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Lastenausgleich (Waltrud-Wamser-Krasznai)

Lastenausgleich.

Fragmentarisches aus Kindheit und Jugend

 

In Darmstadt, nahe am Woog im „Tintenviertel“, hatten wir eine Wohnung im Erdgeschoss, dazu eine Vermieterin, die nicht wollte, dass das kleine Waltrudchen – drei Jahre alt mochte ich gewesen sein – auf ihrem Hof spielte und auf dem Mäuerchen herumhüpfte. Zum Trost wurde ich auf unseren großen Garten in Butzbach verwiesen, in dem ich spielen durfte, wo ich wollte. Die Tochter der Vermieterin heiratete einen Arzt und lebte in Berlin-Klein-Machnow, im späteren Grenzgebiet. Wir trafen sie mit ihrer Familie in Langeoog, wo sie regelmäßig die Sommerferien verbrachte. Eines Tages zog ich mir beim Wellenhüpfen eine ziemlich schwere rechtsseitige Sprunggelenksdistorsion zu. Der Herr Doktor behandelte mich im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten mit kaltem Wasser und einer Art Mullverband. Es wurde bald besser, nur die Schwäche im Sprunggelenk blieb mir erhalten.

Zurück zu den Darmstädter Jahren, die ja nicht mehr lange währten. Anfangs hatten wir Pflichtjahrmädchen, Ria und Edelgard, die waren nett und sangen mit mir:

„Hoch dro‘ m auf‘ m Berg
dort unter den funkelnden Sternen
Dort weiß ich ein Haus,
das wartet auf dich, mein Schatz.“

Einmal nahm mich eins der Mädchen mit auf eine Rutschbahn im Woog-Schwimmbad. Ich hatte Angst und kam viel schneller ins Rutschen, als ich denken konnte. Danach blieb ich für viele Jahre wasserscheu. Trotzdem bedauerte ich es sehr, als wir die Pflichtjahrmädchen verloren. Da Mutti nur ein Kind hatte, stand ihr kein Mädchen zu.

Papa war Block-Walter bei der NSV und hatte z. B. für das Winterhilfswerk zu sammeln. Da der Dr. Wamser mit der Sammelbüchse jedem peinlich war und man ihn schleunigst ins Haus bat, zogen sich seine Sammelaktionen endlos hin und wir wurden ausgeschickt, ihn zum Abendessen nach Hause zu holen. Vertrat ihn eines der Mädchen beim Sammeln, so waren diese immer schnell fertig und kamen mit der vollen Büchse zurück.

Ich erinnere mich, dass Papa, wenn er vom Unterricht in der nahen höheren Mädchenschule nach Hause kam, als erstes in die Küche ging, seine Frau begrüßte und sein Töchterchen hochhob. Vom Dampf beschlugen die Brillengläser, und er musste sie putzen. Mit dem so gewonnenen klaren Durchblick erspähte er dann sofort einen gewissen unverkennbaren Briefumschlag auf dem Küchentisch. Ohne ihn zu öffnen, wusste er, dass er zu einer abendlichen Sitzung, Parteiversammlung, geladen war. Der letzte kategorische Teil-Satz hieß immer: Erscheinen Pflicht! Schlagartig war die Stimmung hin. Mein Vater gewöhnte sich nie daran.

Auf dem Haus schräg gegenüber saß eine Sirene, deren widerwärtiger Ton für mich den Krieg schlechthin bedeutete. Ich atmete auf, wenn das Dach mit der Sirene beim Einkaufen oder Spazierengehen aus meinem Blickfeld verschwand.

An zwei Reisen denke ich noch. Eine ging nach Baden-Baden zu den vielen Tanten aus der mütterlichen Familie. Dort ereilte uns die Nachricht vom Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges, es muss also im Juni 1941 gewesen sein. Mein Vater hörte es und sprach es aus: „Das ist der Untergang.“

Er hat im Familienkreis nie einen Hehl aus seiner zutiefst pessimistischen Einstellung gemacht.

