Autor: Helga Thomas

  • Ich meine
    dass ich sage
    was ich meine
    aber ich weiß
    das ich nicht immer
    meine
    was ich sage
    und auch nicht sage
    was ich meine
    Manchmal erkenne
    ich erst wenn ich etwas sage
    was ich wirklich meine…
    In der Kluft zwischen
    meinen und sagen
    erscheint mein Spiegelbild
    ich erkenne mich
    wie sich Narziss erkannte
    – wenn er sich denn wirklich erkannte –
    beim Blick in das Wasser
    Ich hoffe nur
    dass sich das was ich sage
    aber nicht meine
    nicht zur echten Lüge entwickelt

    Das ist gar nicht so einfach, habe ich inzwischen durch die Duplizität eines Vorfalles erkannt. Ich muss dazu etwas ausholen. Also: ich nehme an zwei Arbeitsgruppen teil, die sich regelmäßig treffen. Inhalt und Art der Arbeit ist fast identisch, die TeilnehmerInnen sind es nicht. Auf eine Gruppe freue ich mich schon im Voraus, was mich nicht hindert, fernzubleiben, wenn ich zu müde oder anderweitig beschäftigt bin. Die andere Gruppe: reine Pflichterfüllung, auch wenn ich einzelne Teilnehmer gerne sehe und hinterher immer etwas „herauskam“. Ich weiß nicht, warum das so ist und anscheinend habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Einmal wurde es schlussendlich ganz stark, als nämlich das Treffen abgesagt wurde. Ich… freute mich! Wahrscheinlich, um das schlechte Gewissen zu kompensieren, sagte ich: “Oh je, wie schade!“ Ich dachte, ich höre nicht richtig! Der Ton, in dem ich es sagte, war pure Heuchelei! Ich habe nicht nur nicht gesagt, was ich meine, sondern… ich habe gelogen. Lügen finde ich schlimm! Ich muss besser wahrnehmen, was ich eigentlich meine, wenn ich etwas sage! Ich benutzte meine gerne-bei-ihr-sein-Gruppe als Übungsfeld. Auch hier passierte es, dass ein Treffen verschoben wurde. Was sagte ich? „Toll, dass ihr als neuen Termin einen ausgesucht habt, wo ich schon besetzt bin. So habe ich einen Abend frei!“ Alle verstanden es nicht nur, sondern waren im Gegenteil froh, dass mein Bedauern nicht so groß war, dass wir nun neu auf Terminsuche gehen mussten. Und sie meinten wirklich, was sie sagten!

     

    Helga Thomas

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    KRANK? GESUND? HOCHSENSIBEL?

    Zwischen normal und krank. . . Nein, da befindet sich nicht der Zustand des Gesundseins… Gesund und krank sind Gegensätze – auch dazwischen befindet sich nicht das Normale. Ist denn das Normale a priori gesund? Oder: ist das aus der Norm Gefallene denn krank?

    Zwischen normal und krank befindet sich die ganz einzigartige Individualität, sie kann krank sein, auch gesund, nur normal ist sie nun einmal nur bis zu einem bestimmten Punkt. Beziehungsweise wenn diese Individualität noch nicht sehr gekräftigt ist, legt sie sich die Maske, die Rolle (im Jungschen Sinne Persona) des Normalen an, ein Schutz wie ein Regenmantel bei Regenwetter…

    Je weiter  entwickelt diese Individualität ist, um so weniger ist sie normal. Aber ist sie deshalb krank? Ja ist das nicht der Irrtum vom vorletzten und letzten Jahrhundert? Wenn der individualisierte Mensch erfolgreich ist, akzeptiert man es, spricht nicht mehr von Krankheit, sondern… von Genialität! Genie und Wahnsinn! Nein, kein Wahnsinniger a priori ist ein Genie und wenn das Genie nicht der Norm entspricht, ist es nicht unbedingt wahnsinnig. Doch darüber mag ich  jetzt nicht nachdenken, denn sonst packt mich der Zorn denn… wie viele Jugendliche, Kinder, junge Erwachsenen wurden wegen dieser Anschauungen nicht nur in ihrer Entwicklung gehemmt, sondern krank gemacht!

