Monat: Mai 2018

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    Untertanen

    (6.5.2018)

     

    Wie der Kuchen entsteht
    was alles dabei auf der Strecke bleibt
    ist nicht bedeutsam
    solange unser Anteil
    erhalten bleibt

    ֎֎֎

  • Monte Grosso

    (4.5.2018)

     

    Gerührt vom Mai-Regen
    beschenkten mich Bäume und Blumen
    am Rande des Pfades
    mit ihrem Erfahrungsschatz:
    Menschenscharen zogen hier vorbei
    mächtige, gierige, erbarmungslose
    behutsame, fürsorgliche, weitsichtige
    Am Ende verkörperte der höchste Berg
    die schöpferische Liebe

    ֎֎֎

  • Das Mittelmeer

    (4.5.2018)

     

    Im malerischen Horizont
    küssen sich Himmel und Meer
    Am Strand
    liegt ein einsamer Schuh
    Der Eintritt ins europäische Paradies
    auf Jahrhunderte langem Elend
    anderer Erdteile gebaut
    ist nicht jedem gestattet

    ֎֎֎

  • Mehrgenerationenhaus

    (3.5.2018)

     

    Vom betörenden Duft angezogen
    entdecke ich Blüten und Früchte
    dicht nebeneinander
    an einem Zitronenbaum
    Fröhlich fange ich an
    mögliche Wohnformen auszumalen

    ֎֎֎

  • Hebamme

    (2.5.2018)

     

    Ihnen vermittelte ich etwas
    wie ein leuchtendes Lavendelfeld:
    Ihr braucht keinen Anführer
    keinen Leiter
    höchstens eine Hebamme
    denn ein Stück Sonne
    trägt jeder von euch
    im Herzen

    ֎֎֎

  • Grundlage

    (3.5.2018)

     

    Die laufende menschliche Misere
    ist auch dadurch bedingt
    dass in vielen Menschen
    ein Stück vom Dritten Reich steckt:
    Nach oben ducken
    nach unten treten

    ֎֎֎

  • Kontraste

    (28.4.2018)

     Aus dem Zug betrachtend
    blauer Himmel
    schimmernde Bergspitzen
    bedeckt mit Schnee
    altes Grün neben Frühlingsgrün
    blau-grüner See
    In der Großstadt angekommen
    bedrückendes Grau
    Was haben wir Menschen
    dabei gedacht

    ֎֎֎

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    Tradition

        (26.4.2018)

    Als die Vasallen
    einer nach dem anderen
    der eigenmächtig erscheinenden Marionette
    kriechend huldigten
    pochte sie großspurig
    auf ihr sonderbares Verständnis
    von der folgerichtigen Fortsetzung
    der abendländischen Tradition:
    Die weiße Herrenrasse
    als auserwählter Alleinherrscher
    der zu unterwerfenden Welt

    ֎֎֎

     

  • Beitrag zur Lesung „Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähle ihm von deinen Plänen“
    beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

     Gott unter Göttern?

    „Prometheus“ heißt ein Bildarchiv, das vom archäologischen und kunsthistorischen Institut Gießen initiiert und jetzt im gesamten Campus der Universität aufgerufen werden kann. Den Zugang erhält man über eine Abkürzung der ersten Zeilen von Goethes Hymnos Prometheus:

    „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!…

    Hier interessiert uns aber weniger das Gießener Bildarchiv als die Frage, wie das Gedicht dann weitergeht. Es wird heftig.

    „Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonn‘ als euch Götter!“

    Dann kommt es sogar monotheistisch daher:

    „Hast du die Schmerzen gelindert
    je des Beladenen?
    Hast du die Tränen gestillet
    je des Geängsteten?

    Hier sitz ich, forme Menschen
    nach meinem Bilde,

    zu leiden, weinen,
    Genießen und zu freuen sich,
    Und dein nicht zu achten,
    wie ich!“

    Als guter hessischer Beamter zahlte mein Vater zwar getreulich seine evangelische Kirchensteuer und sorgte dafür, dass sein einziges Kind getauft wurde, doch war er eigentlich Agnostiker, der vor allem an den Vulkanismus glaubte.

    Meine Mütter stammten aus dem Badischen und waren katholisch. Als kleinem Mädchen gefielen mir die Glöckchen, der Weihrauch und die weißen Kleidchen bei der Fronleichnamsprozession. Dieser Luther, pflegte mein Vater zu sagen, war zwar ein großer Sprachschöpfer, aber  ein sturer Bock. Ich fand vor allem, dass er es uns Protestanten unnötig schwer gemacht hat mit seinem „sola fide“, allein durch den Glauben. Ein paar gute Werke – und die Sache hätte ganz anders ausgesehen! Schon bei der Konfirmation war mir die Ausschließlichkeit des Glaubens nicht geheuer, und ich empfand mich als unwürdig. Von meinem Kirchenaustritt und meiner Hinwendung zu den Göttern der Antike allerdings wäre mein Vater trotz seiner eigenen naturwissenschaftlichen Einstellung nicht begeistert gewesen. Dabei kann ich es mir jetzt aussuchen: Demeter für das allzu früh entbehrte Mütterliche, Kore/Persephone für die Ambivalenz von Welt und Unterwelt, Werden und Vergehen, Zweifeln und Hoffen. Auch Dionysos ist einer, der es hat, dieses: „Stirb und Werde“[1], ein Maskengott und Spender des Weines. Ebenso sympathisch ist mir der hinkende Hephaistos, ein begabter Waffenschmied und schöpferischer Kunsthandwerker, der sich von seiner Gattin Aphrodite mehr als nur ein Paar Hörner aufsetzen lässt. Und erst die Hörner verteilende Aphrodite selbst! Sie ist eine der vielschichtigsten Gottheiten überhaupt, mit ihren östlichen Wurzeln, den Verbindungen zur phönikischen Astarte und den ägyptischen Göttinnen Hathor und Isis, Herrin über Liebe und Schönheit, aber auch gewappnete Kriegerin!

