Monat: Mai 2016

  • Beitrag zur Lesung „Gärten“, Moderation Jürgen Rogge, Würzburg 2016

     

    Mein Freund Ralph führte bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren eine Allgemeinarztpraxis im benachbarten Renningen. Jetzt ist er wie ich regelmäßig in der Notfallpraxis Leonberg tätig. Bei dieser Gelegenheit kamen wir im vergangenen Sommer auf meine Fotografien von Blumen und Tieren zu sprechen. Er fragte mich: „Weißt du eigentlich, dass wir im Umkreis von zwanzig Kilometern einige kleine Naturschutzgebiete haben, in denen du sehr seltene Pflanzen und sogar fast alle deutsche Wild-Orchideen sehen kannst?“

    Nein, das wusste ich nicht, aber ich bat ihn, mich dorthin zu führen, denn ich wusste, dass Ralph ein exzellenter Hobby-Botaniker ist, der immer wieder Führungen durch diese Biotope leitet. Deshalb vereinbarten wir rasch einen Termin für eine gemeinsame Wanderung. Aus diesem einen Vormittag sind inzwischen mehrere für mich sehr lehrreiche Spaziergänge durch Wald und Flur geworden. Jedes Mal führte mich Ralph an eine andere Wiese, in einen anderen Wald, auf eine andere Heidelandschaft. Ich bekam meinen Privat-Unterricht, gespickt mit lateinischen Namen und am Beispiel erklärten Wesen der Pflanzen.

    Er zog aus seiner Tasche eine Lupe heraus. „Schau mal, dieses Johanniskrautblatt (Hypericum perforatum). Siehst du die winzigen kleinen Löcher in diesem Blatt? Die Blätter sind aber gar nicht perforiert, sondern sie haben kleine Bläschen, in denen Hypericin erhalten ist. Du verschreibst doch auch Johanniskrautextrakt in der Praxis gegen depressive Verstimmung.“ Ich war so begeistert von dem Blatt unter der Lupe, dass ich es durch das Vergrößerungsglas mit der Makrolinse fotografierte.

    „Kennst du den Unterschied zwischen einer echten Kamille (Matricaria chamomilla) und den anderen Formen der Kamille?“ Er holte aus seinem Umhängebeutel ein Taschenmesser und schnitt den Blütenboden der Pflanze auf: „Das ist eine echte! Der Blütenboden ist hohl! Dieser Blütenboden ist bei allen anderen Formen gefüllt!“

    „Ach, schau mal, hier steht Salbei (Salvia offinialis).“ Er nahm eine Blüte, riss einen kleinen Strohhalm aus der Wiese, führte ihn langsam in die Blüte und erklärte: „Wenn die Biene anfliegt – das ist jetzt der Strohhalm – und auf den Blütenboden drückt, gibt es hier einen Mechanismus, der die Blütenstängel aus der Blüte heraus auf den Rücken der Biene kippt und den Blütenstaub aufträgt. Dann fliegt die Biene mit Salbeinektar im Magen und Blütenpollen auf den Flügeln wieder fort und bestäubt andere Pflanzen.“

    Bei jedem der Spaziergänge sah und hörte ich mehr, als ich mir manchmal nicht merken konnte. Deshalb fragte Ralph mich immer wieder nach den Namen und Unterschieden der Pflanzen. Ich habe den Eindruck, er kennt jede mit Vor- und Nachnamen und die lateinische Bezeichnung sowieso. Nebenbei erklärte Ralph mir viele medizinische Anwendungen der Phytotherapie, die ich noch nicht wusste und die er in seiner Praxis oft angewendet hatte.

