Schlagwort: erfahrungen

  • Nach Entwürfen zur Lesung „Eigene Gedanken und Taten“, Moderation H. Ganz, beim Kongress des Bundesverbandes Deutscher Schriftsteller-Ärzte, Stralsund 2020 (wegen Corona Pandemie vertagt)

    Zur eigenen Tat gibt es keine Alternative, wenn eine Sache, die mich selbst betrifft und mir nahe geht, getan werden muss. Auch wenn die Idee zu einer Tat auf fremdem Mist gewachsen ist, so kann mir niemand sonst etwas abnehmen, was ich nun einmal auf mich nehmen muss. Ich bin einem anderen Menschenkind nahe getreten und habe mich jetzt zu entschuldigen – da  kann ich doch keinen anderen schicken, der die Sache für mich erledigt?

    Wie war das mit der „Bürgschaft“? Damon hatte sich zum Tyrannen geschlichen, den Dolch im Gewande. Das soll er nun am Kreuze bereuen. Zum Sterben ist er bereit, doch will er vorher noch seine Schwester unter die Haube bringen. Der Freund bleibt als Bürge zurück in Syrakus. Dramatische Tage voller Hindernisse vergehen, bis der Todgeweihte wieder vor dem Despoten erscheinen kann, um sein Wort einzulösen. Auch hier gilt: Wenn man zum Tode verurteilt ist, muss man den eigenen Kopf auf den Richtblock legen, nicht wahr? Wir wissen, dass die Sache gut ausgeht. 

    Ich soll auf einen Knopf drücken und einen elektrischen Impuls auslösen, der ein menschliches Wesen, das ich nicht sehen, aber hören kann, vor Schmerzen schreien lässt. Ich drücke, es schreit. Bin ich jetzt ein Täter? Natürlich. Ist derjenige, der mir das angeschafft hat, ein Täter? Selbstverständlich. Ein Schreibtischtäter. Begeht er eine weniger gravierende Tat? Das hätten wir gern. Die Milgram-Studie ist bekannt und berüchtigt, doch wir wissen alle, dass es weit schlimmere Experimente gibt.   

    Und nun gar eigene Gedanken! Wo es doch so viele kluge Aussprüche gibt, hinter denen man sich verstecken kann. Selbst denken – vielleicht ein kleines bisschen reflektieren, zum Beispiel über Corona und kein Ende? 

    Sind wir nicht eine Schafherde, die den Gehorsam auf die Spitze treibt? Die Kneipen haben unter Auflagen wieder geöffnet. Man sollte meinen, dass sich jetzt lange Schlangen bilden, um endlich ein anständiges Schnitzel zu essen, ein Osso buco beim Italiener, Rinderleber beim Kroaten, Schweinelendchen mit Metaxa-Soße beim Griechen und zwar am Ort, damit die Gastwirt*innen wenigstens an den Getränken etwas verdienen. Man sollte meinen, die Telefone der Restaurants seien ständig besetzt, weil sich die Anmeldungen nur so häufen. Weit gefehlt.

    Es ist vielmehr so: Man kann sich unter den auf Abstand reduzierten leeren Tischen einen Lieblingsplatz aussuchen, wird nach Strich und Faden verwöhnt und zahlt, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr als sonst.  

    Wir sind erschrockene, eingeschüchterte Lämmer und trauen uns nicht. Punkt. Dabei haben die Vorsichtsmaßnahmen ihren Sinn und werden von einsichtigen Leuten akzeptiert. Schon gibt es die ersten Rückschläge in Form erneuter Schließungen, weil sich angeblich ganze Gruppen in den Armen gelegen und abgeküsst haben. Müssen wir das eigentlich – küssen und umarmen um jeden Preis? Und auch gleich noch dieses allgemeine Corona- Geduze, wo unsere  angelsächsischen Vorbilder doch auch das „Sie“ nicht kennen!  

    Gestern bin ich eine Strecke mit der Regionalbahn gefahren. Dort ist Abstand halten sogar bei dem derzeit geringen Personenaufkommen kaum möglich. Alle hatten ihre Mund-Nasen-Klappen an. Zwei schwarze Männer brüllten sich gegenseitig in einer mir unbekannten Sprache an, ich glaube weil einer seine Nase nicht mit bedeckt hatte. Ein einziges deutsches Wort verirrte sich dazwischen, bezeichnender Weise ein hässliches, das mit Sch… beginnt und   noch immer keinen Eingang in mein Vokabular gefunden hat. Immerhin wurden die beiden Kontrahenten nicht tätlich.  

    Meine Friseurin hat wieder ganze Arbeit geleistet, die Buchläden sind geöffnet, in den Bibliotheken funktioniert die Ausleihe. Aber was, wenn bestimmte Bücher nur im Lesesaal benutzt werden dürfen? Auf diese Frage waren die freundlichen technischen Angestellten nicht gefasst, sie murmelten etwas von Ausnahmen …  Aber jetzt können wir hoffen: Vom 2. Juni an wird es wieder  Leseplätze geben! Bis dahin muss ich altes Frauenzimmer mit meinem zwiespältigen Verhältnis zur digitalen Welt frei schwebend zwischen den Regalen herumturnen, in der einen Hand den Laptop, in der anderen einen Folianten, denn noch darf man sich nirgendwo hinsetzen. Dabei bin ich  privilegierte Eigentümerin vieler Bücher und habe zu Hause einen guten Arbeitsplatz.  

    Es zu Hause gut haben – das kann eine namhafte Zahl von Kindern nicht von sich sagen. Niemand unterstützt sie in ihrem Lerneifer oder sorgt für Anregungen. Düsteren Prognosen zufolge müssen sie mit einem Rückstand von mindestens zwei Halbjahren rechnen. Derartige Probleme – häusliche Gewalt ist noch gar nicht berücksichtigt – sind nicht auf die Vor- und Grundschulstufen beschränkt. Auch von den Studierenden werden nur die besonders hellen, entschlossenen, ehrgeizigen und Internet-tauglichen ohne Zeitverlust durch die Krise kommen.

    Sind wir nicht schon genügend verdummt? Nehmt einem Volk seine Sprache, und der Effekt wird größer und dauerhafter sein als die Annexion seines Terrains  – so ähnlich äußerte sich 1943 Winston Churchill (Robert Phillipson, Linguistic Imperialism Continued, New York – London 2009, 114). Die nicht nur vom damaligen britischen Premierminister vorgeschlagenen Maßnahmen, nicht anstelle sondern neben der Eroberung der Territorien, sind längst umgesetzt und werden durch fortwährende Infiltration erfolgreich vertieft. Schlimmer, wir sind es selbst, die in vorauseilendem Gehorsam und weil wir von uns selbst nicht besonders viel halten, unsere eigene Sprache, unsere eigene Musik aufgegeben haben. ‚Musik‘ besteht jetzt aus gesundheitsschädlichem Krach, allen Arten von Körperwerbung, glitzernden Farben, gleißenden Lichteffekten und englisch-amerikanischem Gegröle. Man nehme einen albernen Text, übersetze ihn ins Englische und schon bricht frenetischer Jubel aus. Eine Melodie ist nicht erforderlich, eher störend; allenfalls darf etwas Rhythmus sein.

