kleine Messer zischte dicht an der Kehle vorbei und traf den Oberarm. Das große Messer fiel zu Boden. Einen Moment standen sie sich gegenüber, dann warf sich der Mann auf sein am Boden liegendes Messer. Genau, als er es fest am Griff gepackt hatte, traf diese Hand der schwere Absatz von Kurts Reitstiefel. Deutlich hörbar brachen alle Mittelhandknochen wie dürre Zweige. Die vierte, noch fast ein Junge, konnte das alles nicht fassen. Schnell drehte er sich um und rannte weg. Mit wenigen Sätzen war Kurt hinter ihm und stellte ihm ein Bein. Aus vollem Lauf stürzte er zu Boden und schlug hart auf. Wimmernd wollte er sich aufraffen, als ihm Kurt fest ins Genick trat. Flach blieb er auf dem Boden liegen.

„Eine Bewegung, nur eine Bewegung, und ich breche dir das Genick. Atme nicht einmal“.

Kurt verstärke den Druck und drückte dabei das Gesicht fest in die Erde.

„Wenn du nur tief einatmest, war das dein letzter Atemzug“, sagte Kurt noch einmal nachdrücklich. Die anderen lagen kampfunfähig auf dem Boden und brüllten und heulten. Kurt griff nach seinem Handy. Er wählte 110.

„Kommen Sie schnell zum Waldeingang, fünfzig Meter unterhalb der Hauptstraße auf dem Weg zum Alten Kloster. Ich bin von vier Männern überfallen worden. Bringen Sie auch Notärzte und Krankenwagen mit. Es gab Verletzte und einer, der ist am Verbluten.“

Ruhig, mit einem Fuß auf dem Nacken von Felix, -Felix Zcech, so hatte er geantwortet, als Kurt ihn nach seinem Namen fragte-, wartete er auf die Polizei und den Krankenwagen. Ab und zu verstärkte er den Druck seines Stiefels. Sofort hielt Felix seinen Atem an.

Bald hörte er das Martinshorn näher kommen. Gerade kam auch Bernharda angeritten, der er ebenfalls Bescheid gesagt hatte.

Mit ihren Pistolen in der Hand stiegen die Polizisten aus.

„Gehen Sie zur Seite, aber schnell“, rief der Kurt nun schon hinlänglich bekannte wichtigtuerische Polizist und fuchtelte mit seiner Pistole.

Kurt ging langsam zwei Meter zur Seite und hob die Hände.

„Wo bleibt der Notarzt?“ fragte Kurt.

„Wir wollten erstmal nach dem Rechten sehen. Wo kommen wir hin, wenn wir bei jeden Anruf gleich einen Notarzt anfordern.“

Von oben herab betrachtete der Polizist die Lage.

„Ihre Verantwortung“, sagte Kurt, „der Mann hier verblutet nur. Beeilen Sie sich, sonst sind Sie der unterlassenden Hilfeleistung schuldig. Los beeilen Sie sich.“

Die letzten Worte hatte Kurt laut gerufen. Der Polizist warf einen Blick auf den leise wimmernden Mann, der langsam immer bleicher wurde. Schnell rief er nach einem Notarzt und dem Rettungshubschrauber.

 

Es wurde alles fotografiert und bezeichnet. Eine rot-weiße Bahn wurde zur Abgrenzung über den Weg gezogen. Fast gleichzeitig mit dem Hubschrauber kamen auch zwei Krankenwagen. Die Verletzten wurden versorgt und in die umliegenden Krankenhäuser zur Aufnahme gebracht.

Felix Zcech stand zitternd bei den Polizisten. Von dem großen feuchten Fleck zwischen den Beinen stieg Uringeruch auf. Er war nicht fähig, nur ein Wort zu sagen. Kurt ging zu ihm und legte seinen Arm um die zitternden Schultern.

„Glück gehabt, mein Junge. Vorsicht ist immer besser als falsche Forschheit“, sagte er väterlich zu ihm. Auch Bernharda ging auf Felix zu. Kurt und Bernharda wechselten einen kurzen Blick, dann nahm sie Felix in ihren Arm und sprach leise und beruhigen mit ihm. Minutenlang konnte sich der junge Mann nicht beruhigen.

Kurt fuhr mit dem Polizeiauto zum Revier, und es wurde ein ausführliches Protokoll angefertigt. Als der Polizist das Messer sehen und konfiszieren wollte, bemerkte Kurt zu seinem Bedauern, dass er es wohl im Kampf verloren haben musste. Sofort wurde ein Wagen zum Tatort zurück geschickt, um es zu suchen. Als er sein Protokoll nach mehrfacher Korrektur unterschrieben hatte, durfte er Bernharda anrufen, um sich abholen zu lassen.

 

Am nächsten Morgen packte Bernharda ihren kleinen Koffer.

„Wann wirst du in Paris landen?“ fragte Kurt.

„Gegen 16 Uhr auf dem Flughafen Charles de Gaulle. Ich werde mich morgen mit Ferdinand treffen.“

Ferdinand war ein alter Freund Bernhardas aus früheren Zeiten im Untergrund. Sie waren auch kurze Zeit ein Paar gewesen; bis Kurt kam. Ferdinand betrieb einen Antiquitätenladen in der Rue Saint-Jaques. Hier kamen die Touristenströme vorbei, die zu Notre Dame wollten. Auf dem Rückweg waren sie von der gewaltigen Kirche so beeindruckt, dass sie gern eine echte Antiquität mit nach Hause nehmen wollten.

Antiquites Prestige stand auf Ferdinands Ladenschild. Er verkaufte Fälschungen und Imitationen für sehr teures Geld. Der hohe Preis deutete Seriosität des Verkäufers und Echtheit der Einzelstücke an. Natürlich konnte Ferdinand zu jedem einzelnen Stück eine entsprechende Expertise liefern. Wenn die Touristen den Schwindel bemerkten, die meisten bemerkten ihn nicht oder wollten ihn nicht bemerken, waren sie schon lange wieder zu Hause, weit von Paris. Viele wollten dann nicht öffentlich zugeben, dass sie so wenig Kunstverstand hatten und auf eine Fälschung hereingefallen waren. Das war Ferdinands Geschäftsprinzip.