    Meine Pläne? Noch ein bisschen weiter so: ernsthaft recherchieren und der Wissenschaft frönen, fabulieren und mystifizieren, rezitieren und auf unserer gemeinsamen stabilen Basis kräftig mit meinem Mann streiten, Wein trinken und Freude haben am Essen und den anderen schönen Dingen des Lebens.

    Sollte dieser Christengott darüber lachen können, so ist er willkommen im Kreis meiner Götter, bei denen im Olymp ebenso wie bei den anderen im Schoß der Erde.

     

    [1] J. W. Goethe, Selige Sehnsucht, West-Östlicher Divan. Buch des Sängers.

    Copyright Dr. Dr. Waltur Wamser-Krasznai

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Auszug aus dem Buch von Jürgen Wacker „Johannas Schwester – Djamila auf den Spuren von Jeanne d´Arc“
    Kapitel
    3
    Hinter dem Zaun um das Asylbewerberheim befand sich eine
    Bachniederung, die voller Abfall war. Djamila und Isabelle mussten
    sich durch einen Berg von umgestürzten Einkaufswagen,
    Gestängen von Wäschtrocknern, Fahrradrädern, blauen Säcken,
    Matratzen und vielen anderen Abfallgegenständen, die
    zwischen den verwilderten Büschen und Bäumen herumlagen,
    kämpfen. Als sie die Böschung zu dem ca. 2,50 Meter hohen,
    festen Drahtzaun erklommen, erkannten sie in der Morgendämmerung
    die einzelnen Häuser des Asylbewerberheimes.
    Die feste, unüberwindlich wirkende Einzäunung wurde an ihrer
    Oberkante von zwei straff gespannten Stacheldrähten begrenzt.
    Zu diesem Zeitpunkt waren noch keine Sozialarbeiter oder andere
    Mitarbeiter der Einrichtung zu sehen. Isabelle wusste, dass
    die offizielle Besuchszeit erst um acht Uhr begann und bis 22
    Uhr dauerte.
    Djamila sah drei einstöckige, endlos lang wirkende Häuser,
    deren Fenster alle geschlossen waren. Die Häuser waren weiß
    angestrichen und standen auf einem etwa 50 Zentimeter hohen,
    braun gestrichenen Sockel. Die Fensterrahmen waren
    ebenfalls weiß gestrichen und vor den meisten Fenstern waren
    die weißen Vorhänge zugezogen. Zwischen den einzelnen
    Häusern hingen zahlreiche elektrische Kabel, die Djamila an das
    Kabelgewirr zwischen den Häusern in der alten Innenstadt von
    Ouagadougou erinnerten. Der Rasen zwischen den einzelnen
    Häusern war ungepflegt. Auch zwischen den Häusern sah Djamila
    zahlreiche Einkaufswagen, die vermutlich zu einem nahe
    gelegenen Laden einer Discounterkette gehörten. An den Wäscheleinen
    zwischen den Häusern hingen auffallend farbige,
    exotisch wirkende Kleidungsstücke, die Djamila ebenfalls an
    ihre burkinische Heimat erinnerten. Sie glaubte sogar an einer
    Wäscheleine ein schwarzgelbes Kleid zu erkennen, das sie
    selbst einmal in Dori und Bonfara getragen hatte. Jetzt trug sie
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    eine verwaschene Jeans und ein T-Shirt des Catering-Services
    von Isabelle mit dem Logo von Heidelberg. Einen Moment lang
    überlegte Djamila über den Zaun zu klettern, um das gelbschwarze
    Kleid von der Leine zu nehmen und anzuziehen.
    Plötzlich pfiff Isabelle ganz laut. Kurze Zeit später öffente sich
    die Tür eines seitlich der Häuser abgestellten, braun gestrichenen
    Wagens, der Djamila an die Kerwewagen in Edingen erinnerte.
    Eine schwarze Frau huschte gebückt zu einer Stelle des
    Zaunes, an der die Frau offensichtlich das Gelände des Asylbewerberheimes
    verlassen konnte. Als sie bei Isabelle und Djamila
    angekommen war, konnte Djamila erkennen, das sie das gleiche
    T-Shirt des Heidelberger Catering-Services trug.
    „Das ist Salome. Sie ist hier, weil sie in ihrer Heimat in Nigeria
    wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt wurde. Sie wurde im
    Gefängnis in Nigeria gefoltert, die Wärter brachen ihre Beckenknochen
    und sie musste mit ansehen, wie ihr Mann von Muslimen
    grausam getötet wurde. Im neuen Testament wird Salome
    als erste Jüngerin Jesu bezeichnet, die bei seiner Kreuzigung auf
    der Hinrichtungsstätte Golgatha dabei war. Wörtlich übersetzt
    heißt Salome: die Friedliche. Im Markus-Evangelium (Kapitel 15,
    Vers 40) heißt es unter ,Kreuzigung und Tod‘: Und es waren
    auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter welchen war
    Maria Magdalena, Maria und Salome, die ihm nachgefolgt waren,
    da er in Galiläa war, und ihm gedient hatten. Außerdem war
    Salome nach dem Evangelium von Markus (Kapitel 16) Zeugin
    der Auferstehung: Und da der Sabbat vergangen war, kauften
    Maria Magdalena und Salome Spezerei, auf dass sie kämen und
    salbten ihn. Und sie sahen auf und wurden gewahr, dass der