    Wo bleibt – so fragen Sie jetzt – das obligatorische Eingeständnis meiner eigenen Schuld an dieser Situation? Hier ist es: Mea Culpa (natürlich im Rahmen des Kollektivs).

    Noch einmal zurück zu den Privilegien. Dazu gehört auch, dass ich mir diesen infernalischen Krach, genannt Musik, nicht anhören muss. Außerdem hatte ich 13 Jahre lang einen Schulweg von fünf Minuten und einen Vater, den wir schon beim Mittagessen sprechen und fragen konnten. Eine meiner Freundinnen wohnte im hohen Vogelsberg. Das über 22 km Luftlinie entfernte Gymnasium war nur auf Landstraßen 4. Ordnung zu erreichen. Der Bus fuhr nachmittags nicht bis hinauf. Für den zweiten Teil des Heimwegs konnte sie auf eine Mitfahrgelegenheit auf einem Leiterwagen oder einem Milchfuhrwerk hoffen. Der Ort für die Hausaufgaben war die väterliche Gastwirtschaft. Kam ein Gast, so unterbrach die Tochter ihre mathematischen Studien und zapfte ein Bier. Sie war natürlich fleißig und klug, dazu eine begabte Schauspielerin, die in manchen Schüler-Aufführungen brillierte. Dann ist sie Lehrerin geworden und hat später ihren Mann, einen Pfarrer, tatkräftig in der Gemeindearbeit unterstützt. Jetzt steht sie allein einer problematischen Familie aus vier Generationen vor; alle Fäden laufen bei ihr zusammen. In ihrem Leben wie in ihrer anrührenden Autobiographie hat der christliche Glaube einen hohen Stellenwert.

    Und wir? Was wollen, können, sollten wir tun? Weiterhin ein bisschen schreiben vielleicht!

  • Schon als Schüler erlebte ich regelmäßig in der Kinderarztpraxis meines Vaters Grundlagen der Behandlung. Die Höhensonne sollte die Aufnahme von Vitamin D fördern, das die Kinder – auch meine Schwester und ich!- als scheußlichen Lebertran essen mussten. Wunden nähte mein Vater mit sterilen Fäden, die er in kleinen Fläschchen aufbewahrte. Ich durfte sogar manchmal den Faden abschneiden. Jeder Faden musste einzeln in die Klemmhaltung der Nadel eingefädelt werden. – Die Nadeln bewahrte Vater in einer Dose auf, die mit dem Nadelhalter zusammen sterilisiert wurde. Erst Jahre später kamen die einzeln verpackten atraumatischen Nadeln mit dem angehängten Faden auf. Noch viele Jahre wurde das Besteck sterilisiert. Inzwischen verwenden wir in der Notfallpraxis Skalpelle, Pinzetten, Scheren, Injektionsnadeln, Spritzen und andere Instrumente als Einmalware und produzieren einen gigantischen Müllberg.

    Als junger Student habe ich im Katharinenhospital Frankfurt ein Praktikum gemacht. Dort bestand eine meiner Aufgaben darin, den Nonnen bei der Wiederaufbereitung des Verbandsmaterials zu helfen: Die Binden wurden gewaschen, zum Trocknen aufgehängt, dann gebügelt und neu aufgerollt. Heute schneiden wir selbstverständlich einen Verband auf, werfen das Material weg und holen neue Ware aus dem Regal. Sogar die Pinzetten, Scheren und Skalpelle sind Einmalmaterial und dementsprechend minderwertig. Das Einmalbesteck soll den Aufwand des Sterilisierens mit den sehr aufwändigen Hygienevorschriften ersparen.

    Es war in meiner Kindheit etwas Besonders, bei einer Entzündung ein Antibiotikum zu erhalten. Mein Vater erklärte mir das, als ich mit neun Jahren eine Osteomyelitis am Bein hatte, die operiert werden musste. Es gab damals, wenn ich mich recht erinnere, Penicillin und ein Sulfonamid. Sie wurden als große Neuerung gefeiert, und ich nahm meine Tabletten mit großem Respekt. Von den Resistenzen, die uns heute Sorgen machen, war damals nur wenig bekannt. In Europa sterben heute jährlich 33.000 Menschen an resistenten Keimen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Krankhausaufenthalt einen solchen Keim einzufangen, ist relativ hoch.

    Tetanus schilderte mein Vater noch als große Gefahr. Damals gab es noch Impfstoffe aus Tierseren, die schwere allergische Reaktionen hervorrufen konnten. Deshalb musste man immer genau dokumentierten, von welchem Tier die letzte Impfung war. –
    Vater erzählte diese Geschichte: Als er im Studium eine Famulatur bei einem Landarzt machte, wurde dessen Sohn verletzt und sollte nach der Wundversorgung eine Tetanusschutzimpfung erhalten. Um auch wirklich alles richtig  zu machen, bat der erfahrene Landarzt einen befreundeten Chirurgie-Chefarzt um Rat: „Welches Serum soll ich spritzen?“ – Die Antwort: „Mach es genauso, wie du es bei irgend einem Patienten machen würdest.“ – Der Arzt spritzte das Serum. Wenige Minuten später erlitt der Junge einen anaphylaktischen Schock und starb unter den Händen seines Vaters. – Diese Geschichte fällt mir oft ein, wenn ich heute eine Tetanusimpfung verabreiche. Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Arzt in 48 Jahren nie einen Fall von Wundstarrkrampf erlebt.

    Ich erinnere mich auch an eine Chloroform-Maskennarkose, als der HNO-Arzt meine Nasen-scheidewand gerade stellte, nachdem ein Klassenkamerad sie mir versehentlich bei einem Sportunfall gebrochen hatte. – Inzwischen ist es selbstverständlich, dass ein Notarzt einen schwer verletzten noch am Unfallort zum Schutz intubiert und narkotisiert.

    Als Schüler las ich, dass es ganz neu Kortison gibt als vorübergehendes Linderungsmittel bei Leukämie. Dinu Lipatti, einer der ganz großen Pianisten, dessen wunderbare Aufnahmen ich damals kennen lernte, konnte eine Zeitlang mit Kortison am Leben gehalten werden. Kollegen wie Yehudi Menuhin bezahlten die extrem teure Therapie. Das war schon eine Erfolgsnachricht. Erst im Studium lernte ich die neuesten Chemotherapien mit den oft heftigen Nebenwirkungen und häufigen Rückfällen. Und zu Beginn meiner Praxiszeit kamen die ersten Stammzelltransplantationen auf, die den Umbau ganzer Stationen in den Krankenhäusern nötig machten. Ich erinnere mich gut an einen Patienten am Anfang meiner Niederlassung 1982, den ich zu einer Schul- und Studienkameradin nach Stuttgart schickte, die dort als Chefärztin gerade eine Hämatologisch-Onkologische Abteilung aufbaute und in Stuttgart die Stammzelltransplantation einführte. Heute werden sogar noch bei über Siebzigjährigen Stammzelltransplantationen erfolgreich vorgenommen. Das war damals undenkbar.

