Helga Thomas
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Beiträge zur Lesung “Gärten”, BDSÄ-Kongress Mai 2016
Im Gras vor der alten
kleinen Kirche
blühen Schneeglöckchen
Kokitche werden sie
in Bulgarien genanntSie sind weiß wie
die Lilie die
der Engel
der Jungfrau reichteWeiß
wie Schnee
wie die Milch
der MutterDrei Blütenblätter
umfassen den Becher
der sich zur Erde neigtDrei
wie Vater Mutter und Kind
wie die Frau
die gleichzeitig auch
Mutter und Tochter istEine Dreiheit
wie Vater Sohn
und Heiliger GeistWo sind deine drei
anderen Blütenblätter
verborgen?Wohin sind sie verschwunden?
Oder wem
hast du sie geschenkt?Helga Thomas
20.2.2016
Nachtrag vom 2.3.16:
Ich schenkte sie dem Künstler
der sie zum Becher schuf
zum Abbild des
Heiligen Gral
versteckt
in der Mitte der DreiDas Schneeglöckchen dankt
der Wärme
dem Licht
indem es sich öffnend
sich nieder zur Erde neigtVielleicht
sagt es dem Schnee
dass er das Tauen
nicht fürchten muss
Freude wird ihn erfüllen
wenn Tropfen um Tropfen
er sich löstFreude wird auch die Erde erfüllen
denn das Schneeglöckchen versprach:
ich werde dir schenken
was jetzt in mir wächst13.2.2016
Als Kind sprach ich
als ich noch nicht sprechen konnte
mit den Blättern im Wind
mit dem im Baum verborgenen Gesicht
das dem Gesicht der Mutter glich
und in manchen Nächten
zum Mond heimgekehrt warAls Kind ging ich
spazieren im Garten
mit Wunderbäumen
und Zauberblumen
die ich mir selbst erschaffen habeAls Kind liebkoste ich
mein kleines Tier im Arm
das meinen Schlaf beschützte
und am Tage nur ein Bettzipfel schienAls Kind war das mein Alltag
und heute fühle ich mict glücklich
und meine es ei ein besonderer Tag
wenn es mir wieder gelingtCopyright Dr. Helga Thomas
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Gestern saß ich im Zug von Berlin nach Basel. Ich kehrte von einem Kongress zurück, der für mich sehr wichtig war – sicher nicht nur für mich – und eine Mitgliedsversammlung hatte stattgefunden, die – vielleicht – noch wichtiger war als der ganze Kongress (objektiv und für mich). Ich schaute aus dem Fenster, trank Kaffee, Tee oder Wasser und erinnerte mich, liess alles noch einmal Revue passieren. An dem Morgen war mir ein kleines Missgeschick passiert, dass mich an ein ähnliches Jahrzehnte zurückliegendes Missgeschick erinnerte. Ich verspürte den Impuls, darüber zu schreiben. Mein Mac Air war schon vor mir auf dem Tischchen. Ich schrieb und schrieb, die Gedanken flogen mir nur so zu, fast eine Seite war schon voll, da passierte es: Ich kann es nicht genau diagnostizieren, Absturz oder Aufhängen (Überlebenschancen in beiden Fällen gleich null). Ich hatte gehofft, dass mein etwas kapriziöses Wordprogramm sich mit mir oder meinem Mac versöhnt hatte…
Ich tröste mich damit, dass ich nicht Korrektur lesen muss, denn aus den Augenwickeln hatte ich gesehen, dass es viel rote Unterstreichungen gab! Noch mal beginnen? Wieder einen Absturz oder Erhängen riskieren? Nein, danke! Vielleicht morgen oder irgendwann. Eigentlich war der Text ja schon geschrieben, wenigstens in mir. Wie das nun mal meine berufsbedingte Art als Psychotherapeutin ist, fragte ich mich heute Morgen auf dem Spaziergang mit meiner Hündin, ob sich dahinter vielleicht irgendein Grund verstecke? Ich kam auf einen anderen Fehler, der mir am Anfang des Kongresses passiert war. War der nicht viel wichtiger, sollte ich vielleicht von ihm erzählen?