    Stein abgewälzt war. Sie fanden einen Jüngling in einem weißen
    Gewand, der sprach: ,Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten.
    Er ist auferstanden, er ist nicht hier.’ (Markus 16).
    Somit war Salome eine der ersten Adressatinnen der Auferstehungsbotschaft
    unseres Herrn Jesus Christus.“
    Isabelle stellte Djamila ihre Freundin mit diesen pathetischen
    Worten aus dem Neuen Testament vor. Anschließend umarmten
    sich beide herzlich und Salome schenkte Djamila ihr gewinnendes
    Lächeln. Sie mussten langsam gehen, weil Salome
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    aufgrund ihrer im nigerianischen Gefängnis erlittenen Beckenbrüche
    hinkte. Hinter einem großen Gebüsch hatten sie ein
    Fahrrad für Salome versteckt. Die Sonne war über den Bergen
    des Odenwaldes und den Hügeln des Kraichgaues aufgegangen
    und Salome begann zu beten und einen Gospelsong zu singen.
    Jetzt erst nahm Djamila das fein geschnittene und freundliche
    Gesicht von Salome wahr.
    Isabelle bat Salome weitere Gospels und Gebete aus dem
    Gefängnis in Nigeria vorzutragen. Ein Missionar hatte Salome
    gelehrt Texte und Gebete auswendig zu lernen, als Trost für die
    Stunden der Verfolgung.
    Salome stimmte den Gospelsong Amazing Grace an.
    Amazing grace, how sweet the sound,
    That saved a wretch like me!
    I once was lost, but now I’m found,
    Was blind, but now I see.
    ‘Twas grace that taught my heart to fear,
    And grace my fears relieved;
    How precious did that grace appear,
    The hour I first believed!
    Through many dangers, toils and snares,
    I have already come;
    ‘Tis grace has brought me safe thus far,
    And grace will lead me home.
    The Lord has promised good to me,
    His word my hope secures;
    He will my shield and portion be,
    As long as life endures.
    Djamila war von der Intensität des Gesanges von Salome
    beeindruckt. Deren Augen waren zur aufgehenden Sonne gerichtet
    und sie schien nichts außer dem Sonnenaufgang wahrzunehmen.
    57
    Zu dritt fuhren sie auf einem Feldweg am Rande des Waldes
    eines der Bergzüge, die den Übergang zwischen Kraichgau und
    Kleinem Odenwald bildeten, zur Zentrale des Catering-Services.
    Dort angekommen stellte Isabelle Djamila und Salome dem
    verantwortlichen Mitarbeiter kurz vor.
    „Das trifft sich gut, dass wir heute zwei weitere Mitarbeiter
    haben, denn eine unserer Mitarbeiterinnen ist nicht erschienen
    und wir haben heute einen großen Event im Schlosshof des Heidelberger
    Schlosses zu organisieren.“, antwortete der Mitarbeiter
    des Catering-Services.
    Sie waren acht Frauen aus verschiedenen Ländern in dem
    Kleinbus des Unternehmens. Isabelle forderte Salome und Djamila
    auf, sich neben sie in die letzte Sitzreihe zu setzen. Sie hatte
    immer noch Sorge in eine Polizeikontrolle zu geraten, falls Djamila
    immer noch gesucht wurde. Wenn sie angehalten würden,
    könnte sich Djamila hinten leichter vor den Blicken der Polizisten
    verbergen. Sie selbst fühlte sich auf der letzten Sitzbank
    auch sicherer.
    Djamila gewann den Eindruck, dass Isabelle von allen anderen
    Frauen anerkannt und akzeptiert war, obwohl sie die einzige
    schwarze Frau war, die bei dem Catering-Service fest angestellt
    war. Isabelle erklärte Djamila auf Französisch, dass die
    anderen Frauen aus Russland und dem Balkan stammten und
    weder Französisch noch Englisch verstünden, und selbst in der
    deutschen Sprache sei es schwer, sich mit ihnen zu unterhalten.
    Sie fuhren von Pfaffengrund über eine Brücke über die Eisenbahn
    zu einer großen Kreuzung. Djamila verfolgte alles sehr
    aufmerksam, ständig auf der Hut vor einer Polizeistreife. Die
    Kreuzung kam ihr bekannt vor, wie im Traum erkannte sie die
    Bergheimer Straße, die zum Bismarckplatz führte und in deren
    Nähe die Kathedrale, ihr Gymnasium, stand. Bevor ihre Adoptiveltern
    entschieden, sie in das Internat der Bergstraßenschule
    in Heppenheim zu geben, von wo sie geflüchtet war, war sie hier
    zur Schule gegangen. Ihr kamen die Buben auf dem Bismarckplatz
    in den Sinn, die sie wegen ihrer Hautfarbe gehänselt, und
    die Klassenkameraden, die sie wegen ihres Kurpfälzerdialektes
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    ausgelacht hatten. Djamila war als Flüchtling in ihre Lieblingsstadt
    Heidelberg zurückgekehrt.
    Der Kleinbus des Catering-Services bog an der Kreuzung am
    Bismarckplatz nicht zur Kathedrale sondern zum Gaisbergtunnel