Bernharda war mit ihm um 10 Uhr 30 im Geschäft verabredet. Am Ankunftsabend traf sie sich mit einer Reihe von alten Freunden.

 

Nach einem typischen französischen Frühstück, Kaffee und ein Croissant, die Nacht war, wie erwartet, eine lange gewesen, machte sie sich auf den Weg. Es war kurz nach zehn Uhr dreißig. Ferdinand öffnete niemals vor dieser Zeit. Als sie ankam, telefonierte Ferdinand. Er sah sie und beendete sofort das Gespräch mit einem „Pardon“. Sie umarmten sich herzlich und küssten einander links und rechts auf die Wangen. Es waren richtige Küsse, mit Haut-Lippen-Kontakt. Keine dieser sterilen Pseudoküsse, einfach neben die Wangen in die Luft geschmatzt. Ferdinand entschuldigte sich und führte das unterbrochene Telefongespräch weiter. Bernharda schlenderte durch den Laden. Einige Stücke fanden ihre ehrliche Bewunderung. Ihre Finger strichen gerade über die glatte, fast makellose Oberfläche eines Schrankes aus dem 16. Jahrhundert.

„Ein Geschenk Heinrich II. an seine Favoritin Diane de Poitien. Ursprünglich hat er auf Schloß Chenonceau gestanden“, erklärte Ferdinand der dicht hinter Bernharda getreten war.

„Eine wunderbare Arbeit, findest du nicht auch?“, fragte er.

„Ja, wunderschön. Der Schrank hat irgendwie eine Aura“, antwortete Bernharda.

„Ist der für einen Preis von 133 000 Euro überhaupt verkäuflich?“

„Bei guten Antiquitäten ist es wie mit guten Immobilen, der Preis macht das Geschäft, nicht umgekehrt. Gerade wegen des Preises steht der keine sechs Monate hier.“

Bernharda war beeindruckt.

„Was tust du, wenn es ein Kunde bemerkt?“

„Oh, kein Problem. Die meisten merken es nicht, der Rest will es nicht merken oder will nicht, dass man, also Freunde und Bekannte, es merken“, antwortete Ferdinand unbekümmert.

„Aber wenn doch einer reklamiert, oder kommt das nicht vor?“

„Doch, doch, das kommt gelegentlich vor. Ich nehme das Stück ohne Protest zurück und lasse es sogar abholen. Bei einer Gewinnspanne von 1000% gar kein Problem. Ich berechne dafür 10 % vom Verkaufspreis als Auslagen, und jeder ist zufrieden. Am interessantesten sind die Deutschen, die reklamieren. Sie bestehen immer auf Rückzahlung des Gesamtpreises. Ich nehme die Stücke zurück, zahle auch 100 % des Preises zurück und überreiche gleichzeitig einen Gutschein mit dem Recht auf 50 % Preisnachlass auf den nächsten Einkauf. Glaub mir, innerhalb eines Monats stehen sie hier bei mir im Laden und suchen sich das teuerste Stück aus. Ich freue mich über das gute Geschäft, und die Kunden freuen sich über das Schnäppchen. Besonders die Schwaben lassen sich so eine Gelegenheit nicht entgehen.“

Bernharda war wirklich von dem Schrank beeindruckt.

Ist der Schrank echt?“, fragte sie zweifelnd.

„Siehst du, mein Liebling? Natürlich ist der echt, genauso echt wie alles andere hier im Laden. Komm mit, ich zeige dir ein wunderbares Gemälde von Charles Gleyre, der Lehrer von Renoir oder eines von Berthe Moriset, der Ehefrau des Bruders von Monet. Ich habe auch einen exzellenten Pissarro. Allesamt Meisterwerke, deshalb haben sie alle ihren Preis. Unter 50 tausend Euro sind die nicht zu haben.“

Bernharda schaute sich die Bilder der Reihe nach an. Die Gemälde schienen alt und nachgedunkelt, teilweise mit kleinen Beschädigungen.

„Sind das alles Fälschungen?“

„Nein, nicht direkt. Sagen wir, sie sind aus dem Geiste der Künstler heraus erstanden. Fast so, wie viele Originale aus dem Geist der Genies entstanden sind und durch eine Vielzahl ihrer Schüler ausgeführt wurden. Nur jetzt halt viele Jahre später. Von daher betrachtet, keine direkte Fälschung, eher ein Original. Dazu exzellent ausgeführt. Daher ist der Preis gerechtfertigt. Ich kenne da einen Maler, einen wahrer Künstler, auf dem Monte Martre, wo sonst?, der ist von diesem Geist beseelt. Die entsprechenden Maltechniken hat er im Schlaf drauf. Wie viele andere hier auch.“

Ferdinand lachte breit. Glaubte er, was er Bernharda da erzählte? Sicher, sonst wäre er in seinem Geschäft nicht so erfolgreich.

Er nahm Bernharda an ihrer Schulter und zog sie zum Ausgang.

„Machen wir einen kleinen Bummel an der Seine entlang. Du willst etwas mit mir besprechen?“

Ferdinand schloss die Ladentür sorgfältig ab und zog auch das Metallgitter vor den Schaufenstern und der Eingangstür herunter.

„Wir Antiquitätenhändler sind so etwas wie Künstler. Man sieht uns das Nichteinhalten der Geschäftszeiten nach, besonders hier in Frankreich und speziell in Paris. Wir Franzosen sind alle irgendwie Künstler.“

Nach dem Spaziergang gingen sie noch in ein kleines Bistro essen.

Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen. Ich werde für dich kochen“, fragte Ferdinand auf der Straße stehend.