    Als ich von 1974-1979 meine Kinderfacharzt-Weiterbildung absolvierte, kam eines Tages mein zuständiger Oberarzt von dem Besuch des Internationalen Kinderärztekongresse aus Rochester / USA zurück und berichtete ganz begeistert: „Stellen Sie sich vor, die haben da ein Röntgengerät entwickelt, das legt den Kopf oder andere Organe in Bildscheiben, man kann sie einzeln anschauen und so im ganzen Körper Tumore, Blutungen, Frakturen und Missbildungen erkennen. Durch eine digitale Dichtemessung können Sie genau erkennen, welches Material (Blut oder Knochen oder Liquor) das ist. Solch ein Gerät müssen wir unbedingt nach Stuttgart bekommen – ein einziges Gerät für ganz Stuttgart! Das wäre fantastisch!“  – Heute hat jede Röntgenpraxis und jede Klinik Computertomografen und Kernspintomografen, und große Kliniken verwenden Positronenemissionstomografen zur Diagnostik und ein Gamma-Knife, das auf den Millimeter genau scharf abgegrenzte Tumore zerstört.

    Noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts galt es als Kunstfehler, am Gehirn zu operieren. Inzwischen ist die Neurochirurgie eine international etablierte und weit fortgeschrittene operative Disziplin. Während meiner Jahre in der Neurologie habe ich wahre Kunsteingriffe gesehen mit verblüffenden und segensreichen Erfolgen. Und ich kenne viele Menschen, die am Leben gehalten wurden durch moderne medizinische Methoden, aber jetzt im Wachkoma liegen und schwerst pflegebedürftig sind. Früher wären sie gestorben, als es noch keine Therapie gab.

    Die neuen Disziplinen der invasiven Radiologie und der minimalinvasiven Chirurgie ermöglichen inzwischen die zielgenaue Ausschaltung kleinster Aneurysmen von Hirngefäßen oder Entfernung von Hirngefäßthrombosen und die millimetergenaue Zerstörung eines Tumors. Die „Knopflochchirurgie“ und Arthroskopie sind ein selbstverständlicher Bestandteile der modernen Chirurgie.

    Als Allgemeinarzt erlebte ich in der Hausarztpraxis die Vielzahl der Erkrankungen, die psychosomatischen Auswirkungen sozialer Konflikte und die Freude, wenn meine Therapievorschläge geholfen haben. Nachdem ich meine Praxis verkauft hatte, um eine Privatpraxis zu führen, war ich ein Jahr später als Urlaubsvertreter gerade eine Woche in meiner früheren Praxis tätig, als mein Nachfolger plötzlich schwer krank wurde und ein neues Herz brauchte. Ich führte auf Bitten seiner Frau dann zwei Jahre lang seine Praxis neben meiner eigenen Praxis, bis er wieder zurückkam. Anschließend arbeitete ich zehn Jahre lang als Geschäftsführer einer Firma für Sozialimmobilien und entwarf unter anderem Deutschlands größte Mutter-Kind-Klinik. Ich begleitete den Bau und leitete die Klinik anschließend. Bis zum Beginn meiner Rente war ich dann zehn Jahre in der neurologischen Akutmedizin und Rehaklinik tätig.

    Obwohl es seit Menschengedenken eine vornehme Pflicht der Ärzte ist, Schwerstkranken und Sterbenden beizustehen, wurde erst 1969 von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders das erste Hospiz im St. Christopher´s Hospital in London eröffnet. Sie begründete die moderne Palliativmedizin und den weltweiten Bau von Hospizen. Das ist eine der herausragenden Errungenschaften der Menschlichkeit. Dankenswerterweise haben sich auch die deutschen Krankenkassen inzwischen entschlossen, diese Form der Medizin und Pflege finanziell zu unterstützen.

    Die Palliativmedizin ist mir seit meiner Assistentenzeit auf der Kinderkrebsstation ein Hauptanliegen in meiner ärztlichen Arbeit. Deshalb habe ich auch rasch die Gelegenheit ergriffen, die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin zu erwerben, als diese in die Weiterbildungsordnung eingeführt wurde. Und es war mir wichtig, ein Buch[1] über meine Erfahrungen im Umgang mit schwerst kranken, sterbenden und genesenden Menschen zu schreiben. Glücklicherweise trug Birgit viele gute Gedanken und das Titelbild bei.

    Da ich seit meinem 65. Geburtstag regelmäßig in den Notfallpraxen Leonberg und Stuttgart arbeite, schließt sich der Kreis für mich. Ich bin wieder in meinem ursprünglichen Gebiet als Hausarzt tätig und freue mich, wenn ich Patienten treffe, die ich schon in der Kinderklinik oder in meiner Praxis behandelt habe. Wir werden miteinander alt. Und ich finde meinen Beruf immer noch spannend und sehr befriedigend.

    Jetzt verfolge ich die Fortschritte der Technik in der Medizin eher aus einer Beobachterrolle, wenn auch sehr interessiert.

    Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat natürlich auch in der Medizin Einzug gehalten. Früher habe ich das EKG selbst beurteilt, heute nimmt der PC mir diese Leistung ab. – Aber ich bin dankbar, dass ich gelernt habe, ein EKG zu lesen, denn der PC macht auch immer wieder Fehler! – Diese Technik verführt zu Abhängigkeit und geringer persönlicher Untersuchung. Ich diagnostiziere meist eine Pneumonie immer noch mit Anamnese und Auskultationsbefund, um dann eher selten ein Röntgenbild anzuschießen. Einige jüngere Kollegen verordnen schon bei Husten gleich ein Thorax-CT.

    Seit 2019 kann Google mit künstlicher Intelligenz, die mit genetischen Daten gefüttert ist, die Struktur von Proteinen deutlich besser modellieren als alle Wissenschaftler.[2] Gentherapie kann eine Form der Erblindung aufhalten. Im Labor gezüchtete Immunzellen bekämpfen Tumoren. Von künstlicher Intelligenz unterstützte Systeme diagnostizieren Hautkrebs, prognostizieren Nierenversagen und entdecken Herzprobleme früher als Ärzte. Im Blut lässt sich der Fortschritt von Krebs früher feststellen als durch andere körperliche Anzeichen. Entdecken die neuen Verfahren nur 20 Prozent aller Tumoren so früh, dass sie behandelt werden können, hätte dies einen größeren Effekt als viele Therapien, die später zum Einsatz kommen. Besonders wichtig sei es, sagen die Onkologen, falsch positive Krebsdiagnosen zu vermeiden: Wir sollten keinen Krebs diagnostizieren, der gar keiner ist.

    Biologie und digitale Technik wachsen zusammen. Es entsteht eine Datenmedizin, die von künstlicher Intelligenz angetrieben wird und die Nutznießer von Daten auf den Plan ruft.

    Die Gesundheitskarte, die unser derzeitiger Gesundheitsminister anstrebt, soll alle relevanten Daten eines Menschen enthalten, damit sie von den behandelnden Ärzten gelesen werden kann. Das Problem: Die Karte wird auch von Hackern gelesen. Das gilt besonders bei Arztpraxen, deren EDV-System nicht abgesichert ist gegen Eindringlinge. Absolut sicher wirkt auch hier das Murphy´sche Gesetz: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, wird es auch geschehen. Der Gesundheitskarten-Patient ist nicht nur für wohlmeinende Ärzte gläsern. Auch die Wirtschaft, die PR-Strategen, die Versicherungen, die Arbeitgeber werden ihre Vorteile aus dem Wissen ziehen, das sie sich auf mehr oder weniger verborgenen Wegen besorgen. Und die Folgen werden ganz sicher nicht nur gut sein für die betroffenen Patienten.

