Beitrag von C Moormann zur Lesung 1 “Wandlungen”
anlässlich der BdSÄ-Tagung 2024 in Fulda
(Moderation Wilfried Dinter)
Nächtliche Jagd
Manchmal hat man zu all seinem Wagemut Glück dazu. Die Nebelbank, die wie ein bleiernes Leichentuch wie unverrückbar auf dem Fluss zu liegen schien, gab für zwei Augenblicke den Blick nach Westen auf den einen halben Toise Pont Neuf frei. Dort entdeckte ich ihn: Den großen schwarzen Hut mit den beiden Fasanenfedern. Und den dazugehörenden Träger darunter. Capitain Rochefort. Ein uralter Feind. Einer, den ich sozusagen geerbt hatte. Eilig duckte ich mich hinter die Brüstung des Pont St. Michel; gerade rechtzeitig, den wie vom Unaussprechlichen gelenkt begann Rochefort in diesem Moment sich in meine Richtung umzudrehen. Unter mir gluckerte die Seine.
In geduckter Haltung versuchte ich, den Rest der Brücke zu überqueren, um rechtzeitig zum verabredeten Treffpunkt auf der Ile de la Cité gelangen. Der Auftrag war heikel und zeitkritisch obendrein, zumal Rocher sich in dieselbe Richtung zu bewegen schien. Natürlich tat er das. Aber ich wollte verdammt sein, wenn ich es nicht in die Sakristei der Sainte Chapelle schaffen sollte, ohne von ihm abgefangen zu werden. Dort wollte Athos auf mich warten. Der Zuverlässigste meiner Kameraden, wenn er denn für mindestens eine Woche lang die Finger von Rotwein und Schnaps gelassen hatte. Denn ab und zu überkam ihn Wehmut, dann hockte er zwei Tage lang ununterbrochen an einem Tisch in der Ecke irgendeiner Kaschemme und schüttete still und scheinbar ohne Schlaf zu benötigen eine Kanne Wein nach der anderen in sich hinein. Athos, der ohnehin ein wortkarger Geselle war, pflegte dabei kein Wort zu sprechen. Sogar seinen Nachschub orderte er stumm. Portos, der schon geschwätzig bis indiskret sein konnte, hatte ein einziges Mal angedeutet, dass ihm ein Weibsstück vor vielen Jahren das Herz in so viele kleine Stücke gebrochen hätte, dass es nicht mehr reparabel sei. Mehr wüsste er aber auch nicht…
Ich hatte den Brückenkopf glücklich erreicht. Und dort hatte sich meine Hoffnung zerschlagen, dass mir der Nebel wenigstens auf der Ile de la Cité Sichtschutz gewähren würde auf dem Weg zur Sainte Chapelle; er bedeckte nur den Boden bis auf Höhe der Knie. Keine günstigen Voraussetzungen, es sei denn ich würde mich dazu entschließen, auf dem Boden vorwärts zu kriechen, bis ich den Uferkai überquert und das Gewinkel der Gassen erreicht haben würde. Ich war ein junger, beweglicher Mann, und es musste eben sein. Bemüht, dass mein Degen beim Vorwärtsgleiten über das nebelfeuchte Pflaster keine verräterischen Geräusche verursachte, robbte ich die dreißig Schritte über den Kai bis zur Einmündung der nächsten Gasse. Mit dem Kopf stieß ich an einen Prellstein, an dem ich mich so lautlos es ging hochzog, bis ich eben den Kopf aus der Nebeldecke stecken konnte. Ein sichernder Blick nach Westen – kein Capitain Rochefort zu erkennen.
Ein Blick nach links, also nach Osten. Und ich musste mich sofort wieder ducken. Da stand jemand, genau hinter der Hausecke gegenüber. Mit einem stummen Fluch zog ich meinen breiten Filzhut ab, den konnte man besser ausmachen als meinen unbedeckten Kopf, den ich wieder aus der Nebeldecke streckte.
Das war nicht Rochefort. Dem Schnitt seines Waffenrock nach einer der Engländer, ein langer zaundürrer Kerl. Ihre Uniformen waren in einem seltsamen, fast schlammigen Grünton gehalten, einer Farbe, von der die Mannen des Kardinals, diese feuerroten Gecken, behaupteten, sie stamme von Gänsekot. Dieses Lincolngreen, wie es die Engländer bescheiden nannten, putzte vielleicht nicht, aber es war für Zwecke wie eben unsere nächtliche Aktion von ungemeinem Nutzen. Der Träger verschmolz sozusagen mit der Umgebung. Wohingegen man die scharlachfarbigen Waffenröcke der Kardinalsgarden sogar in einer Neumondnacht auf mehrere Toises ausmachen konnte. Aber vielleicht war gerade das beabsichtigt.
