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Das Lazarett (Klaus Kayser)

Ein nahezu rhythmisches Stöhnen schwang in dem sauber geweißten, mit dicht an dicht gestellten Betten gefüllten Saal: drei lange Reihen quer gestellter Pritschen, von denen jeweils zwei direkt aneinander stießen und dann einen kleinen Gang freiließen. In jedem Bett lagen junge Männer, teilweise nahezu regungslos und am Verdämmern. Einige wenige versuchten sich mit Lesen oder einer leisen Unterhaltung mit dem Nachbarn Abwechslung zu verschaffen.

Die Bettdecken lagen lose und achtlos hingeworfen über den Verletzten. Viele trugen neu angelegte, blutdurchtränkte Binden um Stirn, Arm oder Brust. Bei einigen waren die Augen abgedeckt mit schwarzen Klappen, manchem war der Unterarm durch eine stumpfe Bandage ersetzt.

Einem etwa 25-jährigen hageren Mann mit Stoppelbart und kurz geschorenem, ein wenig lockigen Haar fehlten beide Beine oberhalb der Knie. Er stöhnte und versuchte sich von der Rückenlage auf die rechte Seite zu drehen. Eine Schwester, gekleidet in schwarzer Ordenskleidung und mit einer weißen Haube, sah seine vergeblichen Bemühungen.

„Nun bleiben Sie ruhig auf dem Rücken liegen, dann heilen die Wunden schneller. Sie werden schon sehen, in wenigen Tagen ist das Schlimmste überstanden: Die Schmerzen werden weniger werden, bald werden Sie aufstehen können. Dann wird man Sie richtig versorgen“, meinte sie mit einer gütigen, freundlich hell klingenden Stimme.

„Ach Schwester, was ist schon das Schlimmste?“, fragte der Verwundete und fuhr wie bei einem Selbstgespräch leise klagend fort: „Ich habe ihn gesehen, den bösen und Unheil bringenden Kaltenblick. Ich habe ihn deutlich und klar gesehen und weiß nun, wie der Teufel aussieht, der Deibel, das lächelnde Drachenungeheuer, der Diplomatendämon. Ich habe ihn klar und deutlich gesehen, in seine Augen geschaut, seine Stimme gehört, seine Hand gespürt, seinen fauligen Atem gerochen, seine fadenwurmartige Schrift gelesen.“

Er machte eine kleine Pause vor Anstrengung, stöhnte leise und versuchte sich nach der Schwester umzudrehen. Sie aber hatte sich sacht abgewandt und war zu einem anderen Bett gegangen, auf dem ein Kranker nach ihr gewinkt hatte.

Der so allein gelassene beinlose Soldat fuhr fort: „Wie war noch alles in Ordnung vor drei Tagen, an der Front bei Sedan. Wie konnte das alles nur mit mir geschehen? Die Schützengraben waren tief ausgehoben, mit Dreck und Schlamm gefüllt, aber sicher. Seit zwei – oder waren es drei? – Tagen wurde nicht geschossen, weder bei den Franzosen, noch bei uns. Endlich konnte man in Ruhe ohne erschreckende Geräusche schlafen. Warum muss es an der Front immer so laut sein, Knall auf Knall, Schreie, Stöhnen, Kommandos, Motorengeräusche, knallige Musik.

Diese unerwartet ruhigen Tage waren die angenehmsten in meiner Zeit dort in Frankreich. Warum traf es gerade mich in diesem verrückten Schützengrabenkrieg, der mit dem Blut tausender von Soldaten unverrückbar mit der uns umgebenden Erde verbacken war und gehalten wurde.

Wie waren wir, ich denke auch die Franzosen, froh über diese Tage der geschenkten Stille, des ruhigen Atmens, der befreienden Besinnung auf sich. Aber, wie so häufig im Leben, diese lebenserhaltende Ruhe wurde jäh beendet und bezahlt mit einem eigentlich völlig unnötigem Gegenwert wie mit meinen Beinen.

Auch wenn ihr es nicht glaubt, wenn Ihr meint, ich phantasiere im Wundfieber: Kurz vor dem Zerreißen der Stille habe ich den unheilvollen Kaltenblick gesehen. Es war am Morgen des dritten Tages. Kein Regen. Ein schmaler Nebelsaum lag zwischen den beiden Schützengräben, dem, in dem die französischen Feindkameraden, und dem, in dem meine Kriegskameraden Wache hielten und sich belauerten.

Eigentlich müssten die Franzosen ihn auch gesichtet haben, den Unheil bringenden Kaltenblick. Warum haben sie eigentlich nicht auf ihn geschossen – und warum nicht auch wir, als sich der dickliche, weißhaarige Kaltenblick mitten zwischen den Schützengräben mit Anzug und Krawatte auf einen aufklappbaren Jagdstuhl setzte. Mit dem Rücken nach Süden und dem Gesicht nach Norden, den Franzosen die linke, uns die rechte Seite zugewandt. Er hatte ein rundes, gar nicht so unfreundliches, glatt rasiertes Gesicht, schütteres, grauweißes Haar, rötliche, wahrscheinlich von Bluthochdruck gefärbte Backen.

Nein, der Teufel muss nicht hässlich und abscheulich aussehen: attraktiv, freundlich und zuvorkommend saß er zwischen den feindlichen Reihen, ruhig und wie unbeteiligt säte er seine Saat.