Wie soll ich die nötige Information kurz und knapp vorausschicken? Es war im Vorfeld einiges Ungute geschehen. Auf objektiver Ebene, mehr noch auf persönlicher Ebene. Ich hielt mich im Vorfeld für besser informiert als die Mehrheit. Eine kleine Info per E-Mail, hatte in der darauffolgenden Nacht unangenehme Ängste ausgelöst, ein nicht näher zu definierendes Gefühl von Beklemmung. Ich hatte bei der Informantin vorsichtig nachgefragt und … die Antwort: „Ich bin im Weltuntergang“, tat ein Übriges, dass ich mich von der emphatischen Kollegin über die klar analysierende Therapeutin zur kämpfenden Mutter entwickelte. Ich setzte meine kriminalistische Begabung ein, versuchte hier und dort Informationen aus dem Nähkästchen zu erhalten und schließlich war auch ich in Sorge, bzw. schäumte ich vor Wut und entwarf – das war psychohygienisch absolut nötig, sozusagen psychotherapeutische Prophylaxe – einen Schlachtplan. Den galt es nun, wenn nötig, in die Tat umzusetzen. Möglichst so, dass Nähkästchenplauderer nicht erkannt wurden.
Vor der MV fand unsere Großgruppe statt (der Ort, gleichermaßen geliebt und gefürchtet, wo jeder über seine Gefühle, Ängste, Träume und Visionen sprechen kann, ohne zu befürchten, be- und verurteilt zu werden). Ich war erstaunt, dass einige erwähnten, dass der Vorstand zurück treten wolle. Moment mal, war das nicht ein angesteuertes Ziel? War mein ,,Schlachtplan‘‘ nicht Teil davon, dies Ziel zu erreichen? Auch dort sprach einer ganz offen davon und da, die mir unbekannte Kollegin links in der Ecke… woher wussten denn so viele davon? Und Anwesende des noch nicht zurückgetretenen Vorstandes… hörten schweigend zu, mit verschiedenen Gesichtsausdrücken. Ich möchte auch nicht urteilen, weder be- noch ver-. Meine Irritation wuchs ins Unermessliche! Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich ergriff das Wort und sagte klipp und klar und unmissverständlich: „Ich verstehe kein Wort! Kann mich vielleicht einer mal informieren?“
Ein Sturm brach los. Ich verstand nicht unbedingt mehr, aber die Stimmung wurde besser. Ich war nicht mehr allein. Der klärende Prozess (mehr bei mir als bei den anderen) setzte ein, als eine neue, mir noch unbekannte Kollegin meinte, dass ich ihr aus dem Herzen gesprochen hätte. Erst habe sie sich eigentlich ganz unvoreingenommen auf den Kongress gefreut, aber als sie im Mitgliederrundschreiben las, dass der Vorstand zurück treten wolle, habe sie nichts mehr verstanden. Ich muss sagen, meine Irritation nahm darauf doch wieder zu. Von was sprach sie?
Ich muss etwas einschieben. Wir hatten vorher alle einen sehr schön gestalten Rundbrief bekommen, der aussah wie eine tolle Zeitschrift, ich hatte mehr oder minder alles mehr oder minder gründlich gelesen, auf jeden Fall wusste ich, was drin stand. Aber dann bekamen wir noch einen speziellen Mitgliederbrief als Vorbereitung auf die Mitgliederversammlung per E-Mail, den liess ich mir von meinem Copyladen ausdrucken um Platz und Papier zu sparen: beidseitig. Ich hatte ihn mal flüchtig durchgeblättert und stellte fest, dass ich die letzten Seiten vor Ort lesen könne, das andere las ich sehr gründlich. Und nun das! Nach einiger Zeit klärte sich das Missgeschick: genau auf der Rückseite von dem Blatt, wo ich aufhörte zu lesen, war dieser Brief des Vorstands! Warum hatte ich das nicht auf der Zugfahrt gelesen, wie ich es mir doch eigentlich vorgenommen hatte? Ich weiß es nicht, ich weiß jetzt nur, dass, auch wenn ich es gewollt hätte, nicht gekonnt hätte, dieser Mitgliederbrief ist schlichtweg verschwunden. Vielleicht habe ich ihn konstruktiv recycelt und als Konzeptpapier verwendet.
