Autor: Eberhard Grundmann

  • Jedem die Seine
    Man denkt doch, jedes Land müsse
    besitzen auch ein paar Flüsse.
    Das andere oder das eine
    hat aber eigentlich keine.
    In Frankreich tanzen die Mäuse
    an beiden Ufern der Creuse,
    wonach die Schöne und Teure
    entfleucht in die Fluten der Loire.
    In Deutschland gibt’s dreimal die Leine,
    Paris durchfliesst seine Seine.
    Jedoch in den Wüsten die Scheiche,
    die haben kaum ein paar Teiche.

  • Die kommende Zeit
    wird besser, hoffen die einen,
    wird schlimmer, fürchten die anderen,
    gewiss aber ist sie ungewiss.

    Die gegenwärtige Zeit,
    darüber herrscht Einigkeit,
    ist mindestens schwierig
    und irgendwie besonders.

    Ist die Zeit dann vergangen
    und hinreichend abgehangen,
    wechselt sie nochmals ihre Gestalt
    und ist am Ende gut und alt.

  • Weit bin ich gegangen
    und lange
    es ist bald genug

    endlich schliesst sich
    die schleife

    da
    weit in der ferne
    ein punkt
    ein winziger punkt

    – nicht erschlaffen
    weitergehen –

    der punkt
    wird grösser
    steht noch da
    hat brav gewartet
    bringt mich nach hause
    der zuverlässige
    Rudolf Diesel.

    (08.02.2023)



  • Mal ist sie kalt, mal warm, die Luft, und hat dann je verschiednen Duft. 
    Ist sie frisch und kalt,
    kommt sie aus dem Wald, 
    ist sie aber warm,
    kommt sie aus dem Darm
    und wenn der Donner grollt,
    hat keiner das gewollt.

  • Ich soll
    lieben und trösten,
    gebären und stillen,
    schmücken und ordnen,
    kochen und backen,
    erziehen und entscheiden,
    tüchtig im Beruf sein,
    Geld verdienen,
    schlichten und raten,
    hübsch und attraktiv sein
    (aber nicht zu sehr, denn
    ich soll auch treu sein).

    Mache ich.
    Gern.
    Alles.

    Aber nach sieben Tagen
    brauche ich eine Stunde
    für mich –
    kleine Inspektion.
    Und nach sechs Monaten
    eine mittlere, nach einem Jahr
    eine grosse Inspektion.
    Sonst erlischt die Garantie.


  • – Limerick –
    Es reist die Frau Einstein ab Tricht
    jetzt relativ schneller als Licht,
    fährt sie heute nach Biel,
    ist sie gestern am Ziel,
    ihr Mann aber duldet das nicht.

  • Auswahl aus den Wölländischen Sprüchen: VOLANDIANA – Aphorismen. Seemann Publishing 2018. ISBN 9781729323991

    1. Allgemein

    1.1.      Wahrheit ist der meistakzeptierte Irrtum. (1993)

    1.8.      Auch wenn du dir zwei Uhren kaufst, hast du nicht mehr Zeit.

    1.10.    Die Dummheit höret nimmer auf.

    1.12.    AUCH DER JÜNGSTE SOPRAN WIRD EINMAL ALT.

    1.15.    Der Mensch wird immer dümmer, trotz aller Symposiümmer.

    1.19.    Sigmund Freud entdeckte beim Menschen eine orale, anale und genitale Entwicklungsphase. Eine zerebrale entdeckte er nicht. (01.07.1992)

    1.125.  Manche Belletristik ist mehr trist als belle. (08.05.2013)

    1.138.  Geld ist Fiktion. Real ist nur das Geld, das man nicht hat.
    (lat. Aes ipsum fictio aes deens verum est.) (19.12.2013 0450)

    1.151.  Quidquid id est timeo Danaos maxime pecuniam petentes.
    (lat. Was es auch sei, ich fürchte die Griechen, besonders, wenn sie Geld fordern.) (23.03.2015)