    Wer in zwei Welten beheimatet ist (sei es sein eigener Innenraum, sein Unbewusstes, die geistige Welt, die Anderswelt, die Zwischenwelt), wird zwangsläufig zum Grenzgänger ohne im psychiatrischen Sinne ein Borderline zu sein. Wer mit seinem inneren Du spricht, ist nicht unbedingt schizophren, wer immer wieder zum Quell des schöpferischen Werkes zurückkehrt, schaut, nachdenkt, nachspürt, nach innen lauscht, weil er es noch nicht richtig gestalten kann so, dass der unbekannte, unsichtbare Auftraggeber zufrieden ist, ist nicht unbedingt ein Narziss. Vielleicht ist er ja von all diesen Beschäftigungen erschöpft, aber nicht unbedingt depressiv! Ich als Psychotherapeutin möchte gerne leidenden Menschen (gleich ob sie krank sind oder nicht) zu besserer Lebensqualität verhelfen (wie toll, wenn sie ihren Weg wieder finden, vielleicht sogar den Sinn des Umwegs verstehen), vor allem möchte ich den gesunden Kern in jedem individuellen Menschen entdecken und… dann dem ganz Außergewöhnlichen, dem nicht Normalem zum Durchbruch verhelfen. Selbst wenn es destruktiv sein sollte, wer stark ist, erkennt es selbst, kann es zurückhalten oder wandeln, ohne krank, verrückt zu werden. Das ist meine Hoffnung, ich habe es erlebt und erlebe es immer wieder.

    Als ich diese Überlegungen niederschrieb, hatte ich noch nicht bemerkt, dass sie sich als Einführung eignen für meine Beschäftigung mit dem Thema der Hochsensibilität.

    Gehören vielleicht die folgenden Überlegungen auch dazu?

    Was ist der Grund, dass wir, und auch Fachleute, so schnell unseren Mitmenschen, aber auch uns selbst, Diagnosen anheften, die oft kränkend und damit krank machend sind? Ich will nicht bagatellisieren , denn ich gehöre durchaus zu den Menschen, die für Prophylaxen sind, also gerne auf Nummer sicher gehen und nicht erst aktiv werden, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Wer könnte aus welchem Grund so schnell (und ungeprüft) Diagnosen bereit haben? Aus Angst, Unsicherheit? Wie der Verbraucher, der das eingeschweißte Nahrungsmittel am Tag des letzten Verkaufstages entsorgt, ohne daran zu denken, dass es noch weitere (mindestens) drei Tage ohne Gesundheitsgefährdung verzehrt werden kann? Ich habe mich das oft gefragt – manchmal wirken die Diagnosen (ich spreche von psychiatrischen Diagnosen) wie ein Gefälligkeitsgutachten, vor allem, wenn sie den Angehörigen gegenüber geäußert werden. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und jetzt hatte ich die Idee einer möglichen Erklärung:
    Je besorgniserregender die Diagnose, um so kranker unsere Mitmenschen (wollen wir ihn bestrafen oder beschützen, indem wir ihn fast unmündig machen?), aber umso großartiger ist auch der Therapeut, der ihn von dieser Krankheit heilt! Kann das wirklich ein Grund sein oder . . . bin ich heute besonders boshaft?

     

     

     

     

     

     

  • Wenn das Gestern
    und der Tag davor
    noch zu meinem Jetzt gehören
    wie auch das Morgen
    und der Tag danach
    dann ist das meine Gegenwart

    Wenn ich mich an vorgestern erinnere
    und wieder das Jetzt von dort
    betrachte
    und die Zukunft von damals
    die inzwischen schon vergangen ist
    dann spüre ich
    den Hauch der Ewigkeit
    und im gedanklichen Tun
    kann mein Engel
    sich mir nahen

    ***

    Ein Tropfen
    auf dem Boden des Zimmers
    ein Tropfen aus Wasser
    kein Tautropfen
    kein Regentropfen
    ein Tropfen vom Giessen der Pflanzen
    oder…

    Sichtbar gewordene Träne
    eines unsichtbaren Wesens?

