Beitrag von Eberhard Grundmann zur Lesung 4 “Inland-Ausland”
anlässlich der BdSÄ-Tagung 2024 in Fulda
(Moderation Eberhard Grundmann)
Fangen wir bei Adam vor Eva an. Als er durch Gottes Hauch aus dem Lehmklumpen kam, stellte sich für ihn die Frage Inländer versus Ausländer nicht. Rückblickend war er keines oder beides von beidem. So lange er mit der späteren Eva einig war, blieb das so. Als aber die Söhne ins Spiel und in Streit kamen, begann die Abgrenzung in Mein und Dein, drinnen und draussen. Das ist bis heute so. Menschen teilen sich in Gruppen und Grüppchen, die sich voneinander abgrenzen, bestenfalls geordnet koexistieren, manchmal auch kooperieren, oft einander anfeinden und bekriegen. Lange Zeit definieren sie ihre Gruppe über Verwandtschaft, erkennen einander an Abstammung, Sprache, Sitte und Gebräuchen. Später, als sie sesshaft werden, definieren sie sich über Territorien. Die nennen sie Vaterland und verteidigen oder erweitern oder verlieren sie mit hohem Blutzoll, oft unter verlogenen Parolen. Dabei vergessen sie vollständig, dass sie nur eine verliehene, eher geliehene Zeit auf einer kugelförmigen Gemeinfläche verbringen, die allen gehört.
Ich selbst bin In- und Ausländer in verschiedenen Lebensphasen gewesen. Geboren im Kriegsjahr 1942 lebte ich bis jetzt in 6 ½ verschiedenen Deutschlands. Zuerst im Deutschen Reich. Nachdem dessen Staatschef, der österreichstämmige Reichskanzler Adolf H. seinen zweiten Weltkrieg verloren hatte, gab es 2 ½ Monate einer sehr angenehmen US-amerikanischen Besatzung im Südharz. Am 02. Juli 1945 zogen die Amerikaner ab, es folgte eine 7-tägige Vakanz zwischen den Fronten, Nr. 2 Komma 5. Danach wurde als Nr. 3 eine sehr unangenehme sowjetrussische Besatzung veranstaltet. Am 7. Oktober 1949 erhielt die russische Kolonie den Tarnnamen „DDR“, meine 4. Verwaltung. In dieser umgetauften sowjetischen Besatzungszone war ich formal Inländer, fühlte mich aber als okkupierter Ausländer, war geistig und politisch beheimatet in der freien Bundesrepublik Deutschland. Nachrichten, Informationen aller Art, Belletristik und die meisten Lehrbücher für mein Medizinstudium bezog ich aus diesem Land, meinem Land, dem ich innerlich und heimlich als Inländer verbunden war. Die russische Kolonie war für mich nichts als ein hässlicher Witz, ausschliesslich legitimiert durch russische Bajonette. Das änderte sich auch nicht, als die Sowjetunion erst 1954 (!) die Souveränität der DDR proklamierte. Gleichwohl wurden alle wesentlichen Entscheidungen weiterhin ausschliesslich im Kreml getroffen. Diese DDR war eifersüchtig darauf bedacht, ihr ummauertes Grundstück zum souveränen Staat zu stilisieren und pochte darauf, dass die Bundesrepublik und daneben ganz separat Westberlin Ausland seien. Zugleich galten die eigenen Inländer als Staatseigentum. Damit sie nicht wegliefen, hegte man sie mit Mauer, Stacheldraht und Minengürtel ein. Kein Diktator kommt ohne Leibeigene aus. Stalin allein zu Haus, das schmeckt ihm nicht, denn wen könnte er dann – immerhin seine Lieblingsbeschäftigung – wen könnte er dann umbringen? Und wer würde ihm die Pantoffel zum Thron tragen?
1977 gelang mir mit meiner fünfköpfigen Familie die Flucht aus der Sowjetzone in die Bundesrepublik Deutschland, mein Land, Nr. 5 in der Galerie. In diesem Teil Deutschlands galt zum Glück der Alleinvertretungsanspruch. Er besagte, dass die Bundesrepublik Deutschland alle Deutschen vertrete, die das wünschten. Viele Flüchtlinge und Umsiedler aus Ostblockländern und der Sowjetunion kamen dadurch sofort in den Genuss eines deutschen Passes sowie aller Rechte und Sozialleistungen. Sie – und auch ich und die Meinen – waren nun deutsche Inländer. Für die DDR war ich ab sofort Staatsfeind und Ausländer.
Als die Kolonialmacht Sowjetunion unter dem Führer Gorbatschow nicht mehr bereit war, für den Ostberliner Landvogt Gewalt gegen das unterdrückte Volk anzuwenden – wie sie es noch 1953 getan hatte in Deutschland, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei – brach das marode Kartenhaus zusammen. Die russische Kolonie vereinigte sich wieder mit Deutschland, mein nunmehr Deutschland Nr. 6.
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