    1.166.  Die beste Lösung nützt nichts, wenn das Problem unbekannt ist. (11.05.2015)

    1.175.  Nicht in jedem Dickkopf steckt ein grosses Hirn. (18.09.2015 Le Tréport F)

    1.191.  Es kommt darauf an, durch welche Brille man das Leben sieht. Es sollte nicht die Klobrille sein. (06.06.2017)

    1. Evolution

    2.6.      Das Wissen nimmt zu, nicht aber die Weisheit. (27.12.2017)

    2.7.      Nein, der Fortschritt ist keine Schnecke. Oder hast du schon einmal eine Schnecke mit Rückwärtsgang gesehen? (25.01.2018)

    1. Geschlechter

    3.67.    Jede Ehe wird geschieden: durch den Richter oder durch den Tod. (06.03.2012)

    3.88.    Aller Kriege Vater ist das Testosteron. (24.11.2016)

    3.95.    Nil vita sine voluptate. (lat. Ohne Lust kein Leben.) (20.06.2011)

    1. Paraloga und Sophismata (Παράλογα και σοφίσματα)

    4.11.    Jeder Augenblick deines Lebens ist in der Summe von den beiden Enden des Lebens zu 100 Prozent entfernt.
    (Wölländisches Aequisistenz-Axiom) (22.06.2016)

    4.13.    Die einzige richtige Ideologie ist diejenige, welche sagt: Alle Ideologien sind falsch.
    (Dez 2016)

    4.14.    Schwarzgeld besteht hauptsächlich aus Dunkelziffern. (03.04.2017)

    4.20.    Omnis aliter est – ego non. (lat. Jeder ist anders – nur ich nicht.) (08.05.2018)

    4.33.    Auch ein neues Brett macht den alten Kopf nicht besser. (26.10.2009)

    4.35.    Das Unangenehme an einem Gipfel ist, dass es nach allen Seiten bergab geht.
    (29.10.2009)

    4.36.    Fernsehen ist nicht dasselbe wie Weitblick. (24.01.2010)

    4.43.    Nemo umbra sua propria refrigeratur.
    (lat. Niemand wird durch eigenen Schatten gekühlt.) (15.09.2017 Plovdiv BG)

    1. Medizin

    5.1.      Medicamenta non prosunt nisi sumuntur tamen medicamentum non sumere interdum salubrior est.
    (lat. Medikamente helfen nicht, wenn sie nicht genommen werden, dennoch ist es manchmal heilsamer, ein Medikament nicht zu nehmen.) (20.6.2008)

    5.2.            Medicus nil promittit. (lat. Der Arzt verspricht nichts.) (20.6.2008)

    5.4.      Minum vinum nimia corporis exercitatio et nimis diu vivere insalubria reputari oportet.
    (lat. Zu wenig Alkohol, zu viel Sport und zu lange leben sind ungesund.)  (17.04.2016)

    5.9.      Der Arzt muss bei der Anamnese alles fragen – und darf nichts glauben. (05.03.2015)

    1. Volk und Staat

    6.8.      Kein Land der Welt ist so arm, dass nicht sein Präsident reich werden könnte.
    (11.02.2011)

    6.13.    Iustitia non caeca strabonem est. (lat. Iustitia ist nicht blind, sie schielt [opportunistisch].) (11/1998)

    6.15.    Gewaltenteilung: Die einen wissen, wie es geht, die anderen sagen, was gemacht wird.
    (06.03.2005)

    6.17.    Timeo praepotentes sese amantes cetera timentes.
    (lat. Ich fürchte die Machthaber. Sie lieben nur sich selbst und fürchten den Rest der Welt.) (12.08.2013)