Die zweite Reise führte nach Böhlen, Leipzig, Dresden, Eger, Karlsbad und Teplitz. In Böhlen lebte Muttis älterer Bruder mit seiner Familie. Es gibt eine Fotografie aus dem Leipziger Zoo von meiner Mutter und mir mit einem kleinen Löwen auf meinem Schoß. Ganz geheuer war mir die Sache nicht, ich gucke etwas ängstlich. Von Dresden sind mir nur die aus Luftschutzgründen dunkelblau angestrichenen Fenster im Hotel in Erinnerung. Um nach „Böhmen“ zu fahren, brauchten wir damals keinen Pass. In Karlsbad beeindruckten mich die bunten Ohrenkappen der Kutschpferde. Dort fielen auch keine Bomben.

Dann wurde mein Vater auf seine alten Tage – er war 46 Jahre alt – noch eingezogen. Seine Schülerinnen, er war Klassenlehrer einer Obertertia, kamen mit großen Fliedersträußen. Der Flur und die ganze Wohnung dufteten. Alle weinten. Papa war zunächst in Raunheim und Rüsselsheim stationiert, wo er schulpflichtige „Flak[1] -Buben“ unterrichtete. Bei unseren Besuchen lernte ich ganz neue Sachen, „lightning“ und „thunderbolt“, und hörte nach den Geräuschen zu unterscheiden, ob die Geschwader eine Bedrohung darstellten oder ob sie weiterzogen. Dann wurde mein Vater nach Koblenz versetzt. Er hatte dort Präsenzpflicht, Ausgang nur bis nach Ehrenbreitstein. Wir wohnten im Hotel an der Schiffsbrücke, rannten nachts bei Alarm in den Keller, hörten nahe Einschläge und Tiefflieger und sahen eines Morgens die Schiffsbrücke zerstört, direkt vor unserem „Rheinhotel“, dessen Dach abgedeckt war. Glück im Unglück. Auf der Fahrt nach Koblenz heimste ich als kleiner Dopch, der Burgen und Schlösser wie die Pfalz bei Kaub, die „feindlichen Brüder“ Liebenstein und Sterrenberg, benennen konnte, Bewunderung ein. Mein Vater war halt ein engagierter Geographielehrer.

Bald bestand er darauf, dass wir Darmstadt verließen und uns nach Butzbach zurückzogen. Er wusste um die Gefährdung des Rhein-Main-Gebiets.

Am 23. September 1943 kam der Großangriff auf Darmstadt. Papas Mutter, die das Butzbacher Haus verwaltete, hat nicht mehr lange gelebt, sie ist noch während des Krieges, wohl an einer Herzinsuffizienz, gestorben. Muttis Mutter kam mit uns. Sie hatte in Darmstadt in einer eigenen Einzimmerwohnung residiert, wo mich vor allem die „Kochkiste“ beeindruckte, in der man ein halb gekochtes Gericht ohne weitere Wärmezufuhr über Stunden fertig garen und warmhalten konnte.

Kurz vor Kriegsende versuchten wir wie viele andere noch weiter auf‘ s Land zu flüchten. Wir gingen nach Fauerbach, weil wir dort jemanden kannten. Beliebt waren wir nicht, schmarotzende Städter halt. Irgendeinen finanziellen Beitrag leisteten wir wohl, aber man bekam ja nichts für sein Geld. Gegen Ostern1945 hieß es: die Amerikaner kommen! Man hängte weiße Bett-Tücher ins Fenster. Gleich darauf wurde eine Gegenparole ausgegeben: De SS kommt zurück, die Hakenkreuzfahne raus! Es kamen auch Bollerwagen mit Würsten und Käse, das Volk fiel darüber her, wir waren natürlich zu dumm und zu zurückhaltend, um Beute zu machen. Es muss Karfreitag gewesen sein, als die Amis tatsächlich ins Haus kamen. Ich habe sie wirksam vertrieben, denn ich lag fieberglühend mit Masern im Bett. Sie sind gelaufen, was das Zeug hielt. Natürlich habe ich die Fauerbacher Kinder angesteckt. Nein, beliebt waren wir nicht.

Als Verkehrsmittel hatten wir einen kleinen Leiterwagen. Meine Mutter, diese Rebellin zur Unzeit, schlich sich in unser Haus nach Butzbach und nahm sich heimlich ihr Fahrrad. Es gab damals abendliche Sperrstunde, Mutti war natürlich noch spät unterwegs, trifft auf drei Amerikaner, wird bedroht und steigt ab, spricht etwas Englisch, sie sind friedlich, nichts passiert. Glück.