    Beim nächsten Spaziergang schlenderten wir am späten Vormittag über eine am Südhang in einem Wäldchen gelegene Sonnenwiese mit Wachholdersträuchern. Hier zeigte Ralph mir eine überwältigende Sammlung von wilden Orchideen: Knabenkraut, Stendelwurz, Mücken-Händelwurz, Bocksriemenzunge, Hummel-Ragwurz, Bienen-Ragwurz, Pyramidenorchis. Und da stand noch einer großer Busch Schwarze Tollkirsche in voller Blüte. Herrliche Bläulinge und Zitronenfalter flatterten von Duft zu Duft, die Heuschrecken hüpften von Halm zu Halm. Ich kam gar nicht nach mit Fotografieren, Anschauen, Zuhören, Staunen. Dann setzten wir uns auf eine Bank und waren einfach dankbar, dass wir es uns leisten können, am hellen Werktag mit so viel Genuss mitten in der Natur uns an ihrem Schätzen zu freuen. Und wenn Ralph sich nicht sicher ist, welche Blume er da in der Hand hat, schlägt er in seinem Pflanzenbuch nach, das er immer in der Tasche mit sich trägt.

    Diese Orchideen-Wiese besuchten wir auch an einem kalten und sonnigen Wintertag. In der funkelnden Schneedecke sahen wir Fuchsspuren, die typisch in einer geraden Linie in den Schnee gedrückt waren. An einem Wacholder schaffte ich es, mit Schnellbildfunktion die Sonne in einem fallenden Schneewassertropfen einzufangen.

    Eines Tages im Sommer rief mich Ralph an: „Ich habe eine Schwanenblume gefunden – ganz hier in der Nähe! Die ist ganz selten. Du musst kommen, ich zeig sie Dir!“ Er brachte mich an einen kleinen Bachlauf, und natürlich hätte ich die schöne Blume nicht gesehen und schon gar nicht wertzuschätzen gewusst, wenn Ralph mir die Rarität nicht gezeigt hätte.

    Das nächste Mal brachte er mich zu einer Herkulesstaude, auch als Riesenbärenklau bekannt, am Rand einer viel befahrenen Straße. Wir standen vor der mannshohen Staude, und ich wollte sie anfassen, da stoppte Ralph mich gerade noch rechtzeitig: „Nicht anfassen! Um Himmelwillen, das macht schreckliche Hautausschläge!“

    Ralph und ich genossen inzwischen mehrere stundenlange Spaziergänge. Ihm verdanke ich die Bekanntschaft mit der großartigen und vielseitigen Landschaft in unserer unmittelbaren Nähe, die ich nicht kannte, obwohl ich hier immer gelebt habe. Deshalb habe ich mir inzwischen einige Pflanzenbestimmungsbücher gekauft und freue mich daran, nachzuschlagen und Neues zu lernen.

    Nach unseren Touren kamen wir zurück in Ralphs Haus. Dort hat seine Frau einen wunderbaren Garten angelegt. Ralph sagte: „Gudrun ist für den Garten zuständig, da kennt sie jede Pflanze persönlich. Und ich weiß hier nicht so gut Bescheid wie in Wald und Wiese.“

    Das Faszinierende für mich als Gast in diesem Garten ist die Harmonie, die er ausstrahlt. Da gibt es Ruheplätze, Arbeitsplätze, einen Nutzgarten und einen Ziergarten – alles schön gestaltet als eine Einheit. Da Ralph auch ein sehr vielseitig begabter Handwerker mit hervorragend eingerichteter Werkstatt ist und Gudrun neben ihrem Schuldienst viele künstlerische Arbeiten macht mit eigenem Brennofen für den Ton, haben die Eheleute einige gemeinsame handwerklich-künstlerische Projekte geschaffen. Am selbst gebauten Gartenhaus hängt zum Beispiel eine Leiter. Sie sieht aus wie eine Drahtleiter, besteht aber aus Sprossen, die aus verschieden farbigem Ton gebrannt sind. Eine witzige Umdeutung des Wortes Tonleiter.

    Zuhause lud ich meine Bilder in den PC, und Ralph bot sich immer an, alle mit mir zu beschriften. Das begeisterte ihn so, dass er sich sogar eine neue Kamera kaufte, um bessere Makroaufnahmen machen zu können.