Nach der Großgruppe kam meine Hauptinformantin und Hauptbetroffene (die, die im Weltuntergang war) auf mich zu und sagte bewundernd: ,,Du kannst ja vielleicht schauspielern! Es wirkte so echt! Man hätte meinen können, du hast von Tuten und Blasen keine Ahnung.‘‘ Ich kam erst nicht dazu ihr zu sagen, dass ich weder von Tuten noch von Blasen irgendeine Ahnung hatte! Dieses ihrer Meinung nach absolute (von mir geschauspielerte) Nichtswissen habe den Boden dafür bereitet, dass nun endlich alle Informationen gesagt werden konnten!
Irgendwann werde ich jetzt heimgekehrt sie per Telefon darüber aufklären. Ich weiß nicht, ob sie meinen Fehler genauso bewundern wird wie meine angebliche schauspielerische Begabung, also warte ich noch etwas mit der Aufklärung, um es mir noch in der Bewunderung gut gehen zu lassen.
Ich hoffe, dass ich dieses Erlebnis nicht so schnell vergesse, dass ich mich erinnere: Manchmal werden im Drama des Lebens vom Regisseur Schicksal korrigierende Regieanweisungen in Gestalt vermeintlicher Fehler eingesetzt:
Copyright Dr. Helga Thomas
Dieser Text wurde vorgetragen auf dem Jahreskongress de BDSÄ 2105 in Bremen in der Lesung mit dem Thema “Fehler”
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Kennt ihr Eichelhähne? Nein, keine Eichelhäher, sondern Eichelhähne, es gibt auch Eichelschweine, vielleicht auch Eichelhunde. Das kleine dünne Mädchen im Nachkriegsberlin kannte sie auch nicht. Ihr Spielkamerad erzählte ihr davon auf dem Weg zum Gärtner. Sie traute sich nicht mehr, den Weg alleine zu gehen, seit sie der Zwerghahn angegriffen hatte. Er war ihr auf die Schulter gesprungen und hatte ihr auf den Kopf gehackt. Sie schrie fürchterlich und warf den Korb mit den Kartoffelschalen und Gemüseabfällen weit von sich. Vielleicht hatte der Anblick der Zwerghühner die Erinnerung an die Eichelhähne bei ihm geweckt. Zuhause erzählte sie ihrer Mutter ganz aufgeregt davon. Das gab es doch nicht! Sicher hatte der Junge gelogen. Aber was sagte die Mama? Er habe keineswegs gelogen! Es sei tatsächlich möglich, aus Eicheln und Kastanien Hühner, Hähne und andere Tiere zu machen! Es schien ihr immer noch unglaublich. Und nicht nur seine Mutter könne es, nein, auch sie, ihre Mama könne es auch! Sie solle nur hübsch brav ihren Mittagsschlaf machen, wenn sie aufwache, seien sie da, die Eichelhühner und Eichelhähne.
Sie schlief diesmal schnell ein bei dem Gedanken an die winzigen Hühnchen und Hähnchen, in der Größe der Eicheln, braun wie sie oder weiß oder gepunktet, die Hähne mit schillernden Schwanzfedern. Sie erwachte schneller als sonst. Die freudige Erwartung trieb sie aus dem Bett, als die Mutter nicht sofort auf ihren Ruf hin erschien. „Mama, wo bist du?“ Sicher war sie frische Milch holen. Das kleine Mädchen schlich in die Küche, um die Hühnchen nicht zu erschrecken. Aber was sah sie da? Was war aus ihren schönen Eicheln geworden? Da standen sie, aufgespießt auf Streichhölzern, die in halbierten Korken steckten. Einigen klebte an einem Ende sogar eine winzige Feder. Der Anblick der widerwärtigen Gebilde löste eine maßlose Wut in ihr aus. Sie nahm Rache, sie riss den Hühner-sein-wollenden Eicheln die Streichhölzer raus, sie vernichtete die Gebilde, sie zerlegte sie in ihre Bestandteile. Nur ihre schönen, glatten Eicheln waren zerstört, hatten Löcher.