„Nein, danke, diesmal muss ich dich enttäuschen. Ich fliege um 18 Uhr 10 zurück. Aber das nächste Mal, wenn ich hier bin, nehme ich dein Angebot an. Versprochen!“

„Und Bernharda, versprich mir, wenn du wieder nach Paris kommst, wohnst du natürlich bei mir.“

„Ferdinand!“

Bernharda tat empört und drohte schelmenhaft mit dem Zeigefinger, „Du gibst wohl niemals auf. Aber, mein Lieber, es muss dir einfach reichen, wenn ich dir versichere, dass du auf meiner Warteliste ganz oben stehst. Auf Platz eins, sozusagen.“

Bernharda lachte.

„Registriert und wird nicht vergessen. Wie geht es Kurt sonst?“

„Gut! Er wäre gern mit gekommen, aber er kann ja nicht nach Frankreich reisen. Er ist viel ruhiger geworden. Er lässt dich grüßen.“

„Danke, Grüße zurück“.

Ferdinand brachte sie noch zur nächsten Metro.

„Adieu, mein Lieber.“

„Adieu, Bernharda.“

 

In der Rue Beaubourg kannte Bernharda einige nette Geschäfte, die sie nie versäumte zu besuchen, wenn sie in Paris war. Vor allem ging sie zu Clodette Miroux. Das war ein kleiner Laden, nein, man muss sagen, es ist ein kleines Atelier. Clodette war Künstlerin, Designerin und Verkäuferin, aber mehr von erstem und zweitem als vom drittem. Sie stellt Parfum selbst her. In ganz Frankreich und wahrscheinlich in der ganzen Welt gibt es nirgends femininere Düfte als bei Clodette Miroux. Bernharda war vernarrt in diese Düfte und naturgemäß auch Kurt.

 

Der Überfall auf Kurt machte natürlich in der Stadt und in der ganzen Gegend seine Runde. Nach einer Woche wurde es ruhiger. Andere Themen wurden wichtiger. Nur Michelle im Hause Altstädt war weiterhin unter Spannung. Thilo tat zwar alles, um wieder Normalität einziehen zu lassen, aber Michelle verfolgte ihn mit ihren Blicken. Es stand immer die unausgesprochene Frage in ihren Augen: Hast du mit dieser Sache zu tun?

Thilo konnte die Frage in ihren Augen lesen, aber er konnte keine zufrieden stellende Antwort darauf geben. So blieb jeder Versuch der Annäherung und der Beschwichtigung nur ein Versuch.

„Denkst du denn gar nicht an die Kinder?“, immer wieder diese Frage und die damit unausgesprochene Anschuldigung.

 

Drei Tage später, wieder hatte es am Abend heftigen Streit gegeben, fuhr Michelle zur Schule, um Leon abzuholen. Seit dieser Sache holte Michelle die Kinder immer persönlich von der Schule ab. Heute wollten sie in die Stadt fahren, eine Kleinigkeit essen und dann direkt zur Musikschule.

Jetzt wartete sie schon eine Viertel Stunde vor der Schule. Langsam wurde sie unruhig. Die Schulkameraden waren schon alle heraus gekommen. Nach weiteren fünf Minuten Wartezeit stieg sie aus ihrem Wagen und ging in die Schule zum Sekretariat. Dort wurde sie mit großen Augen empfangen.

„Leon ist schon vor zwei Stunden vom Unterricht abgeholt worden.“

Michelle wurde trotz ihrer dunklen Hautfarbe blass. Sie stützte sich auf den Tressen des Sekretariats. Mit zittriger Stimme fragte sie:

„Schon abgeholt worden? Von wem?“

Die Sekretärin wurde jetzt ebenfalls ganz aufgeregt, „Stimmt etwas nicht?“

„Wer hat meinen Leon abgeholt?“

Michelle war schwindelig. Sie konnte keinen Gedanken mehr fassen.

„Vor zwei Stunden hat eine Frau mit französischem Akzent angerufen und sagte, wegen eine dringenden Familienangelegenheit müsse Leon früher aus der Schule abgeholt werden. Ihr Bruder würde kommen und ihn holen. Kurze Zeit später kam ein dunkelhäutiger Mann und nahm Leon mit.“

„Mein Bruder ist tot. Schon lange tot“, jetzt war Michelle hysterisch. Sie schrie und weinte.

Die Tür zum Lehrerzimmer öffnete sich, und Frau Zimmermann-Lehenweiler kam heraus. Als sie gehört hatte, was geschehen war, rief sie mit zitternden Knie und unsicherer Stimme sofort den Direktor, die Polizei und Herrn Altstädt. Michelle war auf dem Besucherstuhl gesunken und weinte hemmungslos.

Thilo war noch vor dem Direktor und der Polizei in der Schule. Beruhigend wollte er Michelle in den Arm nehmen. Sie stieß ihn aber von sich.

„Du bist an allem schuld, du bist an allem schuld. Gib mir meinen Leon wieder“, schleuderte sie ihm entgegen und rannte aus dem Zimmer. Als die Polizei kam, saß sie zusammen gesunken an der Wand im Treppenhaus der Schule.

„Gib mir meinen Leon wieder, mein Kind, mein armes Kind“, wiederholte sie unablässig.

 

Innerhalb von zwei Stunden war ein Sonderkommando der Polizei in der Stadt. Mit Lautsprecherdurchsagen wurde die Bevölkerung um Mithilfe gebeten. Ein Hubschrauber kreiste unablässig über der Stadt.

Thilo und Michelle saßen auf dem Polizeipräsidium einem fremden Polizeibeamten gegenüber. Ruhig und bestimmt sagte er, „Herr Altstädt, lassen Sie ihr Telefon immer in Rufweite und Ihr Handy angeschaltet. Erfahrungsgemäß kommt nach wenigen Stunden der erste Anruf wegen Lösegeldforderungen. Dann haben wir einen Anhaltspunkt.“

„Es kommt keine Lösegeldforderung, das hat andere Gründe“, flüsterte Michelle. Der Polizist blickte fragend zu Herrn Altstädt und Thilo blickte zurück, als wollte er sagen, nichts dran.