    Als Ralph sich an seine neue Kamera gewöhnt hatte, schlug ich ihm vor, mit mir in die Wilhelma zu gehen, das ist der botanisch-zoologische Garten in Stuttgart. Hier kannte ich mich aus und zeigte Ralph meine Lieblingsplätze. Die Landschaft dort verbindet in einzigartiger Weise die Fülle von Tierwelt und Botanik. Der kleine Wald aus Mammutbäumen (Sequoia gigantea), die reichhaltig mit seltenen Pflanzen bestückten Gewächshäuser und die neue Primaten-Anlage mit ihrem Gorilla-Kinder-garten sind meine Hauptziele. Bei jedem Besuch entdecke ich etwas Neues und freue mich darüber.

    Wir haben jetzt ein gemeinsames Projekt vereinbart. Jeder hat sich einen Baum gesucht, den wir mindestens einmal im Monat fotografieren wollen, um die jahreszeitlichen Veränderungen bewusst zu erleben und zu dokumentieren. Ich beobachte eine weit ausladende Eiche, die allein und mitten in einem großen Feld steht. Ralph hat einen mächtigen Apfelbaum entdeckt, vom dem er schon jetzt ein leuchtend buntes Herbstbild vergrößert in der Wohnung aufgehängt hat.

    Ralph plant zurzeit ein eigenes Pflanzenbuch mit Fotos und medizinischem Wissen. Ich fotografiere mehr und freue mich daran, dass Ralph mir den großen Garten der Naturschutzgebiete in unserer Gegend gezeigt hat. Aber wenn wir zu zweit durch die Landschaft schlendern, lerne ich mehr über Botanik. Sie ist das Ziel meiner gelegentlichen Fotostunden, auch wenn Ralph nicht mitgehen kann. Ich bin dankbar, dass wir die Freude an der Natur gemeinsam genießen können. Das ist eine willkommene Abwechslung zu unserer Praxisarbeit und für mich eine Entdeckung im Alter.

     

  • Betrag zur Lesung „Werte und Wertewandel) beim BDSÄ-Kongress 2916

     

    Ganz verschiedene Werte und Wertungen

     

    Anstatt eine theoretische philosophische Abhandlung zu diesem wichtigen Thema zu schreiben, will ich an einigen knapp skizzierten Beispielen aus meinem Alltag zeigen, wie unterschiedlich Werte erlebt und geäußert werden.

     

    Der Patient in der Notfallpraxis sagt: „Gestern habe ich mir den Zeigefinger in der Tür geprellt. Da bin ich heute Nacht wegen der Schmerzen durch die Hölle gegangen.“

     

    Die fünfundzwanzigjährige Frau fährt im Elektrorollstuhl in das Behandlungszimmer. Ich frage, warum sie im Rollstuhl sitzt.

    Sie antwortet lachend: „Ich habe eine angeborene Zerebralparese und kann seit ein paar Monaten nicht einmal mehr stehen. Außerdem habe ich regelmäßig epileptische Anfälle. Jetzt komme ich wegen meiner fieberhaften Grippe. Aber mir geht´s gut.“

     

    Der dreijährige bis jetzt gesunde Junge sagt zu seiner Mutter: „Jetzt ist alles dunkel. Warum hast Du das Licht ausgemacht? Mach es wieder an!“ –

    Der Junge war plötzlich auf beiden Augen blind geworden. Wenige Stunden später sahen die Ärzte im Schädel-Comptertomogramm Metastasen im Kleinhirn und an der Kreuzung der Sehnerven.

     

    Eine Frau mit metastasierendem Bronchialkarzinom im Endstadium, die im Pflegeheim liegt, sagt zu mir: „Wenn Sie mich noch einmal besuchen wollen, müssen Sie es bald tun. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Das schönste Erlebnis heute war, als die Schwester mir ein Glas warme Milch gebracht hat. Die Liebe, die ich hier empfange, ist ein großes Geschenk, für das ich unendlich dankbar bin.“

     

    Als Arzt in der Neurologischen Reha-Klinik nahm ich einen Patienten nach Schlaganfall auf meiner Station auf. Nach dem ausführlichen Gespräch mit Untersuchung fragte die Ehefrau: „Was kann ich noch für meinen Mann tun?“

    Ich legte mein Buch „Wenn das Licht naht – der würdige Umgang mit schwer kranken, sterbenden und genesenden Menschen“ auf den Tisch.