Unser Haus war wegen des mangelnden Komforts nicht lang besetzt, dafür aber anschließend völlig verdreckt. Langsam zogen wir wieder ein – von „unserem“ Haus konnte man gar nicht reden, denn unten war vermietet, und oben teilten wir es uns mit allen herbei- und zurückströmenden Familienmitgliedern. Es gab Matratzenlager, Brenn-Nesselspinat, Löwenzahnsalat und Kochkäse aus Hefe, die wir Kinder für 10 Pfennig beim Bäcker holten.

Von Papa wussten wir nichts. Eines Tages kam als Lebenszeichen eine Karte aus der Champagne. Wir hatten auch Einquartierung, eine Mutter mit zwei halbwüchsigen Kindern, die eigentlich ganz umgänglich waren. Ab und zu gab es etwas Schokolade oder Kaffee, eines Nachts die Begegnung meiner Großmutter mit einem schwarzen Amerikaner auf der Toilette. Schreck. Passiert ist nichts.

Dann lernte ich, was ein Migräne-Anfall bedeutet. Meine Mutter, deren derzeit abwesender Mann Parteigenosse gewesen war und zum Bürgertum gehörte, war in Berlin geboren und katholisch – alles ganz schlimm! Sie musste sich auf dem Rathaus mit den Rechtgläubigen der Nachkriegszeit herumschlagen. Anschließend lag sie im Bett im verdunkelten Zimmer, mit schrecklichen Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Das konnte bis zu drei Tagen dauern.

An unserer Situation änderte sich nichts. Wir hatten ein nicht heizbares Schlafzimmer, ein kleines Eckzimmer mit einem eisernen, ewig rauchenden Kohlenofen und „Küchenbenutzung“, denn die Möbel in unserer eigenen Küche gehörten uns nicht. Dort gab es einen großen Kohlenherd, auf dem Mutti und Tante irgendwelche Mahlzeiten produzierten. Die einzige Toilette mussten wir mit der ganzen Familie, dem „Ami-Liebchen“, deren Kindern und ihren Verkehrsgästen teilen. Zum Waschen gab es „Waschlafors“ (von Lavoir!), das Wasser wurde auf dem Küchenherd heiß gemacht.

Im Januar 1946 kam Papa aus der amerikanischen Gefangenschaft in Frankreich zurück. Ich machte die Tür auf und wurde von einem großen, dünnen, fremden Mann, vor dem ich aber keine Angst hatte, hoch gehoben. Wir holten vom Dachboden die Schaukelwanne aus Zink und machten so lange Wasser heiß, bis eine Badewanne gefüllt war. Er war völlig ausgehungert, irgendwie kriegten Mutti und Tante ihn satt. In der Champagne hatte er während müßiger Stunden im Lager aus den herumliegenden Kreidebrocken drei kleine Kunstwerke geschaffen, mit Rasierklingen und Stecknadeln als Werkzeug. Es waren zwei Reliefs mit Ansichten vom alten Butzbach und für mich ein kleiner Bär, dem Papa mittels einer Schachtel, die er mit Gips ausgoss, eine Standplatte anfertigte.

Wilhelm Wamser
Champagne 1945, Kreide

Rasch kam dann das Spruchkammerverfahren. Mein Vater wurde zwar nur als „Mitläufer“ eingestuft, aber das genügte, um ihn aus Dienst und Beamtenstatus zu entfernen. Strafe musste auch noch gezahlt werden. Wir lebten aus dem Garten, hatten Hühner, Enten und Hasen, pflanzten und gossen Kartoffeln, Tomaten, Kraut, Salat und Petersilie, düngten mit Pferdeäpfeln. Die Pumpe im Hof funktionierte. Irgendwann waren wir die Einquartierung los, dafür hatten wir Wanzen und Läuse. Ein Kammerjäger musste kommen. Wir verkauften ein Grundstück nach dem anderen, sammelten Schafgarben und Bärenklau für die Firma Merck, außerdem Pilze, Bucheckern und Weizenähren. Für Kartoffelkäfer gab es ein paar Pfennige, für Zigarettenkippen Lob von den Rauchern.