Als ihr Zerstörungswerk beendet war, erschrak sie. Was hatte sie getan? Ihre Mama hatte das alles für sie gemacht, während sie ihren Mittagsschlaf hielt, hatte sie überraschen wollen. Sie weinte. Sie weinte über die Enttäuschung ihrer Mutter, sie weinte darüber, dass sie so hässlich gewesen war, sie weinte, weil sie keine Eichelhähne hatte, ja, sie weinte, weil es die Eichelhähne, die sie sich vorgestellt hatte, nicht gab. Ihre Mutter erschrak, als sie ihr weinendes Töchterchen am Küchentisch sah. Wie lieb tröstete sie ihr Kind: „Weine nicht, hör auf, Mama bringt alles wieder in Ordnung“. Und die Mutter brachte die Welt wieder in Ordnung, was sie unter Ordnung verstand, sie piekte all den Eicheln die Streichhölzer wieder in den Leib und steckte sie in die halbierten Korken. Es blieben aber Eicheln mit Streichhölzern, wandelten sich nicht in Eichelhähne.
Aus: Helga Thomas, Geschichten (m)einer Kindheit, Sursee 2007, S.20f
Dieser Text wurde bei dem BDSÄ-.Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema “Zauberei und Realität”
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In was wird meine Liebe sich wandeln,
all das,
was ich erfuhr
durch sie
und durch Dich?
Der Schmerz des Abschieds,
die Wut der Enttäuschung,
die schwebende Leichtigkeit
und später
das Erkennen eigener Schuld,
nicht mehr klagen und beklagt werden.
Und wieder seh ich
den ersten Blick,
der mich traf,
durch den ich Dich erkannte
und höre,
wie Du nach meinem Namen gefragt,
ganz leise,
hinter meinem Rücken.
Und wieder erleb ich,
wie wir uns an den Händen ergriffen
und jeder führte
und wurde geführt
bis unsere Wege sich trennten.
In was
wird all das sich wandeln?Copyright Dr. Helga Thomas
Dieses Gedicht wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema “Kommen und Gehen”
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Die innere Stimme
ich kann sie nicht hören
nicht so
wie als Kind ich sie hörteIst sie verstummt?
oder ist mein Ohr
das innere
ertaubt?Sehen?
Kann ich auch nicht
im eigenen Innern
zu dunkel
ist es dortDoch ich spüre
in mir
ganz leicht
die GebärdenSpricht mein Engel
so zu mir?
Dann kann ich es lernen
wieder
die innere Stimme
zu verstehen5.02.2014
Meine inneren Ohren
sind verschlossen
waren sie jemals geöffnet?
Habe ich innere Ohren?So kann ich nicht hören
die Lieder der Engel
ihr Wort an michSo kann ich nicht sprechen
mit ihnen
und den anderen Wesen
um sie herum
um michVerstummt
verstummt nicht schweigend
erfüllt mich Trauer
um den Verlust dessen
was ich nie besaß:
das innere GehörIm Dunkel der Nacht
im Dunkel geschlossener Augen
in der Stille
der äußeren
nun schlafenden Welt
spüre ich
einen HauchIch ahne:
mein Engel hat sich bewegt
hat gerade
seine Flügel
schützend um mich gelegtEin stechender Schmerz
irgendwo
in mir. . .Ob sich mein inneres Ohr
Nun öffnet?16.8.2011
Es muss sich was ändern
aber . . .
Wann?
Wie?
Und vor allem:
was?Das
von dem ich meine
es müsse sich ändern . . .
vielleicht ist das
die einzige Konstante
im Plan meines Lebens?Doch es bleibt das Gefühl
warnend
beunruhigend
nervend
das Gefühl:
es muss sich was
ändernSonst . . .
bricht das Neue
mit Gewalt über mich herein
oder
kraftlos
rutsche
rutsche nicht stürze
nicht falle
ich in den Abgrund . . .
Man gab ihm den Namen
Depression8.8.2011
Traum umgibt uns, die wir Träumer sind.