    Sie war verblüfft und lachte mich an. „Oh, Sie haben das geschrieben! – Dieses Buch hat mich auf der Intensivstation in München in den letzten Wochen am Bett meines Mannes am Leben gehalten. Eine Schwester hat es mir ausgeliehen.“

     

    Die zwanzigjährige Frau ägyptischer Abstammung sagt in der Sprechstunde: „Gottseidank bin ich nicht schwanger. Wenn mein Vater wüsste, dass ich einen Freund habe und mit ihm schlafe, würde er zuerst meinen Freund und dann mich umbringen.“

     

    Bei einem Hausbesuch in einer sehr wertvoll eingerichteten Villa werde ich in das ehemalige Arbeitszimmer des Hausherrn geführt. Jetzt ist es sein Schlafzimmer – mit Blick in den wunderbar gepflegten Garten. Der Mann liegt seit zwei Jahren nach Schlaganfall im Wachkoma und atmet spontan durch eine Kanüle in der Luftröhre, seine Augen sind geschlossen. Er reagiert nicht auf meinen Gruß.

    Seine Frau sagt: „Jeder Tag, den ich ihn hier pflegen darf, ist ein Geschenk für mich, für das ich jeden Tag dankbar bin. Und trotzdem hoffe ich, dass er bald friedlich einschlafen darf. Jeden Tag begrüße ich meinen Mann – und nehme ein bisschen Abschied.“

     

    In der Praxis habe ich eine Woche lang einen ägyptischen Mann behandelt, der seine in Leonberg verheiratete Tochter besuchte, nicht viel Geld hatte und schon die überstürzte Heimreise plante. Ich habe ihn dann kostenlos behandelt.

    Bei seinem letzten Besuch in der Praxis kniete seine Frau beim Abschied vor mir nieder, nahm meine beiden Hände und sagte etwas, was die Tochter übersetzte: „Ich bitte Gott, dass er mir zehn Lebensjahre nimmt und sie Ihnen schenkt.“

    Eine Frau mittleren Alters kam nach langem Krankenhausaufenthalt in die Sprechstunde, legte einen langen Arztbrief auf den Tisch und fragte, ob ich sie als neue Patientin annehme. Ich überflog den Brief und sah eine lebensbedrohliche Diagnose mit einigen Komplikationen und zwei Reanimationen.

    Ich sagte anerkennend: „Da haben Sie aber viel durchgemacht. Und die Ärzte haben Ihnen wirklich geholfen.“

    Die Frau antwortete wütend: „Das ist ein Scheiß-Krankenhaus!“

    „Wieso das denn?“

    „Da hat doch tatsächlich die Schwester an einem Morgen vergessen, mir einen Löffel zum Joghurt zu bringen!“

     

    Die Frau im Endstadium einer bösartigen Erkrankung wird von einem mir bekannten Hausarzt gefragt: „Was ist Ihnen denn noch wichtig? Gibt es etwas, was Sie unbedingt noch erleben wollen?“

    Die Frau sagt nach einiger Überlegung: „Der Haushalt muss aufgeräumt sein!“

     

    Mein Freund Nabil stammt aus Syrien. Nach dem Medizinstudium kam er mit seiner jungen Frau nach Deutschland und wurde Internist und Radiologe. Er hatte seit 1984 über viele Jahre seine Praxis im Haus neben meiner Praxis. Jetzt ist er wie ich Rentner, arbeitet in der Notfallpraxis weiter und leitet noch das Nuklearmedizinische Zentrum im Krankenhaus Sindelfingen. Häufig wird er als Übersetzer gebraucht, wenn Flüchtlinge aus den arabischen Ländern behandelt werden sollen. Nabil hat mir die beiden folgenden Geschichten erzählt.