    ab. Der Kleinbus bog hinter dem Gaisbergtunnel bergauf
    nach rechts zum Heidelberger Schloss ab. Aufgrund einer Sondererlaubnis
    durfte er direkt in den Schlosshof fahren, um Tische,
    Kochgeräte und das Personal dort abzuladen.
    Der Fahrer des Kleinbusses forderte die Frauen auf, die
    Kochgeräte zwischen dem Brunnen und dem dahinterliegenden
    Gebäude abzustellen. Salome und Djamila führten die Anweisungen
    gemeinsam mit den anderen aus und in kurzer Zeit
    waren die Wärmepfannen und Schüsseln für den Empfang des
    Universitäts-Institutes aufgestellt.
    Der Inhaber des Catering-Services wies seine Mitarbeiterinnen
    auf ihre jeweiligen Aufgaben hin. Isabelle war wie gewohnt
    für das Büfett zuständig. Sie sollte das Essen immer wieder
    nachlegen, sodass Schüsseln und Wärmebehälter immer gut
    gefüllt waren. Auch Eis sollte immer ausreichend vorhanden
    sein. Djamila und Salome sollten die Getränke bereitstellen und
    Sekt- und Weingläser immer wieder nachfüllen.
    Die Gäste des wissenschaftlichen Meetings kamen aus der
    ganzen Welt. Die Damen und Herren trugen offizielle Kongresskleidung,
    die Herren Krawatten und die Damen kurze, schwarze
    Kleider.
    Djamila hatte insgeheim gehofft, dass einer der schwarzen
    Kongressteilnehmer sie ansprechen und sie in seine Obhut
    nehmen würde. Stattdessen versuchte ein deutscher Student
    mit Djamila zu flirten, in dem er ihr die Geschichte der Zerstörung
    des Heidelberger Schlosses im Jahre 1689 erzählte.
    „Ist es das erste Mal, dass du auf dem Heidelberger Schloss
    bist?“, fragte der Student in Burschenschaftsuniform Djamila.
    „Nein, ich habe hier das Gymnasium besucht und einen Klassenausflug
    zum Schloss gemacht.“, antwortete Djamila selbstbewusst.
    Der Student wandte sich wieder anderen zu, war
    aber wohl aufgrund seines Auftretens und seiner Burschenschaftsuniform
    nicht der geeignete Gesprächspartner für die
    59
    Kongressteilnehmer. Eine ältere Dame hatte das Gespräch gehört
    und kam auf Djamila zu. „Darf ich dir die Geschichte der
    Frau erzählen, die unter der Zerstörung Heidelbergs durch die
    Franzosen am meisten gelitten hat? Kennst du Liselotte von
    der Pfalz?“, fragte die freundliche ältere Dame weiter. Djamila
    schüttelte den Kopf und die ältere Dame begann zu erzählen:
    „Liselotte von der Pfalz, die spätere Herzogin von Orléans,
    wurde am 27. Mai 1652 als Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig
    von der Pfalz und seiner Frau Charlotte von Hessen als Elisabeth
    Charlotte in Heidelberg geboren. Kurz nach ihrer Geburt zerstritten
    sich ihre Eltern, aber Liselotte wohnte zunächst weiter
    in Heidelberg. Im Alter von sieben Jahren kam Liselotte zu ihrer
    Tante Sophie, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Dort
    erhielt sie eine fundierte Bildung und lernte die Weltoffenheit
    und Toleranz ihrer Tante zu schätzen. Ihr Vater holte sie nach
    fünf Jahren wieder zurück nach Heidelberg, um sie nach seinen
    Vorstellungen zu erziehen. Trotz der strengen Erziehung durch
    den Vater berichtete Liselotte später von einer unbeschwerten
    Jugend zusammen mit ihrem Bruder Karl und ihren Halbgeschwistern.
    Mit 19 Jahren verheiratete ihr Vater Karl Ludwig sie
    mit dem Herzog von Orléans Philip I., dem Bruder von Ludwig
    XIV., dem Sonnenkönig von Frankreich. Die Vermählung mit
    dem verwitweten Herzog von Orléans wurde durch eine Pariser
    Tante vermittelt und war das Ergebnis politischer Kalkulationen
    beider Seiten. Die französische Seite versprach sich von dieser
    Eheschließung mögliche Erbaussichten auf die Kurpfalz, denn
    Ludwig XIV. wollte Frankreich nach Osten erweitern. Liselotte
    schrieb darüber in einem ihrer zahlreichen Briefe: ,Aber was
    will man tun? Wo die Raison will, dass eine Sache sein muss,
    muss man nur schweigen und nichts mehr davon sagen.‘ Infolgedessen
    musste Liselotte vom Calvinismus zum Katholizismus
    übertreten, was ihr nicht leicht fiel. Sie ließ sich aber nicht vom
    Lesen der Bibel abbringen und hielt am Prädestinationsglauben
    der Calvinisten fest. Weiterhin vertrat sie offen ihre Kritik am
    päpstlichen Primat und am Heiligenkult der katholischen Kirche.
    Ihr Mann war und blieb ihr fremd! Sie hasste die Intrigen
    am Hof und besonders die des Ministers ihres Mannes, der zum
    60
    maître de plaisir, zum Spieler und Trinker verkommen war. Als
    1685 ihr Bruder Karl, der letzte Spross aus dem protestantischen
    Haus Pfalz-Simmern kinderlos starb, sah Ludwig XIV. die
