Beitrag von Ricarda Peter zur Lesung 1 “Wandlungen”
anlässlich der BdSÄ-Tagung 2024 in Fulda
(Moderation Wilfried Dinter)
Einfach da
Es ist Nacht, die Finsternis hat ihre dunklen Flügel auf Wald und Wiesen gelegt. Nur der Mond scheint mit seinem bekannten Gesicht auf die Welt, umgeben von vielen Millionen Sternen. Es ist auch Siegfrieds Welt, obwohl sich für ihn so viel geändert hat.
Die Uhr zeigt die zweite Stunde an. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Behausung zu verlassen und in Richtung Supermarkt zu gehen. Er hält einen hellen Stoffbeutel in der Hand. Hier sollen all die Nahrungsmittel hinein, die er aus den Abfallcontainern erbeuten kann.
Siegfried schleicht zu den Behältern, sieht nach vorn, nach links und nach rechts. Behutsam öffnet er die Gefäße, damit ihn möglichst keiner hört. Schon nimmt er heraus, was ihm noch essbar erscheint – Angefaultes, Geöffnetes, Abgelaufenes. Was er am selben Tag nicht essen will, bringt er zu dem kleinen Fluss. Dort verdirbt es nicht so schnell. Seine Quelle liegt nur unweit von seinem Zelt entfernt.
In dem kleinen Park wird er nach leeren Flaschen suchen. Das eingelöste Geld setzt er vor allem in Tageszeitungen um. Schließlich will er wissen, was in der Welt passiert. Stundenlang liest er dann Seite für Seite, Zeile für Zeile.
Inzwischen ist der Nachmittag herangekommen. Nur noch spärlich schickt die Sonne ihre wärmenden Strahlen. Jetzt heißt es für Siegfried, spazieren zu gehen; das gehört zu seinem täglichen Programm. Die Bäume und Sträucher sind ihm mittlerweile vertraut geworden. Er geht durch den Wald, bleibt auf der kleinen Lichtung stehen. Er sieht zu den großen schwarzen Vögeln.
„Die Raben sind wieder da“, spricht er bedächtig vor sich hin. „Nun lebst du bereits den dritten Herbst unter freiem Himmel, Siegfried Kaiser. Wie lange willst du das noch so tun – ein Jahr, zwei, für immer?“
Gleich wiederholt er in leidenschaftlichem Ton: „Wie lange noch, wie lange?!“
Er senkt den Kopf, antwortet leise: “Ich weiß es nicht.“
Es ist kalt geworden, doch die richtige Kälte steht noch bevor. Voriges Jahr verriet das Thermometer minus zwanzig Grad. Das hatte er in der Presse gelesen.
Siegfrieds ovales Gesicht sieht faltig aus, grau, fast lederartig. Die weißen wirren Haare haben die Schulter erreicht, der ungepflegte Bart die Brust. Sein Blick wirkt stumpf, die Haltung gebückt. Und die schmutzige dunkle Jacke wie die ebenso vernachlässigte Hose ergänzen das traurige Bild. Seit Jahren hat er nicht mehr in den Spiegel gesehen. Warum auch? Warum sollte er das tun? Außerdem fände er in seinem kleinen Kugelzelt ohnehin keinen Platz für derartige Utensilien. Da passt gerade der Schlafsack, der zusammengelegte Hocker, das kleine Kofferradio und er selbst hinein. Dabei kann er das Radio kaum benutzen, denn Batterien sind ihm teuer. Doch diesen Mittag will er sich seine Klänge zum Geschenk machen; heute hat er Geburtstag. Es ist sein achtundvierzigster.
Wieder überfällt Siegfried Nachdenklichkeit. Leise spricht er vor sich hin: „So weit bist du also gekommen – alleine, kein Geld, ohne festes Dach über dem Kopf.“
Schmerzlich zieht er sich die Decke über das Haupt. Er will schlafen, schlafen, nur noch schlafen. Das ist jetzt sein größter Wunsch. Nur langsam schläft Siegfried ein.
Plötzlich ertönt eine dunkle Stimme: „Polizei! Kommen Sie heraus!“
Siegfried schreckt zusammen, weiß im Moment nicht, was geschieht. Doch dann ist ihm klar, er soll das Zelt verlassen. Das wird jetzt von ihm verlangt. Wie in der Trance kriecht der sichtlich gebrochene Mann aus dem Zelt.