    ***

    Gedichte sind …

    Gedichte –
    gewandeltes Leid

    Erkenntnisfrucht
    nach langer Suche

    Antwort der Engel
    auf die ungestellte Frage

    Botschaft aus fremden Welten
    Auftrag
    Von wem?

    Ruf deines Du
    oder der Ruf nach ihm?

    Strandgut am Morgen
    aus dem Nachtmeer

     

     

  • Die Münze auf dem Weg

    Heute Morgen
    auf dem gewohnten Weg
    (nur das Ziel in der Ferne
    war nicht alltäglich)
    gingen meine Füße von selbst
    wussten wohin
    meine Augen halfen
    die Hindernisse im Voraus
    zu beseitigen

    Ich blickte innerlich
    weder voraus
    noch zurück
    ich  …  entwirrte Gedankenfäden
    – habe ich ein inneres Katzenwesen
    das mit den geordneten Gedankensträngen
    spielte? –

    Viele Fäden
    hatten ihren Ursprung im Wesentlichen
    wie zum Beispiel:
    was ist das Böse?
    Kann ich es überwinden?
    Gemeinsam mit anderen?
    Können wir es angstfrei betrachten?
    Wo liegt der Sinn?
    Ist Wandlung möglich?
    Wie?

    Noch konnte aus den Gedankenfäden
    kein brauchbares Gewebe entstehen
    ( brauchbar
    nichts Künstlerisches)
    da fragte ich mich
    – oder wer war es?–
    was willst du erreichen?
    Ich möchte
    Mut machen
    helfen Ängste zu überwinden
    ohne irgendwas
    zu verniedlichen
    ohne der Illusion
    einer heilen Welt zu verfallen
    Da
    mein Auge sah ein kleines Blinken
    der Fuß stoppte
    eine Münze
    verloren?
    Achtlos fallen gelassen?

    Der Wert ist gering
    und doch…
    Die fünf Eichenblätter
    die beiden Eicheln …
    Bevor Zweifel
    mein Wollen stören konnten
    bin ich ermutigt worden
    Welchen Wert
    kann eine kleine
    Ein-Cent Münze besitzen!

    Helga Thomas

    11.3.2017

  • An meine Mitmenschen, die in der Öffentlichkeit (neben mir!) telefonieren

    Sie stören mich. Ihr stört mich. Vor allem wenn es nicht nur Telefongespräche sind, da gibt es ja im Allgemeinen Hörpausen, aber wenn es ausführliche Sprachmitteilungen sind… wisst Ihr eigentlich, dass Ihr Exhibitionisten seid? Das wäre nicht so schlimm, nur…   was mich wirklich ärgert: ich werde gezwungenermaßen zum Voyeur! Ist das nicht auch eine Art Freiheitsberaubung? Zumindest ist es Hausfriedensbruch! Auch im öffentlichen Tram.

    Gerade dachte ich, dass wär vielleicht ein Beitrag für die Lesung zum Thema: „Gehen oder bleiben“

    Ja, in solchen Situationen würde ich gerne gehen, aber warum eigentlich ich? Sollte ich vielleicht dem telefonierenden Mitmenschen sagen: „Möchten Sie nicht lieber woanders ungestört reden?“ Überhaupt, die Lösung: ich fange an – nein, nicht zu telefonieren – aber zu reden, zu ihm, den telefonierenden! Oder: ich nehme mein iPhone und täusche ein Gespräch vor, ich sage in normaler Lautstärke meinem imaginären Zuhörer, wie es mir so geht, vielleicht erzähle ich ihm auch, was ich gerade gehört habe? Vielleicht – und das wäre wirklich was – regt sich dann jemand über mich auf… Und dann entsteht ein richtiger Lärm im PST – Zugabteil!