    Wenn wir schon bei der Bürokratie sind: Ich erinnere mich daran, dass ich als Schüler immer wieder mit meinem Vater zur Kassenärztlichen Vereinigung fahren durfte, wenn er einen Schuhkarton mit Kassenscheinen am Quartalende abgeben wollte. Inzwischen ist die Abrechnung mit dem PC zur Pflicht geworden. Das hat so manchen Arzt dazu veranlasst oder ihm zumindest die Entscheidung erleichtert, seine Praxis zu verkaufen oder zu schließen, da er dieses „neue Zeug“ nicht mitmachen wollte. Als ich ein paar Jahre lang schon meine Praxis hatte, entschloss ich mich, neben den Karteikarten auch einen PC für die Abrechnung zu benützen. Das war ein richtiges Problem, denn obwohl ich professionelle Hilfe hatte, klappte es mit dem ersten System nicht. Erst das zweite funktionierte. Jetzt rechnen wir bequem im PC ab und schicken die Daten online an die KV. Das Geld bekommen wir auch nicht schneller als früher, aber wir werden viel gründlicher kontrolliert, ob wir irgendwelche Durchschnitte überschreiten, die einen Regress rechtfertigen.

    Im Krankenhaus werden die Fallpauschalen nachgerechnet und optimiert, die bei der Behandlung der Krankheiten von den Kassen vergütet oder mit Abzug oder Zuschlag belegt werden. Immer mehr entscheiden Verwaltungsleute über die Umstände, die zur Entlassung führen. Die Fallpauschale ist ein verheerendes Mittel, um die Menschen, die in der Medizin für die kranken Menschen arbeiten, vom Patienten weg zu führen und sich auf den materiellen Gewinn zu konzentrieren. Für die Verwaltungsleute ist nur der ein guter Arzt, der den Gewinn des Krankenhauses steigert. Die Zuwendung zu einem Patienten wird systematisch verringert, weil die Ärzte, das Pflege- und Therapiepersonal sonst mit der vorgeschriebenen Dokumentation nicht zurechtkommen. Der Begriff der „blutigen Entlassung“ und die zunehmende Zahl der Überlastungen beim Personal sind schlimme Zeichen für unmenschliche und fehlgeleitete Verwaltungsmedizin. Die Fallpauschalen sollten unbedingt zugunsten einer patientenzentrierten und zuwendungsorientierten Versorgung abgeschafft werden. Es ärgert mich heute noch, wie viele ellenlange Briefe ich in der Rehaklinik diktieren musste, weil die Rentenversicherung verlangte, viele Einzelheiten mehrfach an verschiedenen Stellen im Brief zu wiederholen. Ich empfinde das als erzwungene Verschwendung von wertvoller Zeit, die wir besser dem Patienten zugutekommen lassen sollten. Ich warte jetzt darauf, dass wir bald einen „Facharzt für Verwaltung“ bekommen.

    Die Technik ist fabelhaft fortgeschritten. Aber die menschliche Seite, die Zuwendung, das qualifizierte und professionelle Gespräch kommen immer mehr zu kurz. Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten ist konstant viel zu klein. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es extrem schwierig wenn nicht unmöglich ist, für Kriseninterventionen rasch einen Therapieplatz zu bekommen. Und chronisch kranke Psychiatriepatienten könnten viel besser geführt und behandelt werden, wenn mehr Ärzte mehr Zeit hätten, um Therapiegespräche in kürzeren Abständen anzubieten, um eine bessere Beziehung entwickeln und aufrecht erhalten zu können.

    Die moderne Medizin hat genau so große Schattenseiten, wie sie Licht verströmt. Das sollten wir uns sehr bewusst machen.


    [1] Wenn das Licht naht- Der würdige Umgang mit schwerkranken, genesenden und sterbenden Menschen, Verlag Weinmann, Filderstadt.
    [2] SPIEGEL Nr. 1 vom 28.12.2019, S. 57

  • Schon als Schüler erlebte ich regelmäßig in der Kinderarztpraxis meines Vaters Grundlagen der Behandlung. Die Höhensonne sollte die Aufnahme von Vitamin D fördern, das die Kinder – auch meine Schwester und ich!- als scheußlichen Lebertran essen mussten. Wunden nähte mein Vater mit sterilen Fäden, die er in kleinen Fläschchen aufbewahrte. Ich durfte sogar manchmal den Faden abschneiden. Jeder Faden musste einzeln in die Klemmhaltung der Nadel eingefädelt werden. – Die Nadeln bewahrte Vater in einer Dose auf, die mit dem Nadelhalter zusammen sterilisiert wurde. Erst Jahre später kamen die einzeln verpackten atraumatischen Nadeln mit dem angehängten Faden auf. Noch viele Jahre wurde das Besteck sterilisiert. Inzwischen verwenden wir in der Notfallpraxis Skalpelle, Pinzetten, Scheren, Injektionsnadeln, Spritzen und andere Instrumente als Einmalware und produzieren einen gigantischen Müllberg.

    Als junger Student habe ich im Katharinenhospital Frankfurt ein Praktikum gemacht. Dort bestand eine meiner Aufgaben darin, den Nonnen bei der Wiederaufbereitung des Verbandsmaterials zu helfen: Die Binden wurden gewaschen, zum Trocknen aufgehängt, dann gebügelt und neu aufgerollt. Heute schneiden wir selbstverständlich einen Verband auf, werfen das Material weg und holen neue Ware aus dem Regal. Sogar die Pinzetten, Scheren und Skalpelle sind Einmalmaterial und dementsprechend minderwertig. Das Einmalbesteck soll den Aufwand des Sterilisierens mit den sehr aufwändigen Hygienevorschriften ersparen.

    Es war in meiner Kindheit etwas Besonders, bei einer Entzündung ein Antibiotikum zu erhalten. Mein Vater erklärte mir das, als ich mit neun Jahren eine Osteomyelitis am Bein hatte, die operiert werden musste. Es gab damals, wenn ich mich recht erinnere, Penicillin und ein Sulfonamid. Sie wurden als große Neuerung gefeiert, und ich nahm meine Tabletten mit großem Respekt. Von den Resistenzen, die uns heute Sorgen machen, war damals nur wenig bekannt. In Europa sterben heute jährlich 33.000 Menschen an resistenten Keimen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Krankhausaufenthalt einen solchen Keim einzufangen, ist relativ hoch.

    Tetanus schilderte mein Vater noch als große Gefahr. Damals gab es noch Impfstoffe aus Tierseren, die schwere allergische Reaktionen hervorrufen konnten. Deshalb musste man immer genau dokumentierten, von welchem Tier die letzte Impfung war. – Vater erzählte diese Geschichte: Als er im Studium eine Famulatur bei einem Landarzt machte, wurde dessen Sohn verletzt und sollte nach der Wundversorgung eine Tetanusschutzimpfung erhalten. Um auch wirklich alles richtig  zu machen, bat der erfahrene Landarzt einen befreundeten Chirurgie-Chefarzt um Rat: „Welches Serum soll ich spritzen?“ – Die Antwort: „Mach es genauso, wie du es bei irgend einem Patienten machen würdest.“ – Der Arzt spritzte das Serum. Wenige Minuten später erlitt der Junge einen anaphylaktischen Schock und starb unter den Händen seines Vaters. – Diese Geschichte fällt mir oft ein, wenn ich heute eine Tetanusimpfung verabreiche. Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Arzt in 48 Jahren nie einen Fall von Wundstarrkrampf erlebt.