„In dem Gartenhäuschen wurde wieder eingebrochen. Wissen Sie darüber Bescheid? Was machen Sie überhaupt hier? Können Sie sich ausweisen?“
„Einen Augenblick bitte!“ Siegfried folgt den Worten des Gesetzeshüters, holt sein Dokument. Gemeinsam fahren sie zur Wache.
Bald gibt der Beamte seine Daten in den Computer – schreibt und schreibt. Siegfried sitzt ihm gegenüber, als ginge ihn alles nichts an.
Plötzlich sieht ihn der leicht korpulente Polizist ins Gesicht. „Sind Sie es wirklich, Herr Kaiser? Sie werden seit mehr, als drei Jahren vermisst! Wo waren Sie gewesen?“
„Im Wald, Herr Wachtmeister, im Wald.“
„Was haben Sie dort gemacht?“
„Gelebt, gelebt.“
Siegfried sucht sichtlich nach Worten. Immerhin hat er die letzten Jahre kaum gesprochen. Endlich beginnt er zu erzählen: „Die Wirtschaftskrise brachte meinen Hauptauftraggeber ins ´Aus` und bald darauf auch meinem Unternehmen. Immer wieder hatte ich auf eine gute Lösung gehofft, doch vergebens. Ich musste Insolvenz anmelden und meine fünfzehn Angestellten entlassen.
Zunehmend kamen die Rechnungen ins Haus, letztendlich auch die Mahnungen. Irgendwann habe ich sie nicht einmal mehr gelesen. Verzweiflung und Angst hatten mein Kopf und die Hände wie gelähmt. Nicht lange, da wurde mein Haus zwangsversteigert. Schließlich lasteten noch Hypotheken für Firmenkredite darauf. Meine Frau hatte mich längst verlassen.
Jetzt war auch für mich die Zeit gekommen, meine Siebensachen zu packen und die Tür hinter mir zu schließen. Wo Sie mich gefunden haben, habe ich mein Zelt aufgeschlagen. Der Wald war mein neues zuhause geworden – zwischen drei Buchen, weitab von all dem Geschehen, das mich an den Rand des Wahnsinns trieb.
Irgendwann begann ich mich mit der Natur zu arrangieren, würdigte zunehmend Sonne, Mond und Sterne. Sie waren für mich da.“
Betroffen sieht der Polizist zu Siegfried Kaiser, hält dabei die Hand vor den Mund. Jetzt beginnt er zu telefonieren, sagt bald: „OK!“
Erneut wendet er sich Siegfried zu: „Sie werden vorerst in einer Notunterkunft wohnen. Von dort aus bekommen sie weitere Hilfe.“
Kurz darauf steht ein Sozialarbeiter vor der Tür, reicht Siegfried freundlich die Hand.
„Gehen wir!“, fordert er ihn klar und deutlich auf. Siegfried folgt ihm wie ein reuiger Sünder – nicht zu vergleichen mit dem Drachentöter aus dem sagenhaften Nibelungenland.
Siegfried wird sich duschen, die Haare sowie den Bart frisieren und saubere Kleidung tragen. Er ist kaum wieder zu erkennen.
Jetzt lebt er in einem zwölf Quadratmeter großen Zimmer. Ein Bett, der Fernseher und eine Kaffeemaschine stehen für ihn bereit. Und warme Speisen bekommt er auch. Siegfried fühlt sich wie im Paradies.
Doch noch immer fallen ihm das Sprechen und die Nähe von anderen schwer. Die letzten Jahre haben ihre Spuren hinterlassen.
Nicht lange, da hält Siegfried ein Schriftstück in der Hand, das einmal nicht an nötige Zahlungen erinnert. Ihm wurde „Hartz IV“ bewilligt; ein großer Schritt in ein neues Leben.
Trotz aller Freude will er nicht ewig auf Hilfe angewiesen sein, möchte gerne einer geregelten Tätigkeit nachgehen. Aber wer sollte ihn mit seiner Vorgeschichte beschäftigen?
Plötzlich klopft jemand an der Tür. Es ist Arthur, sein ehemaliger Mitarbeiter. Das dunkle glatte Haar ist exakt gescheitelt, der Bart sorgfältig nach oben gezwirbelt. Auch die blau – gestreifte Jacke und die passende Hose erinnern bei dem mittelgroßen schlanken Mann an einen Dandy; einen Übriggebliebenen aus Kaisers Zeiten.