Ich mochte die Engländer, ebenso meine drei Freunde, obwohl wir uns berufsbedingt manchmal in die Quere kamen. Wenn dies nicht der Fall war, waren die vier verträglich im Umgang, höflich im Benehmen und dank ihrer leichten Schrulligkeit sogar unterhaltsam. Warum, in aller Welt, machten sie sich einen Spaß daraus, Füchse zu jagen? Wenn man ein Tier auf keinerlei Art und Weise genießbar zubereiten konnte, dann war es der Fuchs. Degoutant!
Ich spitze unter der Nebeldecke die Ohren und bildete mir ein, ein leises Scharren von genagelten Reitstiefeln auf den Pflastersteinen auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse zu vernehmen. Irgendein Vogel mit leichtem Schlaf schien davon aufgeschreckt worden zu sein und stob mit empörtem Zetern davon. Das Scharren entfernte sich, doch der Träger dieser Stiefel setzte seine Schritte erstaunlich vorsichtig, dass es mir unmöglich war auszumachen, in welche Richtung er sich entfernte. In diesem Moment war ich mir nur sicher, dass dieses lange Elend. John sein musste. Oder Ron? Oder Q?
In den engen Häuserzeilen hielt sich der Hochnebel deutlich zäher, was es mir erlaubte, vom unbequemen Kriechen zu einer mehr aufgerichteten, aber immer noch geduckten Fortbewegung überzugehen. Ein Käuzchen rief. Einmal, zweimal, dreimal. Und nach einer Pause ein viertes Mal. Das mit Athos verabredete Zeichen, sobald er sich im Kirchhof der Sainte Chapelle befand. Und ich stand so kurz davor. Nur noch knappe hundert Toises, wie mir die just zweimal schlagende Glocke auf dem Dachreiter verriet.
Außerdem hatte ich diverse Nachrichten erhalten: Jeweils zwei von uns und von den Engländern hatte das jeweilige Hauptquartier wohlbehalten erreicht; dieser Gleichstand machte mir keine Sorgen. Von den Spaniern hatte erst einer mit seinen Informationen seine Zentrale erreicht, einen anderen hatte ich vorhin den Cours La Reine entlang hetzen sehen, ohne dass er auf so etwas wie Deckung geachtet hätte. Und in einer Distanz von weniger als zwanzig Schritt war ihm ein Engländer auf den Fersen. Gleich würde er ihn einholen – zumal es gerade bei Nacht keine bessere Zielscheibe gab als das senfgelbe Cape der Spanier. Eine unpraktische Farbe: erstens war sie viel zu auffällig. Zweitens schmutzte sie rasch, aber das war eben die spanische Grandezza. Diese Nation hatte ihre besten Tage längst hinter sich…
Der Ruf des Käuzchens ertönte erneut – zweimal hintereinander. Das verabredete Signal, dass nun wirklich Eile geboten war. Ich gab meine geduckte Haltung auf und spurtete los. Der Nebel schnitt in meine Lungen, mir war, als würde ich Eiskristalle atmen… Und ich musste doch von dem langen Engländer verfolgt worden sein, denn es nahten sich jetzt kräftige und rasche Stiefeltritte. War das John… oder ein anderer?
Sie hatten ihre eigene Methode, die Kuriere und Kundschafter der anderen hinzuhalten und zu verwirren, und einmal mehr schoss mir die in diesem Moment unpassende Erkenntnis durch den Kopf, dass sie viel raffinierter waren. Raffinierter als wir, die Musketiere des Königs. Raffinierter und gerissener als die Mannschaft des Kardinals – sah man einmal von der brandgefährlichen und skrupellosen Milady ab.
Mein Verfolger – verfolgte er mich überhaupt – hatte anscheinend innegehalten. Vielleicht sogar meine Verfolgung aufgegeben? Vielleicht verfolgte er ja gar nicht mich…? Vergebens spitzte ich meine Ohren – das Käuzchen rührte sich nicht mehr. Ein leichter, trotzdem eindeutiger und stechender Geruch drang in meine Nase. Daran, dass sich hier und jetzt auf der Ile de La Cité die Abgründe der Hölle aufgetan hatten, um den Unaussprechlichen auszuspeien, daran glaubte ich nicht. Eher an Pulverdampf. Dabei hatte ich keinen Schuss gehört.