1948 bekam Papa gleichzeitig mit zwei ebenfalls betroffenen Kollegen eine halbe Anstellung am Weidig-Realgymnasium Butzbach, 1950 dann eine volle Stelle. Es sollte gerade langsam aufwärts gehen.

Mutti, die Abitur gemacht hatte – eine Seltenheit für Mädchen zu dieser Zeit – wäre nicht mehr lange mit einem bloßen Hausfrauendasein zufrieden gewesen. Sie wollte ab April 1951 mit mir zusammen Latein lernen. Am 3. März aber kam sie bei einem Verkehrsunfall zu Tode, eine Katastrophe, die unser Leben Jahrzehnte lang überschattete. Ich vermeide heute noch, davon zu sprechen, ein rechtes Trauma.

Ein jüngerer Kollege meines Vaters, der mit seiner Familie aus Ostpreußen gekommen war, unterstützte uns über viele Jahre mit seiner kameradschaftlichen Zuwendung. Seine älteste Tochter und ich wurden Freundinnen, hatten denselben Schulweg, musizierten zusammen und trieben gemeinsam Sport. In seiner Familie waren wir jederzeit willkommen. Er hatte inzwischen wieder ein kleines Haus, während wir Lastenausgleich zahlten und nicht in der Lage waren, unsere eigene Bruchbude, die seit dem Todesjahr meines Großvaters 1915 keine Renovierung mehr erfahren hatte, auch nur einigermaßen gebrauchsfähig herzurichten. Die altmodische Zentralheizung funktionierte schon lange nicht mehr. Abends wurde die Tür zwischen dem einzigen heizbaren Zimmer und dem Schlafzimmer geöffnet, damit das Wasser im „Waschlafor“ nicht einfror, was trotzdem oft genug geschah.

Weitere Ostpreußen bestimmten meinen Schulalltag, ein Musiklehrer, der mit uns seine heimatlichen Lieder sang:

Land der dunklen Wälder…
Welch ein Wunder…
O käm das Morgenrot herauf…
Zogen einst fünf wilde Schwäne…

Und mein Lateinlehrer, der sich zwar keiner großen Sympathien erfreute, mir aber die Sprache und deren Grammatik so nachhaltig vermittelte, dass ich heute noch herunter- deklinieren und- konjugieren kann. Ich sang im Chor, spielte Geige im Schulorchester und war eine gute Leichtathletin. In der Oberstufe errang ich mit drei Kameradinnen beim Weidig-Bergfest in der Pendelstaffel für Frauen- Jugend als Schlussläuferin den Albert-Wamser-Wanderpreis.

Der Großherzog hatte meinem Großvater, dem „Landkarten-Wamser“, in Anerkennung seiner Verdienste um das Frauen-Turnen in Butzbach das Ritterkreuz verliehen. Handwerker haben das goldenen Kreuz 1980, als endlich umfassende Renovierungsarbeiten in Gang kamen, gestohlen. Die zugehörige Urkunde ist aber vorhanden: „Wir, Ernst Ludwig, von Gottes Gnaden Großherzog von Hessen und bei Rhein…“

Etwa seit Quarta hatten wir an unserer Schule einen ehemaligen Professor der Karlsuniversität Prag als Lehrer für Geschichte und Deutsch. Er siezte uns, obwohl wir erst 13 oder 14 Jahre alt waren und rief auch die meisten Mädchen mit Nachnamen auf. Nur von zweien wusste und gebrauchte er die Vornamen; den meinen nicht, ich war das „Wamserle“. Er hat sich dann nach Gießen um-habilitiert und das sudetendeutsche Wörterbuch begründet. Zudem war er ein ausgesprochener Kenner der jiddischen Sprache, die ihm reine Wissenschaft bedeutete und nichts mit Weltanschauung zu tun hatte. In meinem Nachwort zu den „Quellen des west-östlichen Divans“ in: Fließende Grenzen (Budapest 2015) 112 f. Anm. 310, habe ich versucht, ihm ein kleines Denkmal zu setzen.

 

[1] =Flugzeugabwehrkanone.

Published inProsa

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