Grillparzer, Melusine/Calderon
Traum umgibt uns
die wir Träume sind
so nah ich dir im Traum
doch du erkennst mich nicht
ich nah dir im Abenddämmern
am alten Baum
wo die Wege sich kreuzen
und manchmal das Käuzchen ruftZuweilen begleitet mich
der schwarze Hund
meiner Schwester
du musst ihn nicht fürchten
auch die Krähe nicht
mit dem blauschwarz schimmernden Gefieder
Diese Vögel singen nicht
und der Hund ist stumm
wie ichDoch hör:
in dir
sind alle meine Worte bewahrt
und alle Melodien
seit Urbeginn
als das Wasser zu fließen begann
und die Schönheit gebar
und Sonne Mond und Sterne04.12.2010
Copyright Dr. Helga Thomas
Die Gedichte wurden vorgetragen beim BDSÄ-Jahreskongress 2014 zum Thema “Die innere Stimme”
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Als meine Großmutter fragte – es war eigentlich nur der Form nach eine Frage – „na, du betest sicher nicht?“, spürte ich all die ablehnenden Gefühle in ihrer Stimme, die sie gegen meine Mutter hatte. Ich drückte mich ganz fest ins Bett und sagte mutig zu ihrem Gesicht, das über mir war, jeden Moment bereit, sich herab zu senken und mit den unvermeidlichen Gutenacht-Kuss zu geben: „natürlich bete ich“. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, sie war überrascht. Aber nun wollte sie mit mir beten und wollte wissen, welches denn mein Gebet sei.
In meinem angstvollen Erschrecken kam mir aber eine Erinnerung zu Hilfe. Damals, vor Jahren, als ich noch klein gewesen war und mit anderen Kindern im Krankenhaus weit weg von zuhause gelegen hatte, hatten mich, das heißt uns, die beiden großen Mädchen nach unseren Gebeten gefragt. Sie hatten schon die Abende zuvor, wenn die Krankenschwester Gute Nacht gesagt, das Licht gelöscht und die Notrufklingel über das Bett der Großen aufgehängt hatte, den Tag beendet mit: „Jetzt beten wir“. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, was beten ist, aber ich hatte Bilder von schönen Frauen gesehen, die ihre Hände aneinanderlegten und ein Dach formten (wie bei dem hässlichen Fingerspiel „Petze, Petze ging in Laden. . . “), das tat ich dann auch und ließ die Bilder des Tages an mir vorbeiziehen. Aber dazu brauchte es diese Handhaltung nicht und ich wurde wieder wach. Beten musste noch etwas anderes sein. Die schönen Frauen lächelten, als ob sie jemandem zuhörten und schauten dabei auf ihre Hände. Ich verfolgte nun den Tagesablauf vom Ende her, im Rhythmus des sanften Schaukelns, und lauschte, ob der Engel neben meinem Bett mir etwas zuflüsterte. Das war so anstrengend, dass ich müde wurde, einschlief, bevor ich beim Morgen angelangt war. Reihum, in der Reihenfolge der Betten, sagten wir unsere Gebete auf. Die kleinste, noch im Gitterbettchen, die bald ein Engelchen sein würde, sagte ihres hastig, noch ganz in kindlicher Sprache:
Ich bin klein, mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen
als Mama und Papa allein.Das Gebet gefiel mir nicht, ich konnte mir nicht mein Herz als Puppenstube vorstellen und warum Mama und Papa allein, warum nicht die Großmütter und Großväter? Das Mädchen, das wohl so alt war wie ich, das rechts neben meinem Bett lag, sagte etwas von wachenden Engeln und zum Schluss sprach sie von ihrem Vater, der in der Fremde beschützt werden solle und dessen Heimkehr sie erwünschte.
Dann war ich an der Reihe. Was sollte ich sagen? Ich wusste nicht, dass zum Beten nicht nur Bilder gehören, sondern auch Worte! Ich hatte an diesem Tag auf dem Spaziergang (ich durfte zum ersten Mal auch raus in den Wald und die Berge) Glockenblumen gesehen und sie hatten eine Flut von wunderbaren Gefühlen in mir ausgelöst. Sie sahen aus wie die betenden Frauen, ganz still lauschten sie auf ihren Glockenklang:
Die Glockenblumen läuten
und das Gebet beginnt.
Die Mädchen fanden es wunderschön, aber wollten wissen, wie es weitergeht. Ich meinte, das wisse ich nicht, es sei doch immer anders, je nachdem wie der Tag gewesen sein. Was beteten die beiden Großen? Das gleiche Gebet:
Breit aus die Flügel beide . . .
Es gefiel mir und ich verstand, dass sie sich zuflüsterten, ihr Gebet sei das schönste.
Das erlebte ich alles auf einen Blick, als das Gesicht meiner Großmutter wartend über mir schwebte. „Breit aus die Flügel beide“. Sie freute sich, aber wartete und sagte dann weiter, als ob sie mir vorsagte:“ und nimmt ein Küchlein ein. . . So ging es Zeile für Zeile. Ich hörte später, nachdem sie mich lieb geküsst hatte, wie sie meinte: „War das Kind aufgelegt, sie hatte vor Aufregung alles vergessen“.