    Aber vielleicht nehme ich den angebotenen Erziehungsauftrag nicht wahr, sondern übe mich neben Toleranz auch im Abgrenzen! Aber Geräusche kann ich nicht draußen vorlassen!

    Ich werde gehen, obwohl ich bleibe! Ich werde die Ebenen wechseln, nicht im Zug, aber in mir. Entweder abtauchen, in die Tiefen des eigenen Unbewussten oder mich emporschwingen zu geistigen Höhen… Ja, das werde ich tun… Ich werde nachdenken, vielleicht vorausdenken, mich auf den Ort meiner Ankunft einstellen… Ich darf dann dort nur nicht vergessen, gleich zu Hause anzurufen, dass ich gut gelandet bin.

     

    Helga Thomas

     

  • Ich schreibe um
    Unsichtbares
    sichtbar
    Unhörbares
    hörbar
    werden zu lassen
    Ich könnte auch
    malen oder komponieren
    wenn ich es könnte
    aber im Schreiben
    ist beides vereint:
    das Sehen
    das Hören
    und wenn du
    zu den Worten tanzt
    sie tanzen lässt in dir
    dann schließt sich dem Sehen und Hören
    das Tasten noch an

    Ich schreibe um
    Unsichtbares
    sichtbar
    Unhörbares
    hörbar
    werden zu lassen
    für mein Du
    für den Fremden
    der sich
    vielleicht zum Freund wandelt
    für mich

    Ich – und vielleicht auch der andere –
    kann so erkennen
    mich erfreuen
    und allmählich
    beginnt mein unsichtbarer Leser Hörer
    für den ich schreibe und dichte
    zu sprechen
    Meine Worte
    werden zum Netz
    das Fische fängt
    aus dem Meer der geistigen Welt
    meine Worte
    werden zur Schale
    die unsichtbare Tropfen
    aus anderen Welten empfängt

    Vielleicht
    schreibe ich eigentlich
    um mit meinem
    Engel
    im Gespräch zu sein

    Das Gedicht ist eigentlich entstanden aus einem Mangel*, aus Erlebnissen und Synchronizitäten, die sich zum eigentlichen Gedicht verdichteten. Vielleicht sollte ich davon erzählen?

    *Ich vermisse meine Aphorismensammlung „Ich schreibe um“

     

    Helga Thomas

    6.3.17, 8.15 Uhr

  • Das Licht

    Verschiedene kleine Begebenheiten und einzelne Gedanken veranlassten, dass mir plötzlich eine meiner ersten Kurzgeschichten einfiel (um genau zu sein meine zweite, die ich mit knapp 16 Jahren schrieb, es war jetzt vor 58 Jahren). Ich erinnerte mich an die Gesamtkomposition, an das Geschehen, durch das für meine Protagonistin plötzlich alles ganz anders war, aber ich erinnerte keine Einzelheiten, keine Worte. Erstaunlicherweise fand ich meine Kurzgeschichte ganz schnell. Objektiv gesehen schien mir mein Werk besser als vermutet, es reizte mich, sie heutigen Zuhörern vorzulesen. Ilse, genannt Ille, ist ein 17-jähriges typisches Mädchen der damaligen Zeit (vor 58 Jahren). Sie wohnt im achten Stock eines Hauses, im Haus gegenüber wohnt ein junger Mann, in den sie sich verliebt hat.

    Zuerst hatte sich Ille über dieses Haus geärgert, weil es ihre sonst so freie Sicht versperrte, aber jetzt kann sie nicht oft genug hinüber blicken. Das Leben war gleich viel schöner, weil sie wusste, dass es “ ihn“ gab. Trat Ille ins Zimmer, galt ihr erster Blick gleich dem Gegenüber. Sie wusste, es war kindisch, aber sie freute sich darüber, dass das Licht bei „ihm“ im Zimmer brannte.