    6.20.    Wer Terror mit Terror bekämpft, ist selbst ein Terrorist. (12.03.2017)

    6.25.    Wer mit Nonkonformisten konform geht, ist auch ein Konformist. (27.01.2018)

    6.35.    Nicht jeder missbraucht die Macht, aber jede Macht wird missbraucht.
    (12.12.2013)

    1. Volk und Staat

    7.1.      Kein Land der Welt ist so arm, dass nicht sein Präsident reich werden könnte.
    (11.02.2011)

    6.13.    Iustitia non caeca strabonem est. (lat. Iustitia ist nicht blind, sie schielt [opportunistisch].) (11/1998)

    6.15.    Gewaltenteilung: Die einen wissen, wie es geht, die anderen sagen, was gemacht wird.
    (06.03.2005)

    6.17.    Timeo praepotentes sese amantes cetera timentes.
    (lat. Ich fürchte die Machthaber. Sie lieben nur sich selbst und fürchten den Rest der Welt.) (12.08.2013)

    6.20.    Wer Terror mit Terror bekämpft, ist selbst ein Terrorist. (12.03.2017)

    6.25.    Wer mit Nonkonformisten konform geht, ist auch ein Konformist. (27.01.2018)

    6.35.    Nicht jeder missbraucht die Macht, aber jede Macht wird missbraucht.
    (12.12.2013)

    1. Rätselfragen
        • Kann man in einem menschenleeren Walde erschlagen werden?
          [1) NEIN, denn im menschenleeren Wald ist kein Mörder,
          2) NEIN, auch von einem Baum kann man nicht erschlagen werden, denn im menschenleeren Wald ist niemand, der erschlagen werden könnte, nicht einmal man selbst – der Wald wäre sonst nicht menschenleer.]
          (07.02.2005)
        • Wer lehrt andere, was er selber nicht weiss?
          [Der Tote auf dem Präpariersaal lehrt die Studenten die Anatomie.]
          (: Quis quod nescit alios docet? [Mortuus in theatro anatomico discipulos docet anatomiam.])
          (28.03.2018)
    2. Alterseinsichten

    8.3.            Besonders drückt die Last der Jahre nach einer Reihe Lasterjahre.

    8.8 Das Selbstbewusstsein durchläuft im Leben fünf Phasen:
    Zuerst weiss man nichts. Dann fragt man sich: Wer werde ich sein? Nach langer Zeit weiss man, wer man ist. Später erinnert man sich, wer man war. Zuletzt hat man es vergessen.
    (09.11.1998)

    8.11.          Fugit interea fugit irreparabile tempus et fugimus nos cum illo irreparabiliter.
    (lat. Inzwischen flieht sie, ja sie flieht, die unwiederbringliche Zeit, und wir fliehen mit ihr unwiederbringlich.) (05.02.2005)

    8.16           Iuventas nescit quod haberet. Senectus scit quod non haberet.
    (lat. Die Jugend weiss nicht, was sie hat, und das Alter weiss, was es nicht hat.) (05.10.2015)

    8.18.    Wer gesund sterben will, darf damit nicht zu lange warten.
    (12.11.2015)

    1. Küchenlatein

    9.5.      POTESTAS VOS NON IN BRACCAS.
    (Macht, euch, nicht, in, die Hosen)

    9.7.      POTESTAS VESTRUM LUTUM UNIVERSUM CLIVUS.
    (Macht, euren, Dreck, All, Lehne)

    9.11.    IS EGO LUDIFICATIO AGRI ERAT UNUS CREPITUS CUCULLUS ET NULLUS IACULUS PULVIS PRETIUM.
    (Er, ich, Hohn, Äcker, war, ein, Knall, Tüte, und, keinen, Schuss, Pulver, Wert)

    9.21.    ID IT AD NULLAM VACCAM CAEDIT.
    (das, geht, auf, keine, Kuh, haut)

  • Reigen

    Die wir einst umsorgt
    und grossgepäppelt über viele Jahre,
    die unsere Kräfte zehrten und mehrten,
    die heute noch durch unsere Träume purzeln
    herzerwärmend im Kindchenschema –
    sie sind jetzt grosse Leute in des Lebens Mitte,
    umtobt von der nächsten Generation.

    Der immer gleiche Reigen
    wird fort und fort getanzt,
    aber jeden Punkt im Ring
    erreichst du nur ein einziges Mal.