    Ein 24-jähriger schlanker und gut aussehender Mann kommt mit nachhängendem rechtem Bein, spastischer Arm- und Handlähmung und Sprachstörung in die Klinik. Nach der Ursache seiner Lähmung gefragt berichtet er, ein ungarischer Grenzsoldat habe ihn bei der Flucht mit einem Elektroschockgerät mehrfach heftig auf die linke Schädel-seite geschlagen, dann habe es im Kopf geblutet. –

    Nabil fragt nach: „Wäre es nicht besser gewesen, wenn Sie in Syrien geblieben wären?“ –

    „Nein, ganz sicher nicht, die Regierungstruppen und die Rebellentruppen wollten mich zum Wehrdienst einziehen. Ich wollte nicht kämpfen. Wenn ich geblieben wäre, hätten Sie mich erschossen. Es ist alles gut. Ich bin hier und lebe!“

     

    Nabil machte von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in einer Flüchtlingsunterkunft in Leonberg und traf dort eine junge Familie aus Syrien.

    Der Ehemann erzählte: „Wir wurden täglich mit Bomben beschossen, in unserer Straße stand kein Haus mehr. Wir hatten nichts mehr, wir konnten nichts anders tun, als zu Fuß zur türkischen Grenze zu wandern. Meine Frau war im neunten Monat schwanger, unser eineinhalbjähriger Sohn war bei uns. In der Türkei wurde unser zweites Kind im Lager geboren, es ist jetzt vier Wochen alt. Aber wir sind hier, und wir sind gesund und dankbar.“

    Neulich machte ich mitten in der Nacht von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in Weissach in der Stadthalle, die als Flüchtlingsunterkunft umgebaut war. Nachdem ich den Patienten untersucht hatte, sagte die Angestellte vom Sicherheitsdienst: „Jetzt können Sie auch gleich noch mit dem Bürgermeister sprechen.“

    Ich war verblüfft: „Jetzt morgens um zwei Uhr ist der Bürgermeister hier?“

    Tatsächlich stand vor der Halle eine Gruppe junger Männer und unterhielt sich lebhaft. Ich stellte mich vor, und einer der Männer sagte: „Ich bin Daniel Töpfer, der Bürgermeister.“

    Ich lachte ihn an: „Das ist ja ungewöhnlich, nachts um die Zeit den Bürgermeister bei Flüchtlingen zu treffen? Was machen Sie hier?“

    Er lachte zurück: „Wir haben vier Partien Schach gespielt!“

    Da mischte sich einer der Flüchtlinge mit gutem Englisch ein und erzählte begeistert, dass sie oft Schach miteinander spielen, und das sei großartig, „but Daniel always wins, he is a champion!“

    In welcher Stadt in Deutschland nimmt sich ein Bürgermeister Zeit, um mitten in der Naht vier Partien Schach mit Flüchtlingen zu spielen?

    Meine Hochachtung, Herr Töpfer, für ihre meisterliche Bürger-Nähe!

     

    (Für die nicht Ortskundigen: Weissach ist eine Gemeinde mit etwa 7500 Einwohnern im Kreis Böblingen. Hier hat Porsche sein Entwicklungszentrum. Daniel Töpfer wurde 2014 im Alter von 25 Jahren mit 58% zum Bürgermeister gewählt.)

  • Beitrag zur Lesung Teufeleien beim BDSÄ-Kongress Mai 2016

     

    Ich bin sauer … stinksauer sogar … auf mich, auf die Technik, ich weiß nicht auf wen oder was. Und dann noch tief innen das dumpfe Gefühl, dass es eventuell so seine Richtigkeit hat. Aber ich muss der Reihe nach erzählen.

    Heute früh erwachte ich mit einem Schrecken, der BDSÄ-Kongress in Würzburg (Bund deutscher Schriftstellerärzte). Bis wann sollten wir die Texte, die vorgelesen werden sollen, geschickt haben? Was gab es noch für Themen? Garten … ich habe neue Schneeglöckchengedichte … Schneeglöckchen wachsen im Garten … Vielleicht ist das Thema grad noch nicht verfehlt.