    Ille hat mit ihrem Vater Krach.

    Als sie wieder im Zimmer war, hielt Pa ihr wortlos den Mantel, ihre Büchertasche und einen gepackten Koffer entgegen. Dann trat er zum Schreibtisch, überreichte ihr einen Scheck und einen Brief an ihre Tante Emma. „Hier. Ich habe von dir frechem Ding erst mal eine Weile genug. Du ziehst für einen Monat zu Tante Emma und übergibst ihr den Brief und den Scheck. Ich werde mich regelmäßig erkundigen, ob du zur Schule gehst.“

    Ille ist sprachlos. Jetzt wird sie also buchstäblich rausgeschmissen. Sie geht langsam aus ihrem Zimmer. Der Vater blickt fassungslos auf seine Tochter. Er hat sie doch nur aus dem Haus geschickt, damit sie endlich ihre Fehler einsieht und sich entschuldigt. Ein lauter Knall zeigt, dass Ille die Wohnung verlassen hat. Jetzt steht sie im Treppenhaus.

    Ille geht nun die acht Stockwerke hinunter, begegnet auf jedem Stockwerk Mitbewohnern oder Besuchern. Ihr Wesen und ihr Leben wird uns so etwas deutlicher durch diese Begegnungen. Aber wo soll sie hin?

    Wenn sie nun nicht zu Tante Emma zieht, wo dann hin? Umkehren und Vater um Entschuldigung bitten ist ebenso unmöglich. Da fällt ihr Blick zufällig durch das Flurfenster auf das gegenüberliegende Haus. Bei „ihm“ im Zimmer ist Licht. Es scheint ihr vertrauensvoll zu zunicken.

    Im fünften Stock weiß Ille, dass sie zu „ihm“ gehen wird. Jetzt ist es im Flur dunkel. Lichtdauer ist abgelaufen, aber Ille drückt nicht auf den Knopf. So im Dunkeln kommt das Licht von „ihm“ viel besser zur Wirkung.

    Während sie weiter Stockwerk für Stockwerk runtergeht, denkt sie voraus.

    Ille will nun zu Andreas gehen. Aber was soll sie sagen? Sie kennt ihn doch gar nicht richtig? Aber das sind für Ille keine Probleme. Sie wird anklopfen, eintreten und sagen: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, dass ich sie störe, aber ihr Licht brannte und flösste mir so viel Vertrauen ein und ich weiß sonst nicht, wo ich hin soll.“ Einfach wegschicken kann er sie ja dann auch nicht.

    Ille kommen Zweifel:

    Aber wenn das Licht aus ist und Andreas im Dunkeln sitzt, was soll sie dann machen? Sie wird nichts weiter sagen als: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber könnten Sie nicht das Licht an knipsen?“ Und dann wird sie alles das sagen, was sie vorher auch sagen würde.

    Inzwischen ist sie schon im zweiten Stock.

    Jetzt steigen Ille die ersten Zweifel auf. Wenn sie auf der Straße sieht, dass das Licht gar nicht mehr brennt, was dann? Ja, dann würde sie nicht zu Andreas gehen. Aber darüber will sie sich noch nicht den Kopf zerbrechen.

    Und dann ist sie auf der Strasse

    Auf der Straße ist nicht mehr so viel Verkehr. Ille kann sie gleich überqueren. Kurz vor der Haustür blickt sie noch nach oben, nur um sich zu versichern, dass das Licht immer noch brennt. Aber so viel sie sucht, sie kann es nicht finden. Ille tritt einen Schritt zurück und da sieht sie auch sein Zimmer, aber das Licht brennt nicht mehr. Sie dreht sich um und geht wieder zu ihrem Haus. Wo soll sie nun hin? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass es keinen anderen Weg als den zu ihren Eltern gibt. Zu einer Freundin möchte sie nicht und nur in den Straßen herum treiben, davor hat Ille Angst. 