Ich schlief schlecht diese Nacht nach meinem neuen Gebet, denn ich versuchte, es nicht mehr zu vergessen, denn morgen könnte ich doch nicht schon wieder aufgeregt sein.
Copyright Dr. Helga Thomas. Der Text wurde bei dem BDSÄ-Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema “Gott und wir”.
Aus: Helga Thomas, Geschichten (m)einer Kindheit, Sursee 2007, S.f
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Endlich ist mir jemand begegnet, dem ich meine Schuldgefühle anvertrauen kann. Ich dachte, ich könne nie darüber sprechen, der Schmerz sei einfach zu stark. Doch der Schmerz darüber, dass die Welt weiterhin Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, inzwischen sogar Jahrtausende lang meinem Geliebten Unrecht tut, ist noch größer, noch unerträglicher geworden. Ich weiß nicht, was mich trösten könnte. Vielleicht die Töne seiner Leier, die wie erfrischender Regen niedertropfen und manchmal aufsteigen wie Nebel in der Morgensonne. Aber er spielt nicht mehr. Zumindest nicht für mich. Zumindest hör ich es nicht. Bleibt nur das Geständnis meiner Schuld. Vielleicht tröstet es mich. Etwas. Der Versuch ist die Mühe Wert.
Ich wurde gewaltsam geraubt, verschleppt ins Reich der Unterwelt. Weil ich keinen einzigen Granatapfelkern aß (schließlich kannte auch ich Persephones Geschichte) konnte ich weiterhin meiner Liebe treu bleiben, ich wurde kein Schatten unter den Schatten, der Herr der Unterwelt hatte nur bedingt Macht über mich. Aber in meine Welt zurückkehren konnte ich auch nicht.
Orpheus’ Musik drang nicht zu mir in die Tiefe, so konnte ich sie nicht hören, aber ich hörte, wie man sich von seiner Musik erzählte. Seit er seine Trauer um mich durch die Musik ausdrückte, war sie wohl noch beeindruckender geworden. Felsen, Bäume und Tiere weinten mit ihm (oder statt seiner?), sie folgten ihm wie einer Trauerprozession. Und dann fand er den Eingang in dieses Reich, man wehrte ihm den Zugang nicht. Wahrscheinlich war man begierig darauf, seine Musik hier zu hören. Sie wandelte sich. Seine Musik – seine Trauermusik, seine Klagelieder – wandelte sich in fröhliche Musik, zu der man sich bewegen musste, sich drehen, wiegen, hüpfen, springen. Alle Schatten begannen zu tanzen. Licht entströmte den Tönen, den Saiten, seinen Fingern und floss ins Dunkel, wie ein gerade entsprungener Quell. Da wurde mir erlaubt, ihm zu folgen. Eine Bedingung gab es… ich hörte sie und hatte sie gleich wieder vergessen, vor Glück, ihm folgen zu dürfen. Ich meine, wir sollten nicht miteinander reden und auf unserem Weg nach oben nicht innehalten.
Ich folgte ihm, was nicht leicht war, denn die Schatten legten sich wie Nebel zwischen uns auf den Weg, der ja keiner war, gerade entstanden unter Orpheus’ Tritten. Und im Dunkel schien er meinen Augen zu entschwinden. Ich eilte, denn ich wusste, wenn ich ihn nicht mehr sah, gab es für mich keinen Weg mehr, dann hätte der Gebieter der Unterwelt wieder Macht über mich. Vielleicht mehr als zuvor. Wieder und wieder entschwand Orpheus meinen Blicken, ganz klein war er schon durch die Entfernung geworden, Angst schnürte mir von neuem die Kehle zu, nahm mir die Luft zum Atmen, die ich gerade wieder zu spüren begann. Da rief ich seinen Namen: „Orpheuuus!“ und bittend fügte ich hinzu: „Warte auf mich“. Erschrocken blickte er sich um zu mir … im selben Moment waren wir unseren Blicken entschwunden, die Unterwelt hatte mich wieder.