    Freie Lesung … da habe ich viel zur Verfügung, zu viel, muss ich also eine Auswahlentscheidung fällen. Mag ich gar nicht. Ich mag die Texte, die nun ausgegrenzt und abgeschoben werden, nicht so verärgern, sie tun mir leid, sie sind doch auch mit Liebe geschrieben worden. Geheimnisse … Ich glaub, da hab ich was, wenn der liebe Kollege es nicht passend findet, dann soll er es gleich weiterleiten zur Freien Lesung. Wertewandel … da habe ich auch was. Halt … das ist ja die Lesung, die ich moderiere. Da habe ich alle Zeit der Welt. Aber vielleicht sollte ich es doch auch mir selbst schicken, damit es nicht verloren geht. Verlorengehen …. verschwinden … unauffindbar, sogar im Computer! Das ist der Grund meiner schlechten Laune. Mir fielen nämlich Texte ein, die zum Thema Teufeleien passen. Ich beschrieb Erlebnisse, wo etwas schief lief, was dann doch gut endete und diese Texte suchte ich heute. Ich sah im Mac: Engelwirken … zweimal, einmal mit Fragezeichen, einmal ohne. Engelwirken sind aber keine Teufeleien, oder? Die koboldartigen Wesen, die uns stören, behindern sind doch rechte kleine Teufelchen, aber was wissen wir, wer im Hintergrund wirkt?

    Ich wollte mir daraufhin den Text genauer anschauen. Ich meinte, der mit Fragezeichen sei der endgültige. Ich klicke ihn an. Ausser den Anfangszeilen nichts ….Beim Engelwirken ohne Fragezeichen dasselbe. Wohin ist der Text verschwunden? Die Suchmaschine findet nichts, ich auch nicht, auch nicht im Papierkorb.

    Schließlich kann ich nicht länger suchen, ich muss aus dem Haus. Ein Gehetze …. hasse ich genauso wie das Suchen ohne Finden.

    Ich entschließe mich, den Text noch mal zu schreiben. Im Laufe des Tages mache ich mir Notizen. Ich will ihn am Abend zu Hause endgültig schreiben. Ich suche mir Konzeptpapier, in meiner noch nicht ganz ausgepackten Reisetasche habe ich noch welches. Ich suche es raus und … halte den Text in Händen. Ich hatte ihn noch gar nicht eingetragen!

    Hier ist er:

     

    Engelwirken?

    Ich bin in Reisevorbereitungen, d.h. ich bin kurz vor meinem Abflug nach Sofia. Je, wie relativ alles ist …was heißt kurz? Ich bin kurz davor, meine Wohnung zu verlassen, dann werde ich mit der S-Bahn fahren, dann mit dem Zug bis zum Flughafen Zürich und von dort aus fahre, d.h. fliege ich nach Sofia.

    Noch habe ich den Mantel nicht angezogen, trinke die letzte Tasse Tee und überlege, was für eine Reise nach Sofia auf dem Plan steht. Köln, Jahrestagung der DGAP (Deutsche Gesellschaft der Analytischen Psychologie). Da fällt es mir mit Schrecken ein: Habe ich eigentlich schon mein Zimmer bestellt?

    Ich denke darüber nach, warum ich mich nicht erinnern kann. Wohl weniger eine Alterserscheinung als ein Hinweis, dass ich mal wieder etwas zu schnell machte, weil es so viel zu tun gibt, und ich mich nicht recht mit meinem Tun verbunden habe. Aber das ist im Alter vielleicht genau so: zu viel – innerlich  – zu tun und schon etwas abwesend …