    Im vorletzten Stockwerk hat Ille ein Spiegel Erlebnis, Sie wird Zeugin eines Streites zwischen ihrer Freundin und deren Eltern. Nachdenklich geht sie weiter. Es hat sich etwas geändert, Sie erkennt nicht nur eigenes, sondern auch Fehlverhalten der Eltern.

    Ille steht vor ihrer Wohnung. Dreimal klopft sie kurz, es ist das allgemeine Erkennungszeichen, an die Tür. Der Vater öffnet. Als ob es das Selbstverständlichste der Welt sei, nimmt er ihr den Mantel und den Koffer ab. Ille überreicht ihm den Brief und den Scheck mit den Worten: „Entschuldigt bitte, dass ich wiederkomme, aber das Licht brannte nicht mehr und ich gehe nicht gerne ins Dunkel.“

    Pa, obwohl er nichts verstand, nickte mit dem Kopf und führte sie in ihr Zimmer. Ille tritt ein und blickt wie immer, diesmal aber vollkommen unbewusst, zu „ihm“ hinüber.

    Und das Licht, das ihr so viel Vertrauen eingeflößt und ihr den Weg zur Vernunft gewiesen hatte, brannte wieder.

    Helga Thomas

    Geschrieben im Januar 1959, für die Lesung beim BDSÄ-Kongress in Gummersbach 2017 vorbereitet 31.3.2017

  • Beitrag zur Lesung Teufeleien beim BDSÄ-Kongress Mai 2016

     

    Ich bin sauer … stinksauer sogar … auf mich, auf die Technik, ich weiß nicht auf wen oder was. Und dann noch tief innen das dumpfe Gefühl, dass es eventuell so seine Richtigkeit hat. Aber ich muss der Reihe nach erzählen.

    Heute früh erwachte ich mit einem Schrecken, der BDSÄ-Kongress in Würzburg (Bund deutscher Schriftstellerärzte). Bis wann sollten wir die Texte, die vorgelesen werden sollen, geschickt haben? Was gab es noch für Themen? Garten … ich habe neue Schneeglöckchengedichte … Schneeglöckchen wachsen im Garten … Vielleicht ist das Thema grad noch nicht verfehlt.

    Freie Lesung … da habe ich viel zur Verfügung, zu viel, muss ich also eine Auswahlentscheidung fällen. Mag ich gar nicht. Ich mag die Texte, die nun ausgegrenzt und abgeschoben werden, nicht so verärgern, sie tun mir leid, sie sind doch auch mit Liebe geschrieben worden. Geheimnisse … Ich glaub, da hab ich was, wenn der liebe Kollege es nicht passend findet, dann soll er es gleich weiterleiten zur Freien Lesung. Wertewandel … da habe ich auch was. Halt … das ist ja die Lesung, die ich moderiere. Da habe ich alle Zeit der Welt. Aber vielleicht sollte ich es doch auch mir selbst schicken, damit es nicht verloren geht. Verlorengehen …. verschwinden … unauffindbar, sogar im Computer! Das ist der Grund meiner schlechten Laune. Mir fielen nämlich Texte ein, die zum Thema Teufeleien passen. Ich beschrieb Erlebnisse, wo etwas schief lief, was dann doch gut endete und diese Texte suchte ich heute. Ich sah im Mac: Engelwirken … zweimal, einmal mit Fragezeichen, einmal ohne. Engelwirken sind aber keine Teufeleien, oder? Die koboldartigen Wesen, die uns stören, behindern sind doch rechte kleine Teufelchen, aber was wissen wir, wer im Hintergrund wirkt?

    Ich wollte mir daraufhin den Text genauer anschauen. Ich meinte, der mit Fragezeichen sei der endgültige. Ich klicke ihn an. Ausser den Anfangszeilen nichts ….Beim Engelwirken ohne Fragezeichen dasselbe. Wohin ist der Text verschwunden? Die Suchmaschine findet nichts, ich auch nicht, auch nicht im Papierkorb.