    Ich erinnere mich auch an eine Chloroform-Maskennarkose, als der HNO-Arzt meine Nasen-scheidewand gerade stellte, nachdem ein Klassenkamerad sie mir versehentlich bei einem Sportunfall gebrochen hatte. – Inzwischen ist es selbstverständlich, dass ein Notarzt einen schwer verletzten noch am Unfallort zum Schutz intubiert und narkotisiert.

    Als Schüler las ich, dass es ganz neu Kortison gibt als vorübergehendes Linderungsmittel bei Leukämie. Dinu Lipatti, einer der ganz großen Pianisten, dessen wunderbare Aufnahmen ich damals kennen lernte, konnte eine Zeitlang mit Kortison am Leben gehalten werden. Kollegen wie Yehudi Menuhin bezahlten die extrem teure Therapie. Das war schon eine Erfolgsnachricht. Erst im Studium lernte ich die neuesten Chemotherapien mit den oft heftigen Nebenwirkungen und häufigen Rückfällen. Und zu Beginn meiner Praxiszeit kamen die ersten Stammzelltransplantationen auf, die den Umbau ganzer Stationen in den Krankenhäusern nötig machten. Ich erinnere mich gut an einen Patienten am Anfang meiner Niederlassung 1982, den ich zu einer Schul- und Studienkameradin nach Stuttgart schickte, die dort als Chefärztin gerade eine Hämatologisch-Onkologische Abteilung aufbaute und in Stuttgart die Stammzelltransplantation einführte. Heute werden sogar noch bei über Siebzigjährigen Stammzelltransplantationen erfolgreich vorgenommen. Das war damals undenkbar.

    Als ich von 1974-1979 meine Kinderfacharzt-Weiterbildung absolvierte, kam eines Tages mein zuständiger Oberarzt von dem Besuch des Internationalen Kinderärztekongresse aus Rochester / USA zurück und berichtete ganz begeistert: „Stellen Sie sich vor, die haben da ein Röntgengerät entwickelt, das legt den Kopf oder andere Organe in Bildscheiben, man kann sie einzeln anschauen und so im ganzen Körper Tumore, Blutungen, Frakturen und Missbildungen erkennen. Durch eine digitale Dichtemessung können Sie genau erkennen, welches Material (Blut oder Knochen oder Liquor) das ist. Solch ein Gerät müssen wir unbedingt nach Stuttgart bekommen – ein einziges Gerät für ganz Stuttgart! Das wäre fantastisch!“  – Heute hat jede Röntgenpraxis und jede Klinik Computertomografen und Kernspintomografen, und große Kliniken verwenden Positronenemissionstomografen zur Diagnostik und ein Gamma-Knife, das auf den Millimeter genau scharf abgegrenzte Tumore zerstört.

    Noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts galt es als Kunstfehler, am Gehirn zu operieren. Inzwischen ist die Neurochirurgie eine international etablierte und weit fortgeschrittene operative Disziplin. Während meiner Jahre in der Neurologie habe ich wahre Kunsteingriffe gesehen mit verblüffenden und segensreichen Erfolgen. Und ich kenne viele Menschen, die am Leben gehalten wurden durch moderne medizinische Methoden, aber jetzt im Wachkoma liegen und schwerst pflegebedürftig sind. Früher wären sie gestorben, als es noch keine Therapie gab.

    Die neuen Disziplinen der invasiven Radiologie und der minimalinvasiven Chirurgie ermöglichen inzwischen die zielgenaue Ausschaltung kleinster Aneurysmen von Hirngefäßen oder Entfernung von Hirngefäßthrombosen und die millimetergenaue Zerstörung eines Tumors. Die „Knopflochchirurgie“ und Arthroskopie sind ein selbstverständlicher Bestandteile der modernen Chirurgie.

    Als Allgemeinarzt erlebte ich in der Hausarztpraxis die Vielzahl der Erkrankungen, die psychosomatischen Auswirkungen sozialer Konflikte und die Freude, wenn meine Therapievorschläge geholfen haben. Nachdem ich meine Praxis verkauft hatte, um eine Privatpraxis zu führen, war ich ein Jahr später als Urlaubsvertreter gerade eine Woche in meiner früheren Praxis tätig, als mein Nachfolger plötzlich schwer krank wurde und ein neues Herz brauchte. Ich führte auf Bitten seiner Frau dann zwei Jahre lang seine Praxis neben meiner eigenen Praxis, bis er wieder zurückkam. Anschließend arbeitete ich zehn Jahre lang als Geschäftsführer einer Firma für Sozialimmobilien und entwarf unter anderem Deutschlands größte Mutter-Kind-Klinik. Ich begleitete den Bau und leitete die Klinik anschließend. Bis zum Beginn meiner Rente war ich dann zehn Jahre in der neurologischen Akutmedizin und Rehaklinik tätig.

    Obwohl es seit Menschengedenken eine vornehme Pflicht der Ärzte ist, Schwerstkranken und Sterbenden beizustehen, wurde erst 1969 von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders das erste Hospiz im St. Christopher´s Hospital in London eröffnet. Sie begründete die moderne Palliativmedizin und den weltweiten Bau von Hospizen. Das ist eine der herausragenden Errungenschaften der Menschlichkeit. Dankenswerterweise haben sich auch die deutschen Krankenkassen inzwischen entschlossen, diese Form der Medizin und Pflege finanziell zu unterstützen.

    Die Palliativmedizin ist mir seit meiner Assistentenzeit auf der Kinderkrebsstation ein Hauptanliegen in meiner ärztlichen Arbeit. Deshalb habe ich auch rasch die Gelegenheit ergriffen, die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin zu erwerben, als diese in die Weiterbildungsordnung eingeführt wurde. Und es war mir wichtig, ein Buch[1] über meine Erfahrungen im Umgang mit schwerst kranken, sterbenden und genesenden Menschen zu schreiben. Glücklicherweise trug Birgit viele gute Gedanken und das Titelbild bei.

    Da ich seit meinem 65. Geburtstag regelmäßig in den Notfallpraxen Leonberg und Stuttgart arbeite, schließt sich der Kreis für mich. Ich bin wieder in meinem ursprünglichen Gebiet als Hausarzt tätig und freue mich, wenn ich Patienten treffe, die ich schon in der Kinderklinik oder in meiner Praxis behandelt habe. Wir werden miteinander alt. Und ich finde meinen Beruf immer noch spannend und sehr befriedigend.

    Jetzt verfolge ich die Fortschritte der Technik in der Medizin eher aus einer Beobachterrolle, wenn auch sehr interessiert.

    Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat natürlich auch in der Medizin Einzug gehalten. Früher habe ich das EKG selbst beurteilt, heute nimmt der PC mir diese Leistung ab. – Aber ich bin dankbar, dass ich gelernt habe, ein EKG zu lesen, denn der PC macht auch immer wieder Fehler! – Diese Technik verführt zu Abhängigkeit und geringer persönlicher Untersuchung. Ich diagnostiziere meist eine Pneumonie immer noch mit Anamnese und Auskultationsbefund, um dann eher selten ein Röntgenbild anzuschießen. Einige jüngere Kollegen verordnen schon bei Husten gleich ein Thorax-CT.

    Seit 2019 kann Google mit künstlicher Intelligenz, die mit genetischen Daten gefüttert ist, die Struktur von Proteinen deutlich besser modellieren als alle Wissenschaftler.[2] Gentherapie kann eine Form der Erblindung aufhalten. Im Labor gezüchtete Immunzellen bekämpfen Tumoren. Von künstlicher Intelligenz unterstützte Systeme diagnostizieren Hautkrebs, prognostizieren Nierenversagen und entdecken Herzprobleme früher als Ärzte. Im Blut lässt sich der Fortschritt von Krebs früher feststellen als durch andere körperliche Anzeichen. Entdecken die neuen Verfahren nur 20 Prozent aller Tumoren so früh, dass sie behandelt werden können, hätte dies einen größeren Effekt als viele Therapien, die später zum Einsatz kommen. Besonders wichtig sei es, sagen die Onkologen, falsch positive Krebsdiagnosen zu vermeiden: Wir sollten keinen Krebs diagnostizieren, der gar keiner ist.

    Biologie und digitale Technik wachsen zusammen. Es entsteht eine Datenmedizin, die von künstlicher Intelligenz angetrieben wird und die Nutznießer von Daten auf den Plan ruft.

    Die Gesundheitskarte, die unser derzeitiger Gesundheitsminister anstrebt, soll alle relevanten Daten eines Menschen enthalten, damit sie von den behandelnden Ärzten gelesen werden kann. Das Problem: Die Karte wird auch von Hackern gelesen. Das gilt besonders bei Arztpraxen, deren EDV-System nicht abgesichert ist gegen Eindringlinge. Absolut sicher wirkt auch hier das Murphy´sche Gesetz: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, wird es auch geschehen. Der Gesundheitskarten-Patient ist nicht nur für wohlmeinende Ärzte gläsern. Auch die Wirtschaft, die PR-Strategen, die Versicherungen, die Arbeitgeber werden ihre Vorteile aus dem Wissen ziehen, das sie sich auf mehr oder weniger verborgenen Wegen besorgen. Und die Folgen werden ganz sicher nicht nur gut sein für die betroffenen Patienten.

    Wenn wir schon bei der Bürokratie sind: Ich erinnere mich daran, dass ich als Schüler immer wieder mit meinem Vater zur Kassenärztlichen Vereinigung fahren durfte, wenn er einen Schuhkarton mit Kassenscheinen am Quartalende abgeben wollte. Inzwischen ist die Abrechnung mit dem PC zur Pflicht geworden. Das hat so manchen Arzt dazu veranlasst oder ihm zumindest die Entscheidung erleichtert, seine Praxis zu verkaufen oder zu schließen, da er dieses „neue Zeug“ nicht mitmachen wollte. Als ich ein paar Jahre lang schon meine Praxis hatte, entschloss ich mich, neben den Karteikarten auch einen PC für die Abrechnung zu benützen. Das war ein richtiges Problem, denn obwohl ich professionelle Hilfe hatte, klappte es mit dem ersten System nicht. Erst das zweite funktionierte. Jetzt rechnen wir bequem im PC ab und schicken die Daten online an die KV. Das Geld bekommen wir auch nicht schneller als früher, aber wir werden viel gründlicher kontrolliert, ob wir irgendwelche Durchschnitte überschreiten, die einen Regress rechtfertigen.

    Im Krankenhaus werden die Fallpauschalen nachgerechnet und optimiert, die bei der Behandlung der Krankheiten von den Kassen vergütet oder mit Abzug oder Zuschlag belegt werden. Immer mehr entscheiden Verwaltungsleute über die Umstände, die zur Entlassung führen. Die Fallpauschale ist ein verheerendes Mittel, um die Menschen, die in der Medizin für die kranken Menschen arbeiten, vom Patienten weg zu führen und sich auf den materiellen Gewinn zu konzentrieren. Für die Verwaltungsleute ist nur der ein guter Arzt, der den Gewinn des Krankenhauses steigert. Die Zuwendung zu einem Patienten wird systematisch verringert, weil die Ärzte, das Pflege- und Therapiepersonal sonst mit der vorgeschriebenen Dokumentation nicht zurechtkommen. Der Begriff der „blutigen Entlassung“ und die zunehmende Zahl der Überlastungen beim Personal sind schlimme Zeichen für unmenschliche und fehlgeleitete Verwaltungsmedizin. Die Fallpauschalen sollten unbedingt zugunsten einer patientenzentrierten und zuwendungsorientierten Versorgung abgeschafft werden. Es ärgert mich heute noch, wie viele ellenlange Briefe ich in der Rehaklinik diktieren musste, weil die Rentenversicherung verlangte, viele Einzelheiten mehrfach an verschiedenen Stellen im Brief zu wiederholen. Ich empfinde das als erzwungene Verschwendung von wertvoller Zeit, die wir besser dem Patienten zugutekommen lassen sollten. Ich warte jetzt darauf, dass wir bald einen „Facharzt für Verwaltung“ bekommen.

    Die Technik ist fabelhaft fortgeschritten. Aber die menschliche Seite, die Zuwendung, das qualifizierte und professionelle Gespräch kommen immer mehr zu kurz. Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten ist konstant viel zu klein. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es extrem schwierig wenn nicht unmöglich ist, für Kriseninterventionen rasch einen Therapieplatz zu bekommen. Und chronisch kranke Psychiatriepatienten könnten viel besser geführt und behandelt werden, wenn mehr Ärzte mehr Zeit hätten, um Therapiegespräche in kürzeren Abständen anzubieten, um eine bessere Beziehung entwickeln und aufrecht erhalten zu können.

    Die moderne Medizin hat genau so große Schattenseiten, wie sie Licht verströmt. Das sollten wir uns sehr bewusst machen.


    [1] Wenn das Licht naht- Der würdige Umgang mit schwerkranken, genesenden und sterbenden Menschen,
       Verlag Weinmann, Filderstadt.

    [2] SPIEGEL Nr. 1 vom 28.12.2019, S. 57

  • Viele Menschen versuchen, ihr eigenes mangelndes Selbstwertgefühl zu verbessern, indem sie ihre Mitmenschen hetzen, demütigen, beleidigen, als minderwertig darstellen oder in irgendeiner anderen Weise herabsetzen. Es ist ja sehr einfach, am Anderen Fehler zu entdecken und zu kritisieren. Dass wir diese nur entdecken können, weil wir sie in der Anlage selbst auch besitzen, wird meist großzügig übersehen. Die Logik dahinter ist einfach: Wenn der Andere meiner Meinung nach weniger wert ist als ich, bin ich „sozial mehr wert“. Der scheinbare Vorteil dieser Verhaltensweise besteht darin, dass ich nicht an mir arbeiten muss, um meinen gesellschaftlichen Wert und mein soziales Ansehen zu verbessern. Der Andere muss etwas tun und besser werden! Und wenn er etwas verbessert, werde ich ihn kleinhalten und weiter niedermachen, um den Abstand zwischen uns nicht kleiner werden zu lassen. Deshalb werden Friedensaktivisten auch so oft Opfer von hoch aggressiven Mitmenschen.