    Gelegenheit gekommen, für seine Schwägerin Besitzansprüche
    geltend zu machen. Es folgte der Pfälzisch-Orléanische Erbfolgekrieg
    in dessen Verlauf die Städte und Dörfer der Kurpfalz
    von den französischen Truppen zerstört wurden. Im Jahre 1689
    wurden von den Truppen Ludwig XIV. Mannheim und Heidelberg
    zerstört. In ihren Briefen berichtete Liselotte, wie die Zerstörung
    ihrer Heimat selbst im fernen Paris und Orléans ihr das
    Herz brach: ,Ich kann mich noch nicht getrösten über was in der
    armen Pfalz vorgegangen; darf nicht danach denken, sonsten
    bin ich den ganzen Tag traurig.‘ An ihre Tante Sophie schrieb
    sie: ,So kann ich doch nicht lassen zu bedauern und zu beweinen,
    dass ich sozusagen meines Vaterlandes Untergang bin.‘
    Die Franzosen zogen ab und die Heidelberger Bürger konnten
    einige der Gebäude dieses Schlosses und der Stadt vor den
    Flammen retten. Liselotte hatte ihr Heidelberg nie wieder gesehen
    und starb einsam und verlassen 1722 in Saint-Cloud bei
    Paris.“
    Djamila würde ihrer Heimat so etwas nie antun, beschloss
    sie für sich, sie würde für ihre Heimat immer eintreten oder
    sterben. Sie hatte in der Schule gelernt: ‚La patrie òu la mort –
    nous vaincrons!’
    „Da tust du Liselotte aber Unrecht! Sie heiratete aus Staatsräson
    einen Mann, den sie weder kannte noch liebte, lebte an
    einem Königshof, den sie verabscheute und verließ ihre Heimat
    für immer. Alles nur aus Staatsräson, weil ihr Vater durch ihre
    Heirat mit dem französischen Herzog Frieden für seine Kurpfalz
    erreichen wollte. Liselotte war eine intelligente, selbstbewusste
    Frau, musste aber früh erkennen, dass sie zur Marionette in
    einem Drama wurden, dessen Ausgang sie nicht beeinflussen
    konnte. Ihre Wut und ihre Wünsche beschrieb sie in unzähligen
    Briefen an ihre Freunde und Verwandten in Deutschland. Du
    musst diese Briefe lesen.“
    Die ältere Dame verabschiedete sich höflich von Djamila und
    wünschte ihr alles Gute.
    61
    Djamila hatte in dem Gymnasium, das sie als Kathedrale der
    Bildung in Erinnerung behielt, Latein vor der englischen Sprache
    gelernt, mit dem Erfolg, dass Englisch für sie die Sprache
    der Emporkömmlinge und Wichtigtuer war. Als sich ein afrikanischer
    Wissenschaftler mit der Frage „Can I have a Whiskey“ an
    sie wandte, antwortete Djamila: „Nous avons seulement l’eau
    minérale, pas de l’eau de Vichy!“ Der distinguierte afrikanische
    Wissenschaftler wandte sich prompt einer Kollegin des Party-
    Services zu, die aus Weißrussland stammte, die ihm anstelle von
    Whiskey Wodka einschenkte. Offensichtlich war es dem Präsidenten
    des Kongresses wichtig, die afrikanischen Gäste allen
    deutschen Ehrengästen vorzustellen. Ständig war er bemüht,
    irgendeinen schwarzen Wissenschaftler den gelangweilt herumstehenden
    Ehrengästen vorzustellen. Die Gäste aus Frankreich,
    England und den USA schienen lediglich Zaungäste zu
    sein.
    Plötzlich ergriff der Kongresspräsident das Wort, in dem er
    ein drahtloses Mikrofon in die Hand nahm:
    „Meine sehr geehrten Damen und Herren,
    liebe Referenten unserer Tagung, werte Ehrengäste,
    das Schwerpunktthema unserer internationalen Tagung lautet:
    Ursachen und Folgen von Global Warming. Wie die Mehrzahl
    der Referenten ausführte, müssen wir feststellen, dass von
    1906 bis 2005 die jährliche Durchschnittstemperatur unserer
    Erde ständig angestiegen ist. So waren die Oberflächentemperaturen
    im Jahr 1998 ungewöhnlich warm, weil die globalen
    Temperaturen durch die El Niño-Southern Oscillation (ENSO)
    mehr als wir bisher vermuteten, beeinflusst werden. Wir hatten
    im vergangenen Jahrhundert die stärkste El Niño-Strömung
    in diesem Jahr. Globale Temperaturen unterliegen kurzfristigen
    Schwankungen, die langfristige Trends vorübergehend
    überlagern und maskieren können. Die relative Stabilität der
    Oberflächentemperatur von 2002 bis 2009, die eine globale Erwärmungspause
    darstellt, ist mit diesem Phänomen zu erklären.
    Aber wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen,
    62
    dass die Erderwärmung ständig zunimmt, und wir Menschen,
    besonders diejenigen in den reichen Ländern, für diese Entwicklung
    mitverantwortlich sind. Es ist unstrittig, dass von den
    Menschen der nördlichen Hemisphäre mehr Treibhausgase als
    von denen der südlichen Hemisphäre emittiert werden. Als Folgen
    der weiteren Erwärmung der Erde werden die Eiskappen
    an den beiden Polen schmelzen, ebenso die Gletscher in den