Wie war ich damals noch gesund und munter, froh der unerwarteten Stille, nur beschäftigt mit ruhigem Wacheschieben.

Wenn doch nicht der Nebel gekommen wäre, der sich als schmales Band um Kaltenblick schob und ihn fast unsichtbar machte. Dieser verfluchte Nebel, er war Schuld an all dem Fürchterlichen, was jetzt geschah.

Kaltenblick schien sich mit Geistern, die sich schemenhaft aus dem Nebel zu ihm hinabbeugten, zu bereden. Er wandte sich zunächst den Franzosen, dann uns zu. Laut rief er mir die Aufforderung zu: „Hei du, Soldat, Hierher! Aber plötzlich! Komm sofort! Das ist ein Befehl!“

Ich wusste, das ist ein Befehl aus der Hölle.

Das verfluchte Vaterland ruft! Und dieser Kaltenblick ist ein treuer Diener des Vaterlandes. Wenn der Teufel dem Vaterland dient, dann muss man etwas dagegen unternehmen!, sagte ich mir.

Ich konnte diesen Gedanken nicht widerstehen. Da saß der so schöne diplomatische Dämon mit seinen vaterländischen Befehlen! Ist seine Hölle so leer, dass er neue Bewohner braucht? Oder will er neue Quälereien für die ungläubigen Ketzer ausprobieren? Nein, lieber Herr Teufel, nicht mit mir! Gott mit uns, aber nicht mit dir! Dem muss man an den Kragen!“

Ich sprang mit lautem Geschrei aus dem Schützengraben, rannte auf Kaltenblick zu. Nein, nicht auf Kaltenblick, auf die Franzosen, die mich sichtlich überrascht mit ihren Gewehrkugeln empfingen.

Ich hörte kein Geräusch, keinen Knall, fühlte nur einen schmerzhaften Schlag in den Beinen, fiel hin und verlor das Bewusstsein.

Als ich wieder aufwachte, kam ein wütend blickender Unteroffizier zu mir, beugte sich über mich und schrie mich an: „Sie Narr, Sie Blödheini! Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?Was fiel Ihnen ein, so wahnhaft aus dem sicheren Graben auf die Franzosen zuzulaufen! Wollten Sie diesen verdammten Krieg ganz allein gewinnen? Das haben Sie nun davon: keine Beine, keine Zukunft! Was meinen Sie, was nach Ihrem Wahnsinnslauf hier los war! Die Hölle, wissen Sie, die wahre Hölle! Besser kann sie der Teufel auch nicht ausrichten! Es hat uns die himmlische Ruhe und mich danach zehn meiner besten Männer gekostet, Sie aus dem Niemandsland zu bergen! Es muss Sie der Teufel geritten haben!“

„Sehen Sie, Schwester, das ist mein Schicksal! So hat man mich behandelt. Ich wollte kein Held sein, wollte keinen Feind überraschen oder gar töten. Die himmlische Stille hat mich verrückt und einen Teufel aus mir gemacht.“

Der junge Mann stöhnte, wälzte sich unter einem leisen Aufschrei auf die linke Seite und suchte mit halboffenen Augen die seines Nachbarn.

„Kamerad, lass es gut sein“, flüsterte dieser. „Kamerad, du bist ein Held. Wer allein unter Angriffsgeschrei aus dem Schützengraben springt, der ist ein Held. Ich hätte so etwas nie fertig gebracht. Freu dich über deine Tat, auch wenn du auf den Teufel hereingefallen bist! Im Krieg gehört alles Gute und Tapfere dem Teufel. Das Böse, Feige und Ungerechte natürlich aus. Es ist wie in der Hölle: Hier herrscht nur der Teufel, Gott hat sich zurückgezogen. Der Teufel ist der Sieger! Bald aber wirst du auch das überstanden haben“, sagte sein kenntnisreicher Blick.

Der junge Mann stöhnte noch einmal laut auf, legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und fiel in einen nicht endenden Schlaf.

Verschwommen erkannte er im Einschlafen den Jägerstuhl mit dem alten weißhaarigen Mann zwischen den beiden Schützengräben. Er lächelte ihm milde und wohlwollend zu, so, als habe er für ihn in der Hölle ein stilles Ruhebett reserviert. Dann kam seine Mutter, nahm ihn an die Hand und führte ihn schwerelos in das Bett mit dem gleißenden Dunkel.

Nach einer Stunde schaute die Schwester mit der weißen Haube vorbei. Sie schob das Bett mit dem jungen Mann aus dem Saal. Es wurde dringend für die neu eingelieferten jungen Männer gebraucht.

Kaltenblick aber saß noch mehrere Jahre zwischen den Schützengräben, erfreute sich seiner Taten und übte für zukünftige.

War es Zufall, dass er sich so nah an den Teufel und die himmlischen Gefilde wagte? War es Zufall, dass er sich den deutschen Frontlinien zuwandte und nicht den französischen?

Ich vermag es nicht zu sagen.


 Copyright Prof. Dr. Dr. Klaus Kayser.

Dieses Kapitel stammt aus dem Buch „Terror im T-Team“ von Klaus Kayser.  Dieser Link führt zu dem Buch Terror im T-Team.

Weitere Links zu Büchern von Klaus Kayser: Restrisiko und Körperspender.

Diese Geschichte wurde beim Jahreskongress des BDSÄ 2013 in Münster vorgetragen zum Thema Konflikt und Chance.

Published inProsa

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