    Die gegensätzliche Sichtweise besteht darin, an sich selbst zu arbeiten und sich zu verbessern. Dann kann ich den Anderen als Hilfe sehen, in dessen Spiegel ich meine Unzulänglichkeiten sehe. Das ist eine therapeutische Begegnung, die mir helfen kann, meine eigene Entwicklung zu verbessern.

    Die erste Lebenseinstellung ist die einfachere und vordergründig und besonders in der Menschenmasse wirkungsvoller. Sie beflügelt die Populisten und sichert ihnen ein zahlreiches Publikum und Wahlvolk, das jemanden gefunden hat, der so ist wie sie selbst (sein wollen) und „es den Andern mal richtig zeigt“![1]

    Die zweite Lebenseinstellung ist schwieriger, bringt aber zuverlässig charakterliches Wachstum und echtes Ansehen in der Gemeinschaft.

    Wenn wir die politische Landschaft von der Familienebene bis zur Weltpolitik überschauen, finden wir überall Beispiele für beide Lebensweisen. Die Abwertung, Verfolgung, Bestrafung, Ablehnung Andersdenkender zählt zum täglichen Geschäft der Populisten, die dem breiten Volk das Blaue vom Himmel herunter versprechen und die einfachsten menschlichen Instinkte bedienen, um unterstützt und wiedergewählt zu werden. Angeblich wollen sie dem Volk dienen, in Wirklichkeit dienen sie ihrem eigenen Ego und Geldbeutel. Dazu sind ihnen (fast?) alle Mittel erlaubt, die sie selbstverständlich dem Gegner mit Macht verwehren und bei ihm anprangern, wenn er sie auch nützt.

    Ein besonders fieses und nicht sofort im Detail durchschaubares Beispiel dieses scheinbar seriösen politischen Denkens habe ich neulich kennengelernt.

    Ich wurde auf dieses Video aufmerksam gemacht:

    https://www.youtube.com/watch?v=8eO_HNs_BwQ&feature=share

    Hier hält Stefan Magnet einen kurzen Vortrag darüber, dass ein italienisches Gericht einem Mörder mit dem sogenannten Killergen geringere Strafen auferlegt hat als Mördern, die dieses Gen nicht in sich tragen. Magnet bringt einige drastische Beispiele von grausamen Verbrechen und vergleichsweise abgemilderten Strafen, weil bei den Tätern dieses Killergen nachgewiesen werden konnte. 2009 zum Beispiel erhielt ein verurteilter Mörder im Berufungsverfahren eine um ein Jahr reduzierte Haftstrafe, weil bei ihm die weniger aktive Variante dieses Killergens nachgewiesen wurde.

    Der Zuhörer wird automatisch emotional aufgeladen, und die Forderung „Gleiche Strafen für gleiche Taten!“ springt sofort im Zuschauer an. Magnet spielt virtuos und beredt mit diesem Gefühl, das –wenn der kritische Kopf nicht eingeschaltet wird-, genauso rasch harte Strafen für die gengeschädigten Menschen fordert wie für einen „normalen“ Mörder. Die Darstellung von Magnet legt nahe, dass die Träger dieses Gens gemeingefährlich sind. Wie das Wort sagt, scheinen alle Träger dieses veränderten Gens Mörder zu sein oder zu werden.

    Aber: War da nicht mal etwas in der deutschen Vergangenheit mit sogenanntem lebensunwertem Leben? Mit Menschen, die Erbkrankheiten hatten, vermindert intelligent oder missgebildet waren oder gar zu einer fremden Religion gehörten? Was hat der größte Populist aller Zeiten und Führer der „Herrenrasse“ mit diesen gemacht? – Ersparen Sie mir Details. Jetzt merken Sie, worauf ich raus will.

    Deshalb habe ich über dieses Killergen recherchiert. Dabei war meine erste Entdeckung, dass es in der wissenschaftlichen Literatur Warrior-Gen, also Kriegergenheißt. Aber Killergen klingt schlimmer, absolut verdammenswert und ist deshalb in einer Rede mit Magnets Ziel viel wirkungsvoller! Populisten bedienen sich typischerweise einer einfachen und suggestiven Sprache!

    Tatsächlich gibt es ein Enzym, das Monoaminooyxidase A (abgekürzt MAOA) heißt und den Abbau der wichtigen Botenstoffe Dopamin und Serotonin im Nervensystem steuert.[2] Das Gen, das die Bildung von MAOA kodiert, ist auf dem kurzen Arm des X-Chromosoms lokalisiert. Wenn der Körper eine weniger aktive Variante des Gens hat, kann die gesteigerte Menge von Dopamin die Aktivität einiger Hirnareale und damit auch Aggression fördern. Dies geschieht aber nicht zwangsläufig, sondern nur, wenn Umweltfaktoren wie Traumatisierung, Frustration oder Provokation die Verhaltensveränderung begünstigen.[3] Missbrauch im Kindesalter, eine der schwersten Traumatisierungen, ist in den meisten Fällen von MAOA-Mangel mit kriminellem oder besonders aggressivem Verhalten nachgewiesen worden und wird als stark begünstigender Faktor für spätere Agressionen gesehen.

    Auch in Ruhe konnte bei Menschen mit inaktiver MAOA-Genvariante in MRT-Serienuntersuchungen eine geringere Aktivität in verschiedenen Arealen nachgewiesen werden, die für kognitive Kontrolle, Aufmerksamkeit und Steuerungsfunktionen wie Planen, Denken und Problemlösen verantwortlich sind. Das zeigt, dass die Wirkung des geschädigten Gens schon in Ruhe und ohne äußere Einflüsse nachweisbar ist. Ob daraus eine spezifische Therapie der Betroffenen abgeleitet und entwickelt werden kann, ist zurzeit noch Gegenstand der Forschung.

    Magnet sagt, dass nur 0,1-0,5 % der Deutschen die verminderte Genvariante von MAOA tragen, die Araber aber mit 15,6 % der Bevölkerung betroffen sind. Was schließt der unkritische deutsche Zuhörer daraus?  Er denkt: „Wir sind die Guten, und die Araber sind die Bösen!“ Ist das nicht eine Steilvorlage für einen angeblich wissenschaftlich begründeten Ausländerhass und eine fremdenfeindliche Politik? Und schon steht an der nächsten Wand eines Migrantenwohnheims: „Ausländer raus!“

    Wenn man aber die wissenschaftlichen Zahlen liest, sieht es ganz anders aus: Dr. Benjamin Clemens von der Universitätsklinik für Psychiatrie in Aachen schreibt[4], dass etwa 40 %(!) der westeuropäischen Bevölkerung diese vermindert aktive MAOA-Genvariante in sich tragen. Jetzt möchte ich Herrn Magnet fragen, ob wir mit diesem Wissen und seiner Logik die Araber und Türken, die zu uns kommen wollen, vor den Europäern warnen(!) müssen, weil nach Magnets Darstellung (fast) alle Träger dieses Gens aggressiv und potenzielle Mörder sind oder werden.