    Hochgebirgen und auf Grönland. Als Folge wird der Spiegel der
    Weltmeere ansteigen, und häufige Überschwemmungen und
    Fluten bedrohen die Küstenstaaten dieser Erde. Die Anzahl der
    Unwetter und extremen Wetterverhältnisse wird zunehmen
    und Dürren und Wassermangel werden zukünftige Konflikte
    mit sich bringen.
    Aber noch haben wir Zeit, aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen
    zu lernen, und den schädlichen Einfluss des Menschen
    auf das Klima zu reduzieren. Deshalb haben wir uns hier
    in Heidelberg getroffen, um die nächste Klimakonferenz wissenschaftlich
    zu begleiten.“
    Die Zuhörer dankten dem Kongresspräsidenten für dessen
    aufmunternde Rede und den gastlichen Empfang im Schlosshof
    mit lautem und lang anhaltendem Beifall.
    Nach der Rede und dem Imbiss im Keller des großen Fasses,
    versammelten sich die Gäste der Tagung erneut im Schlosshof,
    um Zeuge eines Feuerwerkes zu werden. Die Startrampe der
    Raketen und Feuerwerkskörper war etwa 30 Meter vor dem
    Eingang zum Apothekermuseum aufgestellt. Es war dunkel
    und Djamila sah nur einige wenige Sterne am schwarzen Himmel
    über dem Schlosshof. Djamila sah die anwesende Kongressgesellschaft
    nur schemenhaft, da vor Beginn des Feuerwerks
    sämtliche Laternen der Innenbeleuchtung des Schlosshofes
    gelöscht worden waren. Plötzlich rauschte ein Feuerwerkskörper
    in den schwarzen Himmel, glühte auf und produzierte einen
    lauten Knall. Danach folgten rote, gelbe und blaue Funken
    streuende Raketen. Djamila erlebte zum ersten Mal ein Feuerwerk
    und erschrak bei jedem Zischen und bei jedem Knall. Auf
    63
    einmal strahlte der Eingang vor dem Apothekermuseum in hellem,
    loderndem Licht. Die alte Krüppelkiefer vor dem Eingang
    stand in Flammen, offensichtlich von den Funken eines Feuerwerkskörpers
    in Brand gesetzt. Isabelle erschien es wie ein Zeichen
    Gottes. Sie rannte zu Djamila. Es ist fast wie in der Bibel,
    als plötzlich der Busch brannte, als gerade Abraham Gott seinen
    erstgeborenen Sohn Isaak opfern wollte und Gott Abraham einen
    Hammel zeigte, den er an Stelle von Isaak opfern konnte.
    „Müssen erst die Bäume brennen, bis wir begreifen, was Global
    Warming für uns bedeutet und wie es uns bedroht.“, philosophierte
    der Kongresspräsident.
    Die Mitarbeiterinnen des Party-Services packten schnell ihre
    Utensilien zusammen und verließen den brennenden Schlosshof,
    während Isabelle Djamila und Salome an die Hand nahm,
    um in den Park des Schlosses auf die Scheffelterrasse zu flüchten.
    Djamila war außer Atem und stützte sich auf Isabelle und Salome.
    Sie setzten sich auf eine Bank hinter der Ballustrade der
    Scheffelterrasse, außer Atem und mit Schweiß auf der Stirn. Sie
    sahen von fern, wie allmählich die flackernde Helligkeit im gegenüberliegenden
    Schlosshof erlosch. Es wurde ruhig. Sie nahmen
    die Stille des ehemaligen Hortus palatinus eher wahr, als
    sie die Geräusche der unter ihnen liegenden Altstadt von Heidelberg
    hörten. Djamila und Isabelle sahen auf der dem Neckar
    gegenüberliegenden Seite den Heiligenberg mit der Bismarcksäule
    und dem Aussichtsturm vor dem ehemaligen Stephanskloster.
    Djamila hatte einen weiteren Tag auf ihrer Flucht von
    der Bergstraßenschule unbemerkt überlebt.
    Salome fror, zitterte und bat Isabelle ihr die Decke um ihre
    Schultern zu legen. Salome hatte bei der Vorbereitung des
    Essens im Keller des Schlosses, neben dem großen Weinfass,
    einen dunklen Kerker mit vergitterter, kleiner Fensteröffnung
    gesehen. Sie ließ vor Schreck den Stoß Teller fallen, den sie mit
    beiden Händen getragen hatte. Dieser Kerker im Heidelberger
    Schloss erinnerte sie an ihre schlimme Zeit, an die verdrängten
    Erlebnisse der Jahre im Gefängnis von Kano in Nigeria.
    Isabelle bemerkte das veränderte Verhalten ihrer Freundin
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    und sah die pure Angst in deren Augen. „Salome, erzähle was
    dich bedrückt, erleichtere deine Seele, was treibt dich um?“,
    sagte Isabelle zu Salome.
    „Wir waren im Sonntagsgottesdienst in unserer kleinen Kirchengemeinde
    in Kano, als die vermummten Gotteskrieger mit
    Kalaschnikows um sich schossen, die Kirchentüre eintraten. Sie
    erschossen zuerst unseren Priester, dann zerstörten sie den
    Altar und zündeten die kleine Kirche an. Sie schossen wahllos
    in die Menge, wir rannten um unser Leben und nahmen nicht
    wahr, was sie sonst noch alles zerstörten.
    Mein Mann nahm unsere Tochter auf die Schulter und ich