    Die Unterlagen liegen auf dem Schreibtisch. Bis 31.1.  gab es ein Kontingent. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es nicht bestellt habe, aber die Unsicherheit plagt mich jetzt. Soll ich sie mitnehmen und von Sofia aus per Email anfragen? Nein, ich möchte schneller Gewissheit. Ich rufe an. Die junge Dame an der Rezeption des Tagungshotels scheint mich nicht recht zu verstehen, vielleicht habe ich mich aber auch in der Aufregung unklar ausgedrückt. Sie sagt mit anteilnehmendem Bedauern: Leider alles schon ausgebucht. – Ich  erkläre ihr, dass ich nicht buchen will, sondern nur nachfragen (das ungute Spannungsgefühl nimmt zu). Sie sucht mich im Computer, sie findet mich, hurra, ich sage ihr, dass sie mich eben zu einem glücklichen Menschen gemacht hat. Da lacht sie herzhaft und meint: Haben Sie eine Ahnung, Sie mich nämlich auch. Heute morgen dachte ich, der ganze Tag wird Scheisse – oh, Entschuldigung – ich kann gerade liegen bleiben, ich tauge eh zu nichts! –

    Wir verabschieden uns fröhlich und hoffen auf ein Wiedersehen bei der Tagung.

    Habe ich mich deshalb nicht mehr erinnert? Hat ihr Engel ein Schleier des Vergessens bei mir drübergelegt und, als ich an Köln dachte, mir den Schreck einfahren lassen?

    Vielleicht hat der Schutzengel oder sonst ein hilfreicher Geist es auch bei anderen Kolleginnen und Kollegen so gemacht. Dann wird die junge Dame an der Rezeption heute ganz besonders gut drauf sein!

    Also, man mag nun denken, was man will, aber offensichtlich liegen Teufeleien und Engelwirken nah beieinander, ja, vielleicht bedingen sie sogar einander.

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

    Februar 2016

     

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ beim BDSÄ-Kongress Mai 2016

     

    Als ich mich umwandte
    und zurückblickte zu dem Hund
    zu dem Straßenhund
    – ein hübsches Tier
    wie ein Wächter vor dem Geschäft
    er hatte so lieb
    meine Hand geleckt
    ganz kurz
    als ich ihn vorsichtig streichelte
    die Leckerbissen
    die ich ihm gab und
    die er nahm
    fraß er aber erst
    als ich gegangen war
    deshalb drehte ich mich
    noch einmal um
    und blickte zu ihm –

    da sah ich
    auch er blickte zu mir
    immer wieder
    trafen sich unsere Blicke
    bis ich in die andere Straße
    einbog

    Der Blick
    begleitet mich nun …
    er war nicht klagend
    nicht bettelnd
    er war …
    wie der Blick meines Hundes
    voll Gewissheit
    dass die Trennung nur
    vorübergehend ist

    Der Blick …
    könnte ich den Blick meines
    Engels sehen

    Er würde ihm gleichen

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • (Beitrag zur Freien Lesung beim BDSÄ-Kongress Mai 2016)

    Ich habe Narziss eingeladen, mich mal zu besuchen. Vielleicht macht es ihm Spaß, das Regal anzuschauen mit all dem vielen Material zum Thema „Narziss und Narzissmus“, meine Fotos seiner Blume und all die vielen Ordner mit meinen Texten, fertigen – unfertigen, die bereits veröffentlichten Gedichthefte …

    Vielleicht hat er eine Idee, wo ich weiterfahren soll? Eigentlich weiß ich, was ich will, aber mir fehlt die Zeit, das heißt natürlich fehlt mir die Zeit nicht, aber anderes hat – leider! – größere Priorität!

    Narziss zögerte, er möchte sein Spiegelbild nicht verlassen. Ich tröste ihn damit, dass es bei mir auch Spiegel gibt, sogar mehrere. Natürlich muss er seinem Spiegelbild nun aufrecht gegenübertreten. Das demutsvolle Sich-Zuneigen erfolgt nicht zwangsläufig. Er kann auch nicht sein Spiegelbild auf dem Untergrund des Himmels sehen … Er winkt ab … er kennt diese Überlegungen doch schon aus meinen Gedichten. Soll ich sie hier anfügen?

    GEDICHTE?????