„Herr Altstädt, gibt es etwas, das wir wissen müssen?“

 

In diesem Moment traten zwei Polizisten den Raum.“

Wir sind sofort zu den Verdächtigen gefahren. Es hat aber nur eine dunkelhäutige Frau geöffnet. Die behauptete, dass Herr und Frau Unker nach Hannover auf den Pferdemarkt gefahren sind, schon gestern Abend. Außerdem wollten sie nach einem Wachhund schauen. Die Worte klangen, als könnte man ihr glauben. Wir haben das sofort überprüft: Ss stimmt. Es wurde uns mehrfach bestätigt. Die Verdächtigen sind wirklich dort.

 

Nach fürchterlichen Stunden klingelte Thilos Handy. Jetzt wurde es mucksmäuschen still im Zimmer.

Thilo fummelte das Handy aus der Jackentasche. Fast wäre es im noch heruntergefallen, und vor Aufregung fand er nicht sofort die grüne Annahmetaste. Aber das Handy dudelte unerträglich Für Elise. Er drückte die Lauttaste damit alle mithören konnten.

„Hallo.“

„Hallo, Herr Altstädt?“, meldete sich eine Stimme, „hier im Auto sitzt ein junger Mann, er sagte mir, er heiße Leon.“

Der Mann am Telefon sprach ein exzellentes Hochdeutsch. Der französische Akzent war trotzdem deutlich.

„Der kleine Mann hier, übrigens ein sehr intelligenter Junge, ist ganz interessiert an dem Hubschrauber, der so tief hier herum fliegt.“

Michelle konnte sich nicht mehr beherrschen, sie riss Thilo das Handy aus der Hand.

„Wo ist mein Junge. Geben Se mir meinen Jungen wieder“, schrie sie ungehemmt ins Telefon.

„Hallo, Frau Altstädt, Sie sind die treusorgende Mutter? Da kann ich Ihnen aber einen Vorwurf nicht ersparen: passen sie besser auf Ihre Kinder auf.“

Thilo griff energisch nach seinem Handy und nahm es wieder an sich.

„Wo ist mein Sohn? Geht es ihm gut?“

Er zitterte und musste sich setzten.

„Antwort auf ihre zweite Frage: Es geht ihm gut, Antwort auf ihre erste Frage: Hier im Wagen.“

Dem Mann am Telefon schien das Spiel zu gefallen, „Und der Wagen steht auf Ihrem Hof.“

Mit diesem Satz wurde die Leitung unterbrochen.

„Er ist bei uns zu Hause“, schrie Thilo unnötigerweise. Er packte Michelle an der Hand und rannte sie hinter sich herziehend zum Wagen. Der Polizist nahm Funkkontakt zum Hubschrauber auf und rannte dann ebenfalls zum Wagen.

 

Später saßen alle im Wohnzimmer. Der Mann war nicht gefunden worden. Michelle hatte Leon auf ihrem Schoß und hielt in fest umschlungen. Diese Wichtigkeit gefiel Leon.

„Frau Zwirner hat mich aus der Klasse geholt. Dann ist ein Mann gekommen und hat mich mitgenommen. Er hat gesagt, dass ich einen Preis gewonnen habe und ich mich auf den Erlebnispark Steinau freuen soll. Weißt du Mamma, dort waren wir schon im letzten Jahr, und ich dürfte alles fahren und machen. Der Mann hat alles mitgemacht, was ich wollte, und dann haben wir dort gegessen, einen großen Hamburger mit viel Ketchup und Pommes, und ich durfte Cola trinken.“

Er warf seiner Mutter einen triumphierenden Blick zu.

„Dann sind wir hierher gefahren. Der Mann sagte, ich solle solange im Auto bleiben, bis noch eine Überraschung käme. Dann sind ihr und die Polizei gekommen.“

„Wie sah der Mann aus?“ fragte der Beamte.

„Ein Mann halt, sehr nett. Mehr weiß ich nicht“, antwortete Leon.

Weitere Informationen waren nicht zu bekommen.

Teilweise erleichtert zog die Polizei ab.

Leon fühlte sich wie ein Held.

 

Später, als Michelle den schlafenden Leon in sein Bett gebracht hatte, sagte Michelle, „Bring diese Angelegenheit in Ordnung. Du regelst das. Sonst verlasse ich dich und nehme die Kinder mit. Michelle Augen funkelten vor Zorn und Entschlossenheit. Thilo liebte dieses Temperament an ihr. Jetzt fürchtete er ihre Entschlossenheit und Konsequenz.

„Michelle, hab doch Vertrauen, ich habe alles im Griff.“

Eigentlich glaubte er seinen eigenen Worten nicht. Jetzt konnte er keinen Entschluss fassen, er brauchte Zeit.

Sie antwortete nicht einmal, sondern stand auf.

„Eine Woche gebe ich dir. Eine Woche! Solange schlafe ich im Gästezimmer“.

 

Thilo saß am nächsten Morgen kaum am Schreibtisch, da griff er zum roten Handy.

„Guten Morgen, Wolfgang!“

„Guten Morgen Thilo, ich berichte kurz: Wir konnten sehr schnell das Handy orten. Wir haben es auch gefunden. Es lag auf einer Parkbank im Stadtgarten, gegenüber vom Bahnhof. Es war ein schwarzes Handy, ohne Kennung. Keine Fingerabdrücke. Während wir alle zu dir gerast sind, hat sich der Mann in aller Ruhe unbemerkt aus dem Staub gemacht.“

„Die Überwachungskameras vom Bahnhofsvorplatz?“ fragte Thilo, obwohl er die Antwort genau wusste.

„Nichts, die Kameras reichen nicht bis zu dieser Bank. Wir haben also nichts. Absolut nichts.“

Kommissar Ulmer wollte seinen Freund nicht verärgern, aber es gab nichts Entscheidendes zu berichten.

„Wolfgang, ich brauche alle Informationen über diesen Kurt Unker und seiner Frau. Ich will alles wissen. Mach von mir aus eine Anfrage im Zentralcomputer. Übrigens ich habe Benny reden gehört, dass die Unkers mit Gewehren mit Zielfernrohr geschossen haben. Überprüfe, ob die eine Waffenbesitzkarte haben.“

„Haben wir schon überprüft. Du erinnerst dich an den mysteriösen Toten auf dem Motorboot, das ist etwa drei Jahre her? Fragte Ulmer.

