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Ketewan (Harald Rauchfuß)

Ketewan

In Georgien wurde eine fromme Frau von einem Jungen entbunden.

»Schau her«, munterte die Hebamme auf, »ein Bub, was für ein prächtiger Bub!«

»Atmet er genug«, fragte Ketewan, die ängstliche Mutter.

»Hör! Hör doch! Wie kräftig er schreit! Nimm ihn, den Buben, nimm ihn, leg ihn auf deine Brust!«

Ketewan zögerte, die Hebamme drängte, die Mutter nahm den Knaben entgegen und betrachtete ihn.

»Er ist ein Starker«, klatschte die Hebamme in die Hände, »sieh, wie er strampelt, wie er mit den Händchen winkt!«

Ketewan erschrickt: »Er strampelt? Er tritt mit den Füßen! Er winkt? Er boxtundboxt, will alles nieder boxen!«

Die Hebamme stutzt, sucht nach Worten. Endlich sagt sie: »Du hast eine lebhafte Phanta-sie, Ketewan, du, nicht das kleine Teufelchen!«

»Hebamme«, antwortet Ketewan, »du musst es mir eingestehen: Mein Sohn richtet Furore an. Der böse Blick dringt mir ins Herz.«

»Ketewan«, fordert die Hebamme, »beruhige dich! Das unschuldige Kind! Wirst du es gernhaben, von Herzen gern?«

»Ich liebe es, weil es freigeboren ist. Aber jetzt, da ich es sehe, wird mir anders zumute … es ist ein Freier. MeinVater, sein Großvater ist leibeigen. Ich liebe Russland undweißnicht, warum ich mich schäme.«

»Welchen Namen bekommt der Bub?« lenkt die Hebamme ab.

»Josef«, flüstert die Mutter, »JosefWessarionowitsch. Mein Schwiegervater ist freigeboren, kein Leibeigener.«

»Josef«, ruft die Hebamme, »er wird ein Priester.«

»Wie kannst du es wissen?« Die Mutter weint. »Das glaube ichnicht. Das Kind wird nie-mals ein Diener Gottes.«

Das Wochenbett überlebte Ketewan komplikationsfrei. Der Knabe wuchs heran; Pockennarben zeichneten das Gesicht. Nachdem JosefWessarionowitsch Dschugaschwili das Priesterseminar abgebrochen hatte, um das Glück des Revolutionärs herauszufordern, nahm er den Namen Josef Stalin an. Millionen wanderten hinter Stacheldrahtzaun, Millionen starben. Ohne Asyl gibt es keine Emigration.

Published inProsa

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