    Schließlich kann ich nicht länger suchen, ich muss aus dem Haus. Ein Gehetze …. hasse ich genauso wie das Suchen ohne Finden.

    Ich entschließe mich, den Text noch mal zu schreiben. Im Laufe des Tages mache ich mir Notizen. Ich will ihn am Abend zu Hause endgültig schreiben. Ich suche mir Konzeptpapier, in meiner noch nicht ganz ausgepackten Reisetasche habe ich noch welches. Ich suche es raus und … halte den Text in Händen. Ich hatte ihn noch gar nicht eingetragen!

    Hier ist er:

     

    Engelwirken?

    Ich bin in Reisevorbereitungen, d.h. ich bin kurz vor meinem Abflug nach Sofia. Je, wie relativ alles ist …was heißt kurz? Ich bin kurz davor, meine Wohnung zu verlassen, dann werde ich mit der S-Bahn fahren, dann mit dem Zug bis zum Flughafen Zürich und von dort aus fahre, d.h. fliege ich nach Sofia.

    Noch habe ich den Mantel nicht angezogen, trinke die letzte Tasse Tee und überlege, was für eine Reise nach Sofia auf dem Plan steht. Köln, Jahrestagung der DGAP (Deutsche Gesellschaft der Analytischen Psychologie). Da fällt es mir mit Schrecken ein: Habe ich eigentlich schon mein Zimmer bestellt?

    Ich denke darüber nach, warum ich mich nicht erinnern kann. Wohl weniger eine Alterserscheinung als ein Hinweis, dass ich mal wieder etwas zu schnell machte, weil es so viel zu tun gibt, und ich mich nicht recht mit meinem Tun verbunden habe. Aber das ist im Alter vielleicht genau so: zu viel – innerlich  – zu tun und schon etwas abwesend …

    Die Unterlagen liegen auf dem Schreibtisch. Bis 31.1.  gab es ein Kontingent. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es nicht bestellt habe, aber die Unsicherheit plagt mich jetzt. Soll ich sie mitnehmen und von Sofia aus per Email anfragen? Nein, ich möchte schneller Gewissheit. Ich rufe an. Die junge Dame an der Rezeption des Tagungshotels scheint mich nicht recht zu verstehen, vielleicht habe ich mich aber auch in der Aufregung unklar ausgedrückt. Sie sagt mit anteilnehmendem Bedauern: Leider alles schon ausgebucht. – Ich  erkläre ihr, dass ich nicht buchen will, sondern nur nachfragen (das ungute Spannungsgefühl nimmt zu). Sie sucht mich im Computer, sie findet mich, hurra, ich sage ihr, dass sie mich eben zu einem glücklichen Menschen gemacht hat. Da lacht sie herzhaft und meint: Haben Sie eine Ahnung, Sie mich nämlich auch. Heute morgen dachte ich, der ganze Tag wird Scheisse – oh, Entschuldigung – ich kann gerade liegen bleiben, ich tauge eh zu nichts! –

    Wir verabschieden uns fröhlich und hoffen auf ein Wiedersehen bei der Tagung.

    Habe ich mich deshalb nicht mehr erinnert? Hat ihr Engel ein Schleier des Vergessens bei mir drübergelegt und, als ich an Köln dachte, mir den Schreck einfahren lassen?

    Vielleicht hat der Schutzengel oder sonst ein hilfreicher Geist es auch bei anderen Kolleginnen und Kollegen so gemacht. Dann wird die junge Dame an der Rezeption heute ganz besonders gut drauf sein!

    Also, man mag nun denken, was man will, aber offensichtlich liegen Teufeleien und Engelwirken nah beieinander, ja, vielleicht bedingen sie sogar einander.