„Ja, so ungefähr. Damals war auf einem Boot ein unbekannter Mann erschossen aufgefunden worden“, antwortet Thilo.

„Ja, Wiesbaden hat die Angelegenheit untersucht. Es ist ein Mann auf einem gemieteten Boot erschossen aufgefunden. Der Schuss traf ihn mitten in das rechte Auge. Das Boot trieb ab, so dass man nicht genau ermitteln konnte, wo genau der Mann zu Tode gekommen ist. Der tödliche Schuss hätte hier in unserer Gegend abgeben worden sein. Man hatte damals auf dem Boot ein Präzisionsgewehr bei ihm gefunden. Der Mann war auf der Stelle tot. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurden auch die Unkers befragt. Sie haben beide ein Gewehr und die dazugehörige Besitzkarte. Die beiden sind Jäger. Außerdem wurde der tödliche Schuss mit einem ganz anderen Kaliber: .50 BMG abgegeben. Die Sache verlief später im Sand und wurde ungeklärt zu den Akten gelegt.“

„Wurde damals eine Hausdurchsuchung bei Unkers durchgeführt?“

„Nein, es gab keinen Grund dafür.“

„Welche Kaliber haben die Waffen der Unkers?“

„Ich habe mich damals gewundert, dass solche Scharfschützengewehre zur Jagd verwendet werden. Das waren zwei identische Gewehre: Steyr SSG 69 mit Kaliber 7,62 mm. Waffen, die in erster Linie von Scharfschützen auf weite Entfernungen benutzt werden. Bei der Jagd wird in der Regel nur bis 300 Meter geschossen.“

„Scheiße“, murmelte Thilo, „dann also die Abfrage!“

„Das geht nicht“, sagte Ulmer.

„Was heißt, es gibt keinen ermittlungsrelevanten Grund für eine Abfrage? Mach einfach die Abfrage, da wird schon keiner nachfragen.“

Thilo hörte nochmals kurz zu, dann sagte er, „Übrigens, ich interessiere mich für einige Grundstücke auf Mallorca und habe keine Zeit, sie mir anzusehen. Könntest du nicht mit deiner Frau zusammen das für mich erledigen.“

Er hörte noch einmal kurz zu. Na also, geht doch, dachte er, als er das Gespräch beendete.

Wolfgang Ulmer bekam die Häufung von Ereignissen, die sich um Kurt und Bernharda Unker häuften durchaus mit. Deshalb interessierte auch er sich auf für Herrn und Frau Unker. Wer waren sie? Woher kamen sie?

Zwei Stunden später kam die Antwort auf seine Anfrage: Kurt Unker, geboren 10. Okt. 1954 in Kempten, Bayern. Abitur mit Note 1.3 mit Auszeichnung. Freiwillige Meldung zur Bundeswehr, dort Ausbildung zum Kampfschwimmer und Präzisionsschützen. Unehrenhafte Entlassung, nachdem er einen vorgesetzten Ausbilder angegriffen hatte und schwer verletzt hatte. Danach Eintritt in die Fremdenlegion.

Spitzname: Couteau dangereux. Rückkehr 2004 nach Deutschland. Verheiratet mit Bernharda, Geburtsname unbekannt. Alter: unbekannt, Geburtsort unbekannt. Keine Vorstrafen.

Sofort nachdem er das Dossier gelesen hatte, rief er Thilo an und berichtete.

„Danke“, sagte Thilo nachdenklich. Gibt nichts her, dachte er. Oder doch? Er ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen.

„Herr Fichter, kümmern Sie sich bitte um die Flüge nach Mallorca und Hotelzimmer. Dann lassen Sie die Unterlagen für die Grundstücke zusammen stellen und machen Termine mit den Maklern.“

Thilo saß in seinen Bürosessel tief versunken und schaute aus dem Fenster über den Werkhof in die Ferne. Er dachte und dachte, kam aber zu keinem Ergebnis.

 

Zur gleichen Zeit betrat Kurt das Polizeirevier.

„Ich möchte Herrn Kommissar Ulmer sprechen, sofort.“

Der Beamte, noch recht jung und eifrig, antwortete, „So einfach geht das nicht. Da muss ich beim Chef nachfragen und einen Termin vereinbaren.“

Geduld gehörte nicht zu Kurts Tugenden, aber er nahm sich zusammen und blieb ruhig.

„Bitte kommen Sie später wieder“, sagte der Beamte und drehte sich zu seinen Akten.

Mit einem Sprung war Kurt über den Tresen gesprungen. Mit der linken Hand hielt er den rechten Arm des Beamten fest, der nach der Pistole tasten wollte. Die rechte Hand packte in den Kragen und zog den Mann nach vorn.

„Wir gehen jetzt zusammen zu Herrn Ulmer!“, bellte Kurt. In Herrn Ulmers Zimmer ließ Kurt den Beamten los. Sofort zog der Polizist seine Pistole.

„Hände hoch, sofort“, rief er einen Schritt zurücktretend.

Kurt trat zu ihm und legte seinen Finger auf die Mündung.

„Sie wirken glaubwürdiger, wenn Sie das Ding in Ihrer Hand entsichern.“

Mit einer leichten Drehung hatte er die Pistole in seiner Hand.

„Lassen Sie es gut sein“, sagte Kommissar Ulmer.

„Ich muss Sie sprechen, allein“, sagte Kurt und schubste den verdatterten Beamten zur Tür hinaus.

„Herr Ulmer, ich will es kurz machen. Sie haben heute Morgen in meiner Vorgeschichte geforscht?“

„Nein, wie kommen Sie darauf?“ fragte Ulmer unschuldig.

„Ich weiß, dass es so ist, das muss Ihnen genügen. Also, warum?“ Kurts Ton wurde eine Spur drohender.