Die Pforte zum Kirchhof der Sainte Chapelle war erreicht, der Einlass in der mannshohen Mauer klaffte wie ein schwarzer Schlund. Endlich, direkt auf dem Kirchhof, erklang das Käuzchen wiederum, doch das Signal war ein anderes. Hatte Athos doch wieder zum Branntweinschlauch gegriffen, angeblich nur, um die Kälte besser vertragen zu können?
Und warum kamen mir in diesem Moment wieder diese vermaledeiten Engländer und ihre Verwirrmethoden in den Sinn? Zum Beispiel diese: Einmal im Quartal wechselte dieses Glückskleeblatt seine Decknamen. Im letzten Winter hatten sie sich Harry, Hermione, Ron und Albus genannt. Im Frühjahr darauf wechselten sie zu James, Molly, M und Q. Lachhaft auf den ersten Blick, ausgeklügelt auf den zweiten. Nicht nur, dass diese Pseudonyme für Außenstehende nicht zuzuordnen waren (und natürlich hatten die Bluthunde des Kardinals dieses versucht und vor einem kleinen bisschen Folter nicht zurückgeschreckt), sie hatten auch keine Frau in ihrer Truppe. Zum Sommeranfang hatten sie sich auf John, Paul, George und Ringo umbenannt und sich sogar neue – höchst lachhafte – Frisuren zugelegt.
Der Hof der Sainte Chapelle lag anders als die Gasse draußen nicht mehr im Nebel; Pflaster, Mauern und die Grabsteine wurden vom kalten Licht des hochstehenden und fast vollen Mondes unerwartet klar beschienen, man konnte sogar bläuliche Schatten identifizieren.
Genau deutlich hob sich die Silhouette einer reglos am Boden hingestreckten Gestalt ab. Und in dieser Schrecksekunde entdeckte ich einen zunächst herrenlos erscheinenden Hut direkt vor mir liegen. Reflektorisch bückte ich mich danach, und das Mondlicht war hell genug, um mich die beiden zerzausten und nicht mehr ganz vollständigen Straußenfedern erkennen zu lassen. Athos hatte im Gegensatz zu Aramis und sogar Portos auf sein Äußeres noch nie gesteigerten Wert gelegt…
Was war hier geschehen? Ich ließ in einem Moment alle Vorsicht fahren und beugte mich über meinen Kameraden, von dem ich befürchtete, dass er bewusstlos geschlagen worden sei. Oder Schlimmeres. Und in genau diesem Moment fuhr die Gestalt hoch und zückte eine Pistole, deren Mündung mich so groß wie die Pupille eines Löwen anstarrte -keine Hand breit vor meiner Nase entfernt. Das Mondlicht gab den Blick aufs Rocheforts hageres Gesicht mit der Augenklappe frei. „Nicht schießen!“, zischte über mir die kalte Stimme einer Frau. Milady… „Wenn du ihn hier auf der Stelle tötest, kann er nicht mehr reden! Wir bringen ihn in die Kapelle. Zu dem anderen Volltrottel…“ Etwas Hartes traf mich unvermittelt am Hinterkopf, es mochte der Knauf einer weiteren Pistole gewesen sein. Der Schlag war so hart, dass mir die Sinne standen. Doch ein Gedanke hatte es geschafft, mir vorher durch den Sinn zu schießen: Wie hatte es Rochefort geschafft, vor mir am Treffpunkt zu sein?…
„Deine Figur ist rausgeflogen, Ingeborg! Also pack sie jetzt bitte wieder auf das Startfeld, damit wir weiterspielen können!“, drängte mich Karlheinz mit unverhohlener Ungeduld und klopfte mit einer Fingerspitze auf den leeren Platz, auf den mein blauer Spielkegel gemäß den Regeln wieder zurückkehren musste. Ich seufzte und gehorchte. Bei Karlheinz musste immer alles zack-zack gehen. Früher war er Schichtführer am Fließband einer Fabrik gewesen, heute ist er im Beirat des Seniorenheims.
Annemie sorgte für besseres Wetter: „Du weißt doch, dass unsere Inge eine blühende Phantasie hat. Bestimmt ist gerade wieder ihr Kopfkino gelaufen. Aber dafür ist sie doch eine gute Verliererin beim Mensch-ärgre-dich-nicht!“
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