    (18.04.2017)

    Fuffsich

    Für meine Freundin Jabi, die sich schwer tut.
    (in Brannenburjisch)

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Vor sweehundert Jahr,
    bei den ollen Fritzen,
    – jloob mir, det is wahr –
    mussteste schon flitzen.

    Heute haste frei
    Jahre wie Prosente:
    fuffsich sin vorbei,
    fuffsich Dividende!

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Weeste, wie det kommt,
    dassde schon so alt bist?
    Det kommt immer promt,
    wenn det Lewen lang ist.

    Wärste früh jestorm,
    wärste ooch nich fuffsich,
    fräss dich jetz der Worm,
    man, det wäre schuftich!

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Willste lange leem,
    darfste nich erschlaffen.
    Da liecht det Problem:
    Willste achtsich schaffen,

    kommste nich vorbei
    anne fuffsich, weesste,
    nutzt ooch keen Jeschrei.
    Allet klar, vastehste?

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    (22.10.1995)

    Physis und Metaphysis

    Es stehen auf schwankender Scholle
    all unsere Türme und Thesen,
    gewiss ist – es komme, was wolle –
    es wird anders als vorher gewesen.

    Atome zerfallen und Sterne,
    aus Staub werden neue Gestirne,
    der Kosmos, er strebt in die Ferne,
    den Gipfeln zerschmelzen die Firne.

    Ein jedes, das lebt, das muss sterben,
    vom Staube zum Staube bestimmt,
    und vorher das Leben vererben,
    das, was es benötigt, sich nimmt.

    Was Physis ist, ändert sich immer,
    Metáphysis einzig hält Stand,
    ihr ahnt es beim göttlichen Schimmer
    der Künste in jedem Gewand.

    Die Mathematik zum Exempel
    gehört zu den Künsten, den freien.
    Die Lehrsätze aus ihrem Tempel,
    sie haben die ewigen Weihen.

    Was droben ist sucht drum entschlossen,
    sofern ihr Vergänglichkeit fliehet.
    Der Segen wird dem ausgegossen,
    den füglich nach oben es ziehet.

    (11.07.2013)

    Sternenkunde

    Warum, fragt Wennemann,
    warum er sehen kann
    der Gestirne Funkeln
    einzig nur im Dunkeln.

    Aberach fragt: Hast
    du gehört, Kontrast
    erst lässt etwas erkennen
    und die Dinge trennen?

    Auf weisser Fahne kann
    man nicht sehen dann,
    nicht um keinen Preis,
    Adler, wenn sie weiss.

    Das Gute auch im Leben
    wird erst erkannt dann eben,
    wenn es uns erlösen
    will von allem Bösen.

    (21.01.2019)

    Vom Dasein zum Hiersein

    Herr Aberach besucht seit einem Jahr
    ein philosophisches Basis-Seminar.
    Er lernt dort, dass die Welt ganz allgemein
    geprägt sei durch ihr eigentliches Sein,

    ihr Sein an sich als solches, in Stringenz
    durch ihr Geworfensein zur Existenz,
    das Sosein ihr statt Nichtsein so verleiht
    und sie zum Dasein und zum Sinn befreit.

    Das Dasein sei der wesentliche Kern
    des Seienden per se, ob nah, ob fern.
    Der Aberach, der glaubt davon kein Wort.
    Ich selber würde, sagt er, auch mal dort,

    mal da sein, doch ganz wesentlich scheint mir,
    ich wäre, und zwar selber, jetzt und hier.
    Aus dem Gesagten folgert er mit List,
    dass wichtig für die Welt ihr Hiersein ist.

    Was nützt, denkt er, die Welt, die einmal da,
    dann wieder dort ist, aber mir nicht nah.
    Geworfen oder nicht geworfen, mir
    erscheint entscheidend nur, ich hab sie hier.

    (03.03.2013 0220 – 21.01.2019)

    Selbstbetrug

    Wennemann begibt sich auf die Reise
    und geniesst sie auch auf seine Weise,
    selbst wenn er manch Ärger und Verdruss
    hie und da schon mal ertragen muss.