„Ich weiß nicht, worüber Sie sprechen. Jetzt verlassen Sie mein Büro.“

Er stand auf, um das Gespräch zu beenden.

„Können Sie bei dieser Meinung bleiben, wenn es zu einer Untersuchung kommt?“ fragte er, ohne Anstalten aufzustehen.

„Sie haben ohne Grund eine Abfrage über mich im Zentralcomputer gemacht, Das kann Sie Ihren Job kosten. Verstanden? Also, warum?“

Wolfgang Ulmer ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

„Nein, das würde ich niemals machen“.

„Herr Ulmer, ich weiß, dass Sie eine Abfrage gemacht haben, das genügt, um sie um Ihre Pension zu bringen. Ist es das wert?“ fragte Kurt ungeduldig.

„Mensch! Mann! Denken sie nach!“, rief er ärgerlich, „Ihre Altersversorgung liegt in meiner Hand. So reden Sie doch, Sie schweigen sich um Kopf und Kragen.“

Wolfgang Ulmer war blass, dann schüttelte er den Kopf.

Kurt hob bedauernd die Schultern.

„Dann die Untersuchung“, sagte Kurt und ging.

Die Sache stinkt. Die Sache stinkt ganz gewaltig, dachte Ulmer, ich muss jetzt ruhig bleiben.

Schnell rief er Thilo an. Aber der reagierte nur ärgerlich.

„Pech gehabt, Berufsrisiko. Jetzt sollten Sie natürlich nicht nach Mallorca fliegen.“

 

„Sollen wir ihm noch eine Chance geben?“, fragte Bernharda auf einem geschälten Apfelschnitz kauend.

„Eine Chance, die letzte, soll er noch haben. Er hat so eine nette Frau und tolle Kinder“, antwortete Kurt und griff ebenfalls zum Apfelschnitz.

„Morgen Früh hole ich ihn“, sagte Kurt kauend.

 

Nach dem Frühstück bestieg Kurt den Rover und fuhr zu Altstädt. Er hielt den Wagen direkt vor der Treppe des Bürogebäudes. Schnell ging er zum Empfang.

„Wo ist das Büro von Thilo Altstädt?“

Die blondierte Dame hinter dem Tresen blickte unsicher.

„Herr Altstädt ist in einer Besprechung und will nicht gestört werden. Er kann Sie nicht empfangen.“

Kurt griff über den Tresen, fasste sie durch ihre Bluse zwischen den Brüsten am BH und zog sie hoch und zu sich hin.

„Ich hab nicht gefragt, ob er jemanden empfängt. Ich habe gefragt, wo sein Zimmer ist.“

Sie zappelte, weil sie kaum Luft bekam.

„Zweiter Stock, direkt gegenüber der Treppe“, ächzte sie.

Kurt ließ sie fallen und rannte die Treppe hinauf.

Ohne anzuklopfen ging er in den Raum. Herr Fichter telefonierte gerade. Wahrscheinlich hatte die Dame vom Empfang angerufen.

„Halt, was erlauben Sie sich“, rief er laut und kam um seinen Schreibtisch herum auf Kurt zu.

„Ist er da drin?“ fragte er und ging auf die geschlossene Tür zu.

„Halt, Herr Altstädt ist in einer Besprechung und kann nicht gestört werden.“

Kurt ging trotzdem weiter. Herr Fichter trat Kurt in den Weg. Es gab ein kurzes Gerangel und ein Gurgeln. Kurt hatte Herrn Fichter fest im Schwitzkasten seines linken Armes. Mit der rechten Hand öffnete die Tür und stieß sie weit auf. Mit Herrn Fichter unter dem Arm nach sich ziehend trat Kurt in das Zimmer.

Alle standen ruckartig auf. Kurt ging bis zur Mitte des Raumes. Herr Fichter strampelte und versuchte sich zu befreien. Als Kurt den Druck erhöhte, blieb er ruhig und schlaff. Zu den beiden Besuchern und Gesprächspartnern von Thilo gerichtet, sagte Kurt, „Die Besprechung ist beendet. Verschwinden Sie.“

Der dickliche Ältere machte große Augen und sah zu Herrn Altstädt.

„Soll ich die Polizei rufen?“

Der jüngere, noch schlanke Mann ging wild entschlossen, mit geballter Faust auf Kurt zu. Ohne Herrn Fichter loszulassen griff Kurt nach der Seidenkrawatte, natürlich quer-längsgestreift, als Zeichen geschmackvoller Unterordnung. Er drehte sie zweimal um seine Hand und zog zu und stellte ihn die Luft ab.

„Jetzt aber raus hier, aber dalli.“

Irgendwie musste er lachen: Hampelmänner und Wichtigtuer, aber keinen Mumm. Mit Herrn Fichter unter dem linken Arm und an der rechten Hand den anderen hängend, wandte er sich zu Thilo Altstädt. Gleichzeitig ließ er beide los und beide sackten jämmerlich zu Boden.

„Ich will mit Ihnen reden, sofort. Kommen Sie mit!“

Thilo war hinter seinem Schreibtisch stehen geblieben. Ihre Blicke trafen sich.

„Gut, ich komme mit Ihnen. Aber ich brauche noch ein paar Minuten, um mich frisch zu machen. Warten sie unten auf mich“, sagte er ruhig und bestimmt.

Kurt stieg über die beiden Männer und wartete in seinem Wagen.

„Sie sind noch oben, kümmern Sie sich“, rief er im Vorbeigehen der blonden Dame zu.

 

Zusammen mit Herrn Fichter kam Thilo herunter und stieg zu Kurt in den Wagen.

„Wohin fahren wir?“, fragte er.

„Zu uns nach Hause. Dort lässt es sich in aller Ruhe sprechen. Bernharda hat Apfelkuchen gebacken, den müssen Sie probieren.“

Kurt führte Thilo auf die Veranda.

„Es ist noch etwas frisch hier draußen, es wird langsam Herbst. Bitte legen Sie trotzdem Ihre Jacke ab und schalten Sie ihre Handy aus, alle. Es soll ja niemand mithören, oder?“

Thilo zog seine Jacke aus und stellte das Handy aus.