    Nun ist er gekommen, er blickt sich um, erblickt meine Körbe und Taschen mit Papieren, Büchern, Briefen …. er strahlt:

    „Hast du schöne Spiegel, und ganz individuelle, nur du kannst dich in ihnen erkennen.“

    Da erkenne ich: Ein MZ (Messiezustand) ist der Spiegel, in dem sich ein MiM (Mensch im Messiezustand) erkennen kann … Ich schaue ihn dankbar an. Auch er lächelt, liebevoll, bezogen: “Und ich erkenne dich, ein wenig, ich sehe, welche Kräfte aus der geistigen Welt sich bemerkbar machen möchten.“ (Also kann bedingt auch ein anderer sich in meinem individuellen Spiegel erkennen?). Er fährt fort – er hat mein Denken gespürt und innegehalten – „und ich erkenne, wer dich zu mir führte!“

    Narziss, sag, wer … er ist verschwunden … ein kleiner Nebel in meiner Wohnung…

    Wieder im Hier und Jetzt angekommen denke ich:

    Wer mit Hilfe des Narziss seinen eigenen Narziss erlöst, hat einen einfühlsamen Freund an seiner Seite.

     

    Anmerkung:

    Und nun habe ich ein Problem, wenn ich den Text nun für andere abschreibe, in meinem Computer, wo lege ich ihn ab? Im Ordner „Narziss 2015“ oder im Ordner „Messie_neu“?

    Wenn ich nicht aufpasse, entsteht in mir ein Mini-Messiezustand! Was kann ich daran nun über mich erkennen? Ob Narziss es weiß?

    20.6.15, 7.20 h

     

    Inzwischen ist mir ein Untertitel eingefallen:

    Messiezustände als Spiegel der Selbsterkenntnis

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • Beiträge zur Lesung „Gärten“, BDSÄ-Kongress Mai 2016

     

    Im Gras vor der alten
    kleinen Kirche
    blühen Schneeglöckchen
    Kokitche werden sie
    in Bulgarien genannt

    Sie sind weiß wie
    die Lilie die
    der Engel
    der Jungfrau reichte

    Weiß
    wie Schnee
    wie die Milch
    der Mutter

    Drei Blütenblätter
    umfassen den Becher
    der sich zur Erde neigt

    Drei
    wie Vater Mutter und Kind
    wie die Frau
    die gleichzeitig auch
    Mutter und Tochter ist

    Eine Dreiheit
    wie Vater Sohn
    und Heiliger Geist

    Wo sind deine drei
    anderen Blütenblätter
    verborgen?

    Wohin sind sie verschwunden?
    Oder wem
    hast du sie geschenkt?

    Helga Thomas

    20.2.2016

     

    Nachtrag vom 2.3.16:

    Ich schenkte sie dem Künstler
    der sie zum Becher schuf
    zum Abbild des
    Heiligen Gral
    versteckt
    in der Mitte der Drei

    Das Schneeglöckchen dankt
    der Wärme
    dem Licht
    indem es sich öffnend
    sich nieder zur Erde neigt

    Vielleicht
    sagt es dem Schnee
    dass er das Tauen
    nicht fürchten muss
    Freude wird ihn erfüllen
    wenn Tropfen um Tropfen
    er sich löst

    Freude wird auch die Erde erfüllen
    denn das Schneeglöckchen versprach:
    ich werde dir schenken
    was jetzt in mir wächst

    13.2.2016

     

     

    Als Kind sprach ich
    als ich noch nicht sprechen konnte
    mit den Blättern im Wind
    mit dem im Baum verborgenen Gesicht
    das dem Gesicht der Mutter glich
    und in manchen Nächten
    zum Mond heimgekehrt war

    Als Kind ging ich
    spazieren im Garten
    mit Wunderbäumen
    und Zauberblumen
    die ich mir selbst erschaffen habe

    Als Kind liebkoste ich
    mein kleines Tier im Arm
    das meinen Schlaf beschützte
    und am Tage nur ein Bettzipfel schien

    Als Kind war das mein Alltag
    und heute fühle ich mict glücklich
    und meine es ei ein besonderer Tag
    wenn es mir wieder gelingt

     

    Copyright Dr. Helga Thomas