„Du, Arthur! Was führt dich zu mir?“ fragt Siegfried verwundert.
„Da staunst du was?“, erwidert der Mittvierziger, als wäre er geradezu vom Himmel geflogen.
„Die Welt ist klein, Siegfried! Einst war ich gegangen, nun bin ich wieder bei dir. Ich hoffe, du freust dich darüber.“
„Komm herein Arthur! Wie hast du von mir erfahren?“
„Durch die Presse. Ich konnte mir schon denken, dass es sich um dich handelt. Es war nicht einfach, dich zu finden. Aber was macht ein Hilfsengel nicht alles möglich.“
„Bitte setz dich! Was führt dich zu mir?“
„Ich wollte sehen, wie es dir geht? Seitdem ich das Seniorenheim meiner Eltern übernommen habe, hörten wir nichts mehr voneinander. Nun bot sich ein Besuch regelrecht an. Aber sag schon: Wie fühlst du dich, Siegfried?!“
„Gut. Aber um mich das zu fragen, bist du sicher nicht gekommen.“
„Nein, nein. Ich habe ein Anliegen an dich. Keine Angst, es geht nicht ums liebe Geld.“
Ein leichtes Lächeln huschte über Arthurs gut gepflegtes Gesicht. “Wie lange kennen wir uns eigentlich? Sind es fünfzehn Jahre oder mehr?“
„Ich weiß es nicht. Wie du siehst, hat sich meine Lage verändert. Dass es mir einmal so ergeht, hätte ich nie gedacht.“
„Ich auch nicht, Siegfried. Ganz sicher nicht. Ein Mann, der jahrelang von früh bis spät sein Bestes gab, hat es nicht verdient, plötzlich vor dem Nichts zu stehen. Ich stelle mir das als wahren Alptraum vor.“
„Letztendlich ist es auch so. Doch sage, Arthur, hast du etwas von meiner Frau gehört?“
„Ja. Sie wohnt in einem schönen Haus, einer Villa gleich. Ihr scheint es gut zu gehen. Wie es aussieht, kann ihr der neue Partner etliches bieten. Sie versteht es eben gut, ihr Leben angenehm zu gestalten. Wenn du willst, können wir später noch einmal darüber reden.“
Mit verschmitztem Lächeln fügt er hinzu: „Du hättest in deinem kleinen Kugelzelt ohnehin keinen Platz für sie besessen.“
„Ich werde klare Verhältnisse schaffen müssen.“
„Sicher. Später.“
Arthur richtet sich auf, sieht Siegfried klar in die Augen. „Bei aller Betroffenheit, Siegfried Kaiser, das Leben hält noch viel Gutes für dich bereit. Als ich dich damals so dringend brauchte, warst du für mich da. Lass mich dir das Gleiche tun! Da geht es uns beiden besser.
Inzwischen konnte ich mein Seniorenheim erweitern, und eine Rekonstruktion steht bevor. Ich benötige einen Hausmeister, der sich auch mit technischen Dingen gut auskennt. Bei dir wüsste ich, den richtigen Mann gefunden zu haben. Mein jetziger beabsichtigt, in seinen wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Wenn du willst, kannst du morgen bei mir anfangen. Natürlich musst du dich ein wenig einarbeiten, aber damit besitzt du sicher keine Probleme. Alles Weitere ergibt sich von selbst.“
Siegfried sieht ihn nachdenklich an, spricht jetzt zu dem kleinen und doch so großen Mann: „Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal eine Chance erhalte. Dann stehst du vor der Tür, bist für mich da.“
„Schlag ein!“, fordert ihn Arthur kurz und bündig auf, streckt ihm betont die rechte Hand entgegen. Ein fester Händedruck besiegelt das „Ja“.
Und Arthur, der sich so gerne als Schutzengel bezeichnet, verlässt mit zufriedenem Gesicht das Haus.
Wieder hat die Nacht ihre sanften Flügel auf das Land gelegt. Siegfried steht am Fenster, blickt zu dem Mond und den Sternen. Sie haben ihn zu allen Zeiten begleitet; auch dieses Mal, wenn ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Sie sind einfach für ihn da.
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