„Auch das andere in ihrer Hosentasche, bitte“, sagte Kurt, „und das dritte im Strumpf auch noch.“

Schade dachte Thilo, das wäre die Möglichkeit gewesen.

Bernharda brachte Tee und Kuchen.

Kurt nippte am Tee und nahm eine Gabel vom Kuchen. Kauend meinte er zu Thilo:

„Dieses Gespräch ist Ihre letzte Chance, nutzen Sie sie, um Ihrer Familie willen.“

„Was schlagen Sie vor?“ fragte Thilo abwartend.

„Tragen wir es wie Männer aus. Jeder bekommt ein Gewehr, und wir gehen auf eine Distanz, von sagen wir 200 Meter, und dann schießen wir. Ganz einfach. Wer trifft, hat gewonnen. Was meinen Sie dazu. Wir sind doch Männer.“

Kurt hatte noch eine Gabel in den Mund geschoben.

„Bernharda, der Kuchen ist vorzüglich“, sagte er zu Bernharda gewandt.

Thilos Herz schlug fester, er spürte ein leises Kribbeln unter der Kopfhaut. ‚Er war seit Jahren im Sportschützenverein von Fulda. Gerade vor zwei Monaten wurde er wieder Vereinsmeister. Er war mehrfacher hessischer Meister und dritter deutscher Meister vor einem Jahr. Ja, er hatte beste Chancen. Er wollte gerade das Angebot annehmen, als sein Blick in die Augen Kurts fiel. Er sah die Ruhe und Gelassenheit in diesem Blick, und er sah auch die Sicherheit in das eigene Können. Dieser Mann würde zwischen seine Augen zielen, und er würde schießen, und er würde treffen. Er schüttelte unbewusst den Kopf.

„Gute Wahl“, hörte er Kurt sagen.

„Welches Ziel“, fragte Kurt den überraschten Thilo und deutete auf zwei Flaschen, in einer Entfernung von mehr als fünfhundert Metern, „und wer soll zuerst schießen?“

„Linke, grüne Flasche“, sagte Thilo, „und Sie schießen zuerst.“

Kurt griff nach einem der Gewehre.

„Zählen Sie bis fünf“, befahl er.

Bei zwei schoss er, und die Flasche zerbarst.

„Jetzt Sie!“, sagte er und reichte Thilo das Gewehr. Thilos Hände waren doch feucht schweißig. Was soll´s, es ist nur ein Messen, dachte er.

„Eins, zwei, drei, vier“, Kurt zählte betont langsam. Bei vier schoss Thilo, aber die Flasche bewegte sich nicht einen Millimeter, auch nicht vom Geschosswind. Thilo war doch beeindruckt.

„Sehen Sie, wie gut ihre Wahl war“, sagte Kurt und räumte die Gewehre zur Seite.

„Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen.“

Kurt goss sich seine Tasse voll. Thilo hatte nur einen kleinen Schluck genommen.

„Ich war vor Jahren irgendwo in Afrika, das Land spielt keine Rolle, der persönliche Bodygard von Orlanda, der Lieblingstochter eines Stammesfürsten. Orlanda war ein liebes, aufgewecktes Mädchen von 6 Jahren. Ich liebte sie fast wie meine eigene Tochter. Den ganzen Tag musste ich ihre Fragen beantworten. Sie wich nicht von meiner Seite und ich natürlich auch nicht von ihrer. Ich schlief im Zimmer vor ihrem Zimmer und jeder, der in ihr Zimmer wollte musste durch mein Zimmer kommen. Durch eine Intrige wurde meine Integrität angezweifelt. In Afrika werden solche Probleme sofort und endgültig beseitigt. Ich wurde durch eine Sekretärin gewarnt und konnte mich gerade noch in Orlandas Zimmer retten. Ein persönlicher Mitarbeiter Abebes, dem Vater von Orlanda, trat die Zimmertür ein. Er fand mich auf einem Stuhl sitzend, Orlanda auf meinem Schoß sitzend, mit meinem Messer an ihrer Kehle. Thomas, der Spezialmitarbeiter ließ seine Pistole sinken. Er war unsicher und rief nach Abebe. Dieser kam sofort ins Kinderzimmer. Er blieb an der Tür stehen, und wir blickten uns in die Augen. Langsam kam er auf uns zu. Schritt für Schritt. Er strich Orlanda über ihre Locken und ihre Schleife, die sie immer im Haar trug. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Als er durch die Tür ging, sagte er: „Kill him“. Ich machte eine ruckartige Bewegung und diese Bewegung rettete mein Leben. Die Kugel verfehlte ihr Ziel. Sie trat etwas oberhalb meines Herzens ein und prallte an eine Rippe ab, und sie trat seitlich unter der Achsel wieder aus.“

Bei diesen Worten riss er sich das T-Shirt hoch, und Thilo konnte die tiefe Narbe sehen, die das Projektil hinterlassen hatte. Thilo konnte genau die Einschussstelle und die Austrittsstelle sehen. Beide waren schlecht vernarbt.

„Jetzt mein Vorschlag: Sie verzichten auf Ihre Apartments und bauen stattdessen eine Behandlungsstätte für traumarisierte Kinder. Akzeptieren Sie unseren Vorschlag, dürfen sie auch mit ihren Baufahrzeugen über unser Grundstück fahren. Denken Sie, dass Sie der große Wohltäter sind und damit der eigentliche Gewinner. Lehnen Sie ab, geht der Krieg weiter, und Sie verlieren alles. Morgen um neun Uhr erwarte ich Sie an diesem Tisch.“

Thilo war ganz benommen und ging grußlos. Er hatte vergessen, dass er ohne Auto hier war, und er vergaß auch seine Jacke mit den Handys.

 

Sobald Thilo verschwunden war, kam Bernharda auf die Terrasse.

„Du alter Fuchs, du hast nichts verlernt, aber auch garnichts“, sagte sie liebevoll bewundernd.