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

    Februar 2016

     

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ beim BDSÄ-Kongress Mai 2016

     

    Als ich mich umwandte
    und zurückblickte zu dem Hund
    zu dem Straßenhund
    – ein hübsches Tier
    wie ein Wächter vor dem Geschäft
    er hatte so lieb
    meine Hand geleckt
    ganz kurz
    als ich ihn vorsichtig streichelte
    die Leckerbissen
    die ich ihm gab und
    die er nahm
    fraß er aber erst
    als ich gegangen war
    deshalb drehte ich mich
    noch einmal um
    und blickte zu ihm –

    da sah ich
    auch er blickte zu mir
    immer wieder
    trafen sich unsere Blicke
    bis ich in die andere Straße
    einbog

    Der Blick
    begleitet mich nun …
    er war nicht klagend
    nicht bettelnd
    er war …
    wie der Blick meines Hundes
    voll Gewissheit
    dass die Trennung nur
    vorübergehend ist

    Der Blick …
    könnte ich den Blick meines
    Engels sehen

    Er würde ihm gleichen

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • (Beitrag zur Freien Lesung beim BDSÄ-Kongress Mai 2016)

    Ich habe Narziss eingeladen, mich mal zu besuchen. Vielleicht macht es ihm Spaß, das Regal anzuschauen mit all dem vielen Material zum Thema „Narziss und Narzissmus“, meine Fotos seiner Blume und all die vielen Ordner mit meinen Texten, fertigen – unfertigen, die bereits veröffentlichten Gedichthefte …

    Vielleicht hat er eine Idee, wo ich weiterfahren soll? Eigentlich weiß ich, was ich will, aber mir fehlt die Zeit, das heißt natürlich fehlt mir die Zeit nicht, aber anderes hat – leider! – größere Priorität!

    Narziss zögerte, er möchte sein Spiegelbild nicht verlassen. Ich tröste ihn damit, dass es bei mir auch Spiegel gibt, sogar mehrere. Natürlich muss er seinem Spiegelbild nun aufrecht gegenübertreten. Das demutsvolle Sich-Zuneigen erfolgt nicht zwangsläufig. Er kann auch nicht sein Spiegelbild auf dem Untergrund des Himmels sehen … Er winkt ab … er kennt diese Überlegungen doch schon aus meinen Gedichten. Soll ich sie hier anfügen?

    GEDICHTE?????

    Nun ist er gekommen, er blickt sich um, erblickt meine Körbe und Taschen mit Papieren, Büchern, Briefen …. er strahlt:

    „Hast du schöne Spiegel, und ganz individuelle, nur du kannst dich in ihnen erkennen.“

    Da erkenne ich: Ein MZ (Messiezustand) ist der Spiegel, in dem sich ein MiM (Mensch im Messiezustand) erkennen kann … Ich schaue ihn dankbar an. Auch er lächelt, liebevoll, bezogen: “Und ich erkenne dich, ein wenig, ich sehe, welche Kräfte aus der geistigen Welt sich bemerkbar machen möchten.“ (Also kann bedingt auch ein anderer sich in meinem individuellen Spiegel erkennen?). Er fährt fort – er hat mein Denken gespürt und innegehalten – „und ich erkenne, wer dich zu mir führte!“

    Narziss, sag, wer … er ist verschwunden … ein kleiner Nebel in meiner Wohnung…

    Wieder im Hier und Jetzt angekommen denke ich:

    Wer mit Hilfe des Narziss seinen eigenen Narziss erlöst, hat einen einfühlsamen Freund an seiner Seite.

     

    Anmerkung:

    Und nun habe ich ein Problem, wenn ich den Text nun für andere abschreibe, in meinem Computer, wo lege ich ihn ab? Im Ordner „Narziss 2015“ oder im Ordner „Messie_neu“?

    Wenn ich nicht aufpasse, entsteht in mir ein Mini-Messiezustand! Was kann ich daran nun über mich erkennen? Ob Narziss es weiß?

    20.6.15, 7.20 h

     

    Inzwischen ist mir ein Untertitel eingefallen:

    Messiezustände als Spiegel der Selbsterkenntnis

     

    Copyright Dr. Helga Thomas