    hielt unseren kleinen Sohn an meine Brust gepresst. Draußen
    vor der Kirchentür erwarteten uns schon andere Gotteskrieger,
    die sofort das Feuer auf uns eröffneten, als wir das Kirchenschiff
    verließen. Mein Mann und ich schlugen uns mit den
    Kindern durch und erreichten einen Buchladen, dessen Besitzer
    wir gut kannten. Wir versteckten uns in dessen Lagerraum, bis
    wir erneut Schüsse und laute Schreie hörten.
    Irgendjemand muss uns verraten haben. Die Eindringlinge
    zerstörten mit ihren Gewehrkolben die Eingangstür des Buchladens,
    zündeten die Bücherregale an und hielten dem Buchhändler
    ein Messer an die Kehle, als sie fragten, wo die Flüchtlinge
    aus der brennenden Kirche seien. Der Buchhändler antwortete
    ihnen nicht und sie durchschnitten ihm die Kehle. Sie traten die
    Tür zum Lagerraum ein und entdeckten uns, als wir hinter einem
    großen Stapel Bücher knieten und zu Gott beteten.
    Meinen Mann, unseren Vater, enthaupteten sie vor unseren
    Augen, und mich und die Kinder zogen sie an Händen und Haaren
    aus dem brennenden Laden zum Marktplatz. Dort hielten
    andere Gotteskrieger mit ihren Kalaschnikows eine Gruppe
    schreiender Kinder und weinender Frauen gefangen. Überall
    war der Boden mit Blut verschmiert und überall lagen leblose
    Leiber herum.“
    Salome stockte und weinte. Sie sahen in die Dunkelheit,
    die sich über dem Heiligenberg ausbreitete. Das Leuchten des
    brennenden Baumes im Schlosshof war erloschen.
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    „Wie ging es mit euch weiter?“, wollte Djamila von Salome
    wissen.
    „Wir harrten in der sengenden Sonne ohne Wasser aus. Die
    Kinder waren erschöpft und dem Schreien aus ihren Angst erfüllten
    Gesichtern war ein trauriges Wimmern und Weinen gefolgt.
    Auch die Gotteskrieger mit ihren Turbanen schienen zu
    ermüden. Sie tranken vor unserer Augen Tee und musterten
    mit lüsternen und geilen Blicken besonders die jüngeren der gefangenen
    Frauen, und ganz besonders diejenigen ohne Kinder.
    Viele von diesen jungen hübschen Frauen bemerkten die geilen
    Blicke der Gotteskrieger und versuchten sich abzuwenden und
    ihre Gesichter zu verbergen. Am späten Nachmittag trieb eine
    Gruppe Gotteskrieger, mit Kalaschnikows im Anschlag, unseren
    Bürgermeister vor sich auf den Marktplatz. Sie gaben dem
    Bürgermeister ein Blatt Papier, das dieser vorlesen musste:
    ,Im Namen Allahs fordern wir alle Anwesenden auf, sofort
    dem Christentum abzuschwören und zum Islam überzutreten.
    Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt, muss aufgrund
    seines Widerstands gegen den Gottesstaat in das Gefängnis.
    Die Vernünftigen unter euch, die dem Christentum abschwören,
    können in Begleitung der Gotteskrieger in ihre Häuser und
    Wohnungen zurückkehren. Sie sind verpflichtet, die Gotteskrieger
    in ihrem Haus aufzunehmen. Die Häuser der Unvernünftigen,
    die weiter am Christentum festhalten, werden niedergebrannt!‘
    Der Bürgermeister las mit zitternder Stimme den schriftlichen
    Befehl der Gotteskrieger vor. Kaum hatte er geendet, trat
    ein Gotteskrieger hinter ihn und enthauptete ihn mit seinem
    Säbel vor aller Augen. Der Mörder erklärte sich selbst zum
    neuen Bürgermeister und befehligte ab sofort die Polizei der
    Stadt. Die Gotteskrieger nahmen die jungen Frauen, ohne deren
    Antworten abzuwarten, und zerrten diese in die Häuser, die
    dem Marktplatz am nächsten gelegen waren. Bald drangen die
    Schreie der Vergewaltigten aus den Häusern, unterbrochen von
    Schlägen und Schüssen.
    Wir, die wir auf dem Marktplatz alles mitansehen und mitanhören
    mussten, wurden von der eigenen Polizei in das be66
    rüchtigte Stadtgefängnis getrieben. Das Gefängnis lag auf einer
    kleinen Anhöhe und hatte das Aussehen eines Sklavenforts, wie
    wir sie von der Küste Ghanas in Elmina oder von der Insel Goree
    im Senegal kennen. Der Weg auf den Berg des Gefängnisses
    war beschwerlich und einige stürzten mehrmals vor Erschöpfung,
    Trauer und Angst. Keine versuchte zu fliehen, alle trotteten
    hintereinander her, wie eine Schafherde, die der Hirte zum
    Schlachthof trieb. Plötzlich sah ich in einem Haus auf dem Weg
    zum Gefängnis eine Tür offen stehen, durch die ich mit meinen
    Kindern fliehen wollte. Ich nahm meinen Sohn fest an die
    Hand, presste meine Tochter dicht an meine Brust und rannte
    zu der offen stehenden Tür. Aber ein Polizist bemerkte meinen
    Fluchtversuch und stellte sich mir in den Weg. Er nahm mir beide