    Im Gedächtnis dann in spätern Zeiten
    sieht er nur noch all die guten Seiten,
    und je öfter sich die Reise jährt,
    wird sie mehr und mehr und mehr verklärt.

    Ebenso verfahren bis anheute
    auf der Lebensbahn die meisten Leute:
    Um die Laune sich nicht zu verderben
    übersehen sie den Bruch und Scherben.

    Doch am Ende kranken ihre Seelen,
    weil Wahrhaftigkeit und Klarheit fehlen.
    Auf dem Teppich geht man nicht gediegen,
    wenn darunter die Probleme liegen.

    (26.09.2013)

    Wichtig

    Welcher Mensch ist wichtig,
    und welcher eher nichtig –
    das ist – wie ich sage –
    eine falsch gestellte Frage.

    Hie zum Beispiel Goethe,
    dort die kleine Kröte:
    Wichtig sind sie alle
    in dem einen oder andern Falle.

    Des Dichters grösste Knüller
    wären ohne Gretchen Müller
    längst nicht so bekannt
    und beliebt im ganzen Land.

    (15.02.1998)

    Der Kongress

    Hallo, auch schon da?
    … muss eben noch…
    Wir sehn uns später!

    In schnellem
    reigen fliegen sie
    vorbei vorträge wenige
    gute der anderen viele.

    Heute abend zeit?
    Leider nein
    ein workshop!

    Schon gepackt?
    Ja, muss weg – bis
    zum nächsten mal!

    Beinahe
    wären wir
    einander begegnet.

    (01.10.2000)

    Lupus

    Wenn doch der
    Mensch dem Menschen,
    wenn er ihm doch
    nur Wolf wäre!

    So aber
    ist er ihm Mensch.

    (10.08.2006)

    Konjunktiv

    Was da alles würde, wäre, sollte,
    wenn man endlich hätte, könnte, wollte,
    ist am Ende gar nicht auszuhalten,
    besser ist es drum, es bleib beim Alten.

    Denn es reicht auch schon von ungefähr,
    was beinahe nicht gewesen wär.
    Beinah wärest du nicht, der du bist,
    besser ist es drum, es bleibt wie’s ist.

    Beinah hätten wir den Krieg gewonnen,
    hätten wir ihn gar nicht erst begonnen.
    Wären wir nicht hier, wo wär‘n wir dann,
    oder wär‘n dann andre dran und wann?

    Tu ich, was ich keinesfalls sonst täte,
    beinah nicht, weil ich mich leicht verspäte,
    hätte ich es, wenn ich’s recht betracht‘,
    eigentlich am Ende nicht gemacht.

    Manches gibt es nicht, was möglich wäre,
    andres gibt es auf der Erdensphäre,
    was recht eigentlich unmöglich scheint,
    und sich hier im Konjunktiv vereint.

    (09.04.2010)

  • Was ist Prägen?
    E. Grundmann 23.01.2019

    Zuerst frage ich gern die Etymologie, denn ἔτυμος (ἔτυμον, ἐτύμη) heisst wahr, echt, wirklich – und bedeutet hier der wahre Wortsinn.

    Prägen geht auf das Alt- und Mittelhochdeutsche zurück und bedeutet pressen, einpressen, vielleicht auch in die Oberfläche einbrechen. Wenn mich also etwas prägt, dann wirkt etwas von aussen auf mich ein und hinterlässt einen Eindruck, einen bleibenden nämlich, wenn von Prägung die Rede sein soll. Da fällt jedem sofort ein, dass ihn Eltern, Familie, Lehrer geprägt haben, dann natürlich auch beeindruckende Erlebnisse. Das ist uns geläufig und bedarf keiner weiteren Ausführung. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass alles und jedes jedes und alles prägt, id est aufeinander Einfluss nimmt, und, wenn man es auf die Spitze treiben will, in einem kosmischen Zusammenhang steht. In den letzten Feinheiten ist das dann so gering, dass zwar nicht mehr von wesentlicher Prägung gesprochen kann – aber es ist vorhanden! Auch in der unbelebten Natur finden Prägungen statt, etwa wenn geologische Schichten aufeinanderpressen oder auch nur Molekül- und Kristallstrukturen sich aneinanderlagern.