„Der alte Trick mit dem abgefeiltem Projektil und der doppelten Wahl. Er hatte keine Chance.“

Sie küsste ihn hingebungsvoll. Dann holte sie die Gewehre. Das erste war leer, das zweite hatte zwei Kugeln im Magazin. Diese ließ sie in ihre Hand fallen.

„Aha“, sagte sie und streckte eine Kugel in die Höhe.

„So wie du diese abgefeilt hast, musste sie im Flug zerplatzen. Beim ersten Gewehr war die zweite Kugel abgefeilt, nicht wahr?“

Kurt grinste zufrieden. Bernharda warf die Projektile ins Gras und küsste ihn voller Liebe fest auf den Mund. Sie küssten sich solange bis ihre Lippen bluteten. Beide leckten sie das Blut und den süßen Geschmack ab.

 

Am nächsten Morgen erschien Thilo pünktlich.

„Tee oder Kaffee?“, fragte Bernharda.

„Tee! Danke.“

Thilo war freundlich und aufgeräumt, fast beschwingt.

„Und?“, fragte Kurt. Er schien nicht angespannt, sondern nur gespannt. Er wollte einfach die Entscheidung Thilos wissen.

„Einverstanden“, sagte dieser nur, „Ich weiß, wann es genug ist.“

„Das Kinderdorf?“ fragte Bernharda nach.

„Ja!“

„Gute Entscheidung. Sie wahren ihr Gesicht, und alle werden sie als Wohltäter feiern.“

Bernharda stand auf und holte ihren Apfelbrand und zwei Gläser.

„Auf Ihre kluge Entscheidung.“

Bernharda hab ihr Glas.

„Auf das Kinderdorf und darauf, dass ich dafür mit meinen Baufahrzeugen über ihr Grundstück fahren darf.“

Auch Thilo hob sein Glas. Er trank aber nicht, auch kein kleines Nippen. Aus Erfahrung wird man klug. Er lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück und erhob erneut sein Glas.

„Bitte, Herr Unker, beantworten Sie mir eine Frage?“

„Gern“, schmunzelte Kurt. Er wusste, welche Frage Thilo umtrieb.

„Sie wollen wissen, wie die Sache mit Orlanda und Abebe weiterging?“

Thilo nickte.

„Nun, Herr Abebe ist ein kluger, ja Intelligenter Mann. Er wusste, dass ich ein toter Mann war, und er wusste, dass ich es wusste. Es hätte sich nichts an meinem Tod geändert, wenn ich Orlanda getötet hätte. Er wusste also, dass ich es nicht tun würde. Die ruckartige Bewegung, die mir letztlich das Leben rettete, war, als ich Orlanda von meinem Schoß schleuderte und mein Messer warf. Aber eine Pistolenkugel fliegt schneller als ein Messer. Sie wollen sicher auch wissen, was aus Orlanda und Herrn Abebe geworden ist. Nun, Herr Abebe hat politisch Karriere gemacht. Er ist heute zweiter Botschafter seines Landes in Schweden. Für Orlanda habe ich die Patenschaft übernommen. Sie studiert zurzeit in Berlin Germanistik und internationale Diplomatie. Sie haben Sie schon häufiger gesehen, wenn ein schwarzer Wirbelwind über die Felder fegt. Sie reitet wie der Leibhaftige.“

Kurts Augen leuchteten vor väterlichem Glück.

„Herr Abebe kommt auch manchmal zu uns, aber leider hat er viel zu tun.“

Thilo schüttelte den Kopf.

„Hassen Sie den Mann denn nicht, der Sie töten lassen wollte?“ fragte er ungläubig.

„Nein, warum auch? Das damals war ja nichts Persönliches. In dieser Situation ist das wie im Krieg: Sie erschießen einen Soldaten, ohne ihn zu kennen. Vielleicht ist er ja ein ganz netter Kerl.“

Thilo stand auf.

„Also abgemacht, ich darf über Ihr Grundstück fahren?“

„Abgemacht“, sagte Bernharda.

„Abgemacht“, sagte auch Kurt.

Alle gaben einander die Hand.

Kurt begleitete Thilo zum Wagen.

„Übrigens“, sagte er leise, „ganz im Vertrauen gesagt, wenn Sie uns linken, sind sie tot.“

 

Bernharda und Kurt setzten ihr Frühstück fort.

„Glaubst du, er betrügt uns?“ fragte Bernharda.

„Ich weiß es nicht, aber wir werden aufmerksam sein“, antwortete Kurt.

„Wir zwei sind richtig gut, unüberwindlich, wie ein steiler Berg.“

Bernharda beugte sich zu Kurt, und wieder küssten sie sie lang, diesmal voller Zärtlichkeit. Lange blickten sie einander in ihre Augen. Ihr Blick sagte, wir lieben uns, wir gehören zusammen, nichts kann uns trennen, nur der Tod, und der war bisher unser Freund.

Wenige Stunden später begannen die Baufahrzeuge mit dem Abriss des Altenteils des Gutes.

 

 

Epilog

 

Knapp fünf Monate später saßen Bernharda und Kurt zusammen am Esstisch.

„Hast du gelesen? Thilo Altstädt ist tot.“

„Der muss richtige Feinde gehabt haben!“

„Erschossen! Erschossen auf der Veranda sitzend. Seine Frau war gerade die Kinder in die Kirche fahren.“

„Perfekter Zeitpunkt.“

„Kaliber ,50 BMG.“

„Hochwertiges Material“, sagte Kurt anerkennend.

„Die Polizei sagt, der Schuss wurde aus über 1000 Meter abgeben und traf genau zwischen die Augen.“

„Erstklassiger Schütze“, kommentierte Kurt voller Bewunderung.

„Ja, es ist immer gut, richtige Freunde zu haben“, sagte Bernharda kauend.

„Ja, und es ist tödlich, richtige Feinde zu haben.“

Kurt griff zur Erdbeermarmelade.

„Selbstüberschätzung und Eitelkeit sind häufig die schlimmsten Gegner und manchmal sogar tödlich.“

 

Copyright Dr. Gerhard Langenberger

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