    Kinder weg und schlug mit seinem Gewehrkolben auf mich
    ein. Als er von mir abließ, halfen mir zwei andere Frauen wieder
    aufzustehen. Sie legten meine Arme um ihre Schultern, denn
    ich konnte nicht mehr allein gehen. Als wir das Gefängnistor
    erreichten, wurden alle Frauen und Kinder in einen großen Hof
    getrieben, während mich der Wärter gleich in das dunkle Innere
    des Gefängnisses schleppte. Er fasste mich an den Schultern und
    zog mich hinter sich her. Die dunklen Gänge waren nur schwach
    beleuchtet und nur gelegentlich bemerkte ich schießschartenartige
    Öffnungen in den dicken Gefängnismauern, durch die
    die letzten, schwachen Strahlen der Abendsonne drangen. Es
    ging ständig bergab und plötzlich ließ mich der Wärter fallen.
    Er holte seinen Schlüsselbund hervor und öffnete eine dunkle,
    stinkende Gefängniszelle, in die kein Licht drang.“
    „Wie hast du denn das alles überleben können?’, fragte Djamila
    Salome mit ängstlicher Stimme.
    „Ich erinnerte mich an meinen Priester, der mir als junges
    Mädchen die Geschichte von Jeanne d’Arc erzählte. Die heilige
    Johanna wurde auch in ein Gefängnis gesteckt und am Ende gar
    auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Dabei hielt sie sogar angesichts
    der Flammen an ihrem Glauben fest. Mir fiel auch die
    Geschichte von John Newton, dem Kapitän eines Sklavenschiffes,
    ein. Mit seinem Schiff geriet er am 10. Mai 1748 in schwere
    Seenot. Er rief Gott um Erbarmen an und wurde mit Gottes Hil67
    fe errettet. Er behandelte ab sofort seine Sklaven menschlicher,
    gab seinen Beruf auf, wurde Geistlicher und bekämpfte gemeinsam
    mit William Wilberforce die Sklaverei. In den Tagen nach
    seiner Errettung schrieb John Newton das Lied Amazing Grace.“
    „Aber wie kamst du denn aus dem Gefängnis frei?“, wollte
    Djamila wissen.
    „Nachdem ich wochenlang kein Licht gesehen hatte, im eigenen
    Kot lag, weil ich nicht aufstehen konnte, und ständig
    Hunger und Durst hatte, weil ich nur wenig übel schmeckendes
    Wasser und verschimmeltes Brot vorgesetzt bekam, hörte ich
    hinter meiner Zellentür auf dem Gang fremdartige Stimmen
    und ich begann zu singen:
    Große Gnade, wie süß der Klang.
    Die einen armen Sünder wie mich errettet!
    Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden,
    War blind, aber nun sehe ich.
    Die Tür der dunklen Gefängniszelle öffnete sich, ich war
    vom hereinfallenden Licht geblendet und sah erst allmählich
    einen schwarzen Priester und zwei weiße Männer, die weiße
    Polohemden mit dem Emblem von Ärzte ohne Grenzen trugen.
    Der nigerianische Gefängniswärter kauerte verstohlen im
    Hintergrund. Einer der beiden weißen Ärzte beugte sich zu mir
    herunter, untersuchte meinen Körper und teilte mir in gebrochenem
    Englisch mit, dass ich zur Behandlung meiner Hüftgelenksbrüche
    nach Deutschland ausgeflogen würde. Alles andere
    verging wie im Flug und ich war eine Woche später in einer
    Klinik in Süddeutschland zur Behandlung. Außerdem stellte ein
    Gynäkologe fest, dass ich einen Tumor in der Gebärmutter hatte,
    und dass dies die Ursache meiner starken Blutungen war, unter
    denen ich litt und die mich immer mehr geschwächt hatten.
    Die deutschen Ärzte haben mich an den Hüften operiert. Ich
    kann wieder, zwar mit Schmerzen, gehen. Danach wurde ich an
    der Gebärmutter operiert, deshalb habe ich keine starken Blutungen
    mehr. Ich bin körperlich wieder einigermaßen gesund.
    Vor wenigen Wochen wurde ich als, wegen ihres Glaubens in Ni68
    geria, Verfolgte anerkannt und erhielt das Recht in Deutschland
    zu bleiben. Sicherlich wird mein Asylantrag auch anerkannt. Ich
    schlage mich allein mit der Arbeit in diesem Catering-Service
    und mit Auftritten bei Weihnachtsfeiern oder Geburtstagen
    durch. Dann singe ich gut gelaunten deutschen Gästen meine
    Gospelsongs vor und wenn sie es verdienen, singe ich zum
    Schluss als Dank Amazing Grace!
    Als ich heute mit den Tellern in den Händen an dem Verließ
    neben dem Fasskeller des Schlosses vorbeikam, fiel mir die ganze,
    verdrängte Geschichte um das Gefängnis in Nigeria wieder
    ein.
    Ich kann nicht vergessen, was die Gotteskrieger mir und uns
    angetan haben. Sie haben mir meine Kinder und meinen Mann
    genommen, aber meinen Glauben habe ich behalten.“

    Copyright: Der Abdruck dieses Kapitel aus dem Buch von Jürgen Wacker erfolgt mit ausdrücklicher Erlaubnis des Berliner Westkreuz-Verlags, Wir danken für die Genehmigung.