Seit dem habe ich ihn nie mehr gesehen, nie mehr seine Musik gehört. Hätte er sich nicht mach mir umdrehen sollen? Aber ich musste ihn rufen …
Eurydikes Ruf, Eurydikes Klage… hören sie wir nicht manchmal ganz leise? In hellen Vollmondnächten? Im Dunkel des wolkenbedeckten Himmels? Im Schweifen der Nebel? In unserem eigenen Innern, wenn wir lieben und eine Ahnung vom ewigen Sein uns erfüllt?
Eurydikes Klage… verstummt sie jetzt, wenn wir von ihrer Schuld wissen? Wer kann ihr verzeihen denn Orpheus kann es nicht mehr. Oder… muss sie ihn wieder rufen, denn sie weiß so wenig wie wir, wo er ist.
Copyright Dr. Helga Thomas
Dieser Text wurde beim BDSÄ-Jahreskongress zum Thema “Kommen und Gehen” vorgetragen
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Wenn es so wäre,
dass nach meinem Tode
nichts mehr weiteres kommt
und nach dem Tode der Erde
keine Weiterentwicklung mehr ist,
wenn es so wäre,
dass eine geistige Welt
nur im Kopfe der Künstler lebt,
selbst, wenn es so wäre …Die Trauer um das verlorene Kind,
die Sorge um hilfloses Leben
die Liebe zum Du
und zu anderen Leben
Sie wären der Boden,
aus dem eine neue Welt
erwächst
und Leben geboren wird,
wo nichts ist.Deine Liebe
lässt Wüsten bewässern
und erloschene Sterne
wieder im Lichte erstrahlen.Für Gaby
Copyright Dr. Helga Thomas
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Ich habe etwas ausgepackt
(ich bin gerade am Umziehen)
ich nahm es in die Hand
eine erdbraune Muschel
eine von denen
aus unserer Kinderzeit
wenn du sie ans Ohr hältst
(auch fern von jeglicher Küste)
kannst du das Rauschen des Meeres hören …
Später erklärten mir kluge Menschen:
du hörst das Rauschen
deines eigenen Blutes
sein Echo
noch später dachte ich
(inzwischen selber klug geworden):
Ist das nicht dasselbe?
zwei Bilder
eines einzigen GeschehensIch hielt die Muschel
wie als Kind
an mein Ohr
ich hörte kein Rauschen
aber da …
ein Tropfen
und wieder
und wieder
stetig fiel er niederIn welchen Brunnen
oder See
oder …
fiel er?Da begriff ich:
ich hörte mein Herz
das Echo des eigenen HerzschlagsAber ist das nicht dasselbe:
das Tropfen des Lebenswassers
und der Schlag deines Herzens?Nun sah ich
auf der glatten braunen Steinfläche
eine Ritzzeichnung
Tiere der Wüste
der Savanne
unter einem Baum
(an einem Wasserloch?)
sicher kannte keines ein Meer
eine Muschel
doch auch ihr Herz
schlägt wie das Tropfen
des LebenswassersDie Sehnsucht des Künstlers
vereinte
die Tiere
aus der Weite der Wüste
und die Muschel
aus der Tiefe des MeeresNun spürte ich:
der Schmerz des Umzugs
(körperlich)
war vergangen
wenigstens für kurze ZeitWer hat mir
die Erkenntnis geschenkt:
lausch auf das Lied deiner Sehnsucht
hörbar werdend
im tropfenden Wasser des Lebens
im schlagenden Herzen
Vertrau
dem Strom des Lebens
er trägt dich zum ZielCopyright Dr. Helga Thomas
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Ich habe heute Morgen
meinen Hund gestreichelt
er schaute mich so traurig an
denn ich wollte
jetzt noch nicht
raus in den nassen SommermorgenIch habe durstig
gierig fast
die erste Tasse Tee getrunken
und dann
erfreute mich
der Apfel
mit Farbe Form
Geruch GeschmackIch freute mich
dass ich
immer noch
in den Apfel beißen kann
Obwohl mein Körper
mit aller Schwere
mich niederzog
schwer und unbeweglich
freute ich mich dann
als langsam
alle Glieder wieder
beweglich wurdenNoch immer bin ich müde
doch auch dankbar
und ich frage mich
ob meine- Freude
nicht viel mehr bewirkt
als das
was ich vielleicht
noch so zu tun gedenke
natürlich Nützliches
an diesem TagCopyright Dr. Helga Thomas