    Alles, was ist, wechselwirkt, um so mehr, je näher die Beteiligten und je stärker der Impuls. Es gibt keine vollständige Inertia, Trägheit, insofern, als auch der Schwächste mitwirkt, nämlich im Passivum, indem er sich beeinflussen lässt.

    Auch wir prägen uns hier gegenseitig in unserem schönen BDSÄ, selbst wenn wir das typische Prägealter doch schon mehr oder weniger überschritten haben. Aber so lange wir ein Sensorium besitzen und einen Hauptrechner, der das alles verarbeiten kann, spielen die Eindrücke hin und her.

    Die Überlegung gibt Anlass, über die Verantwortung nachzudenken, die mit einem solchen Einflussgespinst einhergeht. Wir als Sprachschöpfer spüren die Prägungen, welche die öffentliche Sprachkultur auf die Völker ausübt. Wir sehen den Zusammenhang von Verrohung der Sprache und Verfall der Sitten bis hin zur Straftat. Wir sehen die Verführbarkeit der Massen. Victor KLEMPERER hat in seiner LTI[1] bezeugt, wie die Nazi-Propaganda sogar bei ihm, dem Opfer und Gegner der Nazis, in die Oberfläche einbrach und zu prägen versuchte. Ja, es gibt sie, die Prägung wider Willen, die Prägung mit Gewalt, mit List, mit Überredung: Wenn teuflische Ideologien Köpfe verführen, selbst hochgebildete, wenn katastrophale Kindheiten Seelen verbiegen.

    Achten wir wachsam auf das, was uns prägen will. Hinterlassen wir selbst möglichst einen guten Eindruck. Die Naturschützer sagen: Leave nothing but your footprints. Ich erweitere: Leave nothing but good footprints in history! Freunde, prägt euch das ein!

     

    Prägen

    1.      Etymologie

    1.1.   KLUGE < 9. Jh mhd præch(en), bræchen, ahd brähhen – vergleichbar ae abracian einpressen, ostfr. prakken pressen. Verwandtschaft zu brechen besser offen lassen – wictionary: Belege fehlen.

    1.2.   WAHRIG < ahd prahhen, brahhen «brechen machen, gebrochene Arbeit hervorbringen» < germ *brahhjan -> brechen

    1.3.   Wiktionary mhd bræchen, præchen „einpressen, abbilden“ < ahd giprāhhan, prāhhan „indem die Oberfläche eingebrochen wird, etwas einpressen, einritzen“

     

     

     

    [1] Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam jun., 1978

  • Der längste Bus

    Wennemann grübelt schon seit Jahren,
    ob ein hypothetisch gedachter
    unendlich lang gemachter
    Bus kann um die Kurve fahren.

    Aberach beweist, dass dieser Bus,
    weil der relative Einstein, und das stimmt,
    unendliche Gerade in sich selbst zurückgekrümmt,
    letztendlich um die Kurve fahren muss.

    Ein solcher Bus, so rechnet er ihm aus,
    führe, der Beweis ist nicht so schwer,
    nicht nur sich selber hinterher,
    sondern zugleich sich voraus.

    Überdies, und die Gefahr ist gross,
    käme das unendliche Gefährt,
    gleich ob es linksrum, rechtsrum fährt,
    mit sich selber zum Zusammenstoss.

    Andrerseits, ist er sich bald im Klaren,
    ist der überlange Stretchgeselle
    zur gleichen Zeit an jeder Haltestelle
    und müsste somit gar nicht fahren.

    Ergo gibt es, schliesst er mit Stringenz,
    im Unendlichen nicht Ort, nicht Zeit,
    sondern nur die schiere Ewigkeit
    gepaart mit Omniopräsenz.

    (06.06.2017 0600)  © E W Grundmann