    Der niederländische Genetiker Han Brunner von der Universität Nijmwegen entdeckte 1993 eine besonders schwerwiegende Variante des MAOA-Gens bei einer Familie, deren männliche Mitglieder alle durch ihr aggressives Verhalten und ihren Hang zur Kriminalität auffielen. Es wurde von ihnen kein MAOA mehr produziert. Diese Erbkrankheit heißt heute Brunner-Syndrom. Die Betroffenen sind alle Männer, zeigen oft verminderte Intelligenz und einen starken Hang zur Impulsivität, gesteigertes sexuelles Verlangen, extreme Stimmungsschwankungen und den Hang zu Gewalttätigkeit. Es gibt aber auch noch weitere Mutationsformen dieses Gens, die weniger eindeutige Auswirkungen haben.

    Nehmen wir drei einfache Beispiele aus dem Alltag zur Anschaulichkeit: Ein Schizophrenie-Kranker denkt in einem psychotischen Schub mit Verfolgungswahn, dass sein Arzt ihn umbringen will und ersticht ihn „in Notwehr!“ –  Ein anderer Mann hat einen Hass auf den Liebhaber seiner Frau, plant minutiös dessen Mord und tötet ihn kaltblütig. – Der nächste Täter hat das Brunner-Syndrom und rastet aus, als ein Stammtischbruder ihm widerspricht und ermordet diesen im Affekt. – Nach Magnets Logik verdienen alle die gleich hohe Strafe!

    Mal zynisch weitergedacht: Tot ist tot, egal wie der Mensch zu Tode kam. Dann brauchen wir auch keine Unterschiede zu machen zwischen fahrlässiger Tötung, Körperverletzung mit Todesfolge, kaltblütig kalkuliertem und verübtem Mord oder Tötung durch einen geisteskranken oder gengeschädigten Menschen. Dann erhalten alle Täter dieselbe Strafe, weil alle „über einen Kamm geschoren“ werden. Das wäre eine radikale Vereinfachung unserer Justiz und würde viel Geld sparen.

    Ich denke, sie verdienen individuelle Gerichtsprozesse mit Überprüfung der jeweiligen Sachlagen, Motivationen, Hintergründe und Schuldfähigkeit und ein individuelles Urteil im Rahmen unserer Strafgesetzgebung. Das ist mühsam, zeitaufwändig, teuer und oft eine schwere Belastung für alle Beteiligten. Aber es ist ein Versuch, jedem Menschen, der straffällig geworden ist, gerecht zu werden.

    Was sollen wir mit Menschen machen, die gen-verändert sind und vielleicht gefährlich werden? Die populistische Antwort ist einfach: „Gen-veränderte Menschen, die gemeingefährlich sind, müssen aus dem Verkehr gezogen werden.“ Dieses wörtliche Zitat bekam ich als Antwort, als ich den Entwurf dieses Artikels einer Bekannten geschickt hatte!

    Wenn wir aber wissen, dass etwa 40% der Europäer, also fast die Hälfte!!, das vermindert aktive MAOA-Gen haben und vielleicht gefährlich werden, was sollen wir dann mit unserer Bevölkerung machen? Und wir wissen aus der täglichen Erfahrung,. Dass bei Weitem nicht 40% der europäischen Bevölkerung aggressiv und gewalttätig sind.

    Sollen wir etwa eine Pflicht einführen, dass jeder Mensch auf die Aktivität seines MAOA-Gens untersucht wird, damit wir ihn dann –wie auch immer – „aus dem Verkehr ziehen“ können, wenn es eine zu geringe Aktivität ausweist? – Ich hoffe, Sie spüren meine tiefe Ablehnung hinter dieser absurden und zynischen Frage! – Als ich diesen Satz über das „Aus-dem-Verkehr-Ziehen“ gelesen habe, erschienen die Bilder von Gaskammern, Konzentrationslagern und Massenerschießungen vor meinem inneren Auge.

    Ich will dieser Bekannten wirklich nicht unterschieben, sie plane diese Form des „Aus-dem-Verkehr-Ziehens“, aber wie sollen wir denn die potenziell Gemeingefährlichen entdecken, und wie sollen sie konkret behandelt werden? Gefängnis allein, „Wegsperren“ ist keine taugliche Antwort. Aber ein Verhalten, das eine zivilisierte und kultivierte Bevölkerung auszeichnet, sollten wir schon anstreben bzw. weiterentwickeln. Die therapeutischen Möglichkeiten müssen weiter entwickelt werden. Sicherheitsverwahrung ist nur in Ausnahmefällen sinnvoll. Und eine pauschale Verurteilung von irgendwelchen „verdächtigen Genträgern“ lehne ich rundweg ab.

    Noch etwas als Nachwort:

    Ich habe mal geschaut, wer Herr Stefan Magnet ist.[5] Er ist Werbetexter und war Führungskader der bis 2007 in Österreich aktiven Neonazigruppe „Bund freier Jugend“. Dort war Stefan Haider einer seiner Stellvertreter. Von Stefan Magnet gibt es Videos über seine politische Meinung auf Youtube, die ich nicht angeschaut habe, weil mir das oben besprochene schon gereicht hat. Ich möchte, wenn möglich, gern ausgewogene Informationen haben, auch mit dem „Risiko“, dass ich sorgfältiger darüber nachdenken muss.


    [1] Meine Prognose: Aus genau diesem Grund wird Donald Trump eine zweite Amtsperiode erhalten!

    [2] Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Oxytocin und Phenethylamin (PEA) und Endorphin gehören zu den sogenannten Glückshormonen.

    [3] Zusammenfassung von MAOA-Gen und Aggression sichtbar gemacht, siehe https://www.medmix.at/welchen-einfluss-haben-aggression-gene-wirklich/

    [4] https://www.medmix.at/welchen-einfluss-haben-aggression-gene-wirklich/

    [5] https://rfjwatch.wordpress.com/2013/05/27/ehemaliger-neonazi-kader-als-werbefachmann-haimbuchners/

  • Es ist hilfreich, einen Kompass zu nutzen, wenn wir unseren Weg suchen. Das setzt voraus, dass wir unser Ziel kennen und den Kompass richtig benützen. Dies gilt im übertragenen Sinn auch für die Orientierung in geistiger und sozialer Richtung.

    Meine Geschichte zeigt, was geschieht, wenn jemand einen defekten Kompass nutzt und ihn für voll funktionsfähig hält.

    Schon gleich zu Beginn der Abendsprechstunde um 18 h in der Notfallpraxis lag eine Anforderung von der DRK-Leitstelle vor, einen Hausbesuch zu machen bei einem Mann, der einen suprapubischen Blasenkatheter und Fieber habe. Der Patient war uns bekannt, weil er schon einmal mit Urosepsis stationär eingewiesen werden musste. Da ich der einzige Arzt in der Sprechstunde war, musste ich diese bis 22 Uhr abhalten. Deshalb hat ich den Praxishelfer, bei dem Patienten anzurufen, die Situation zu klären und unseren Besuch für kurz nach 22 Uhr zuzusagen. Die Ehefrau des Patienten klang alkoholisiert und machte den Besuch dringend, ihr Mann habe keine Schmerzen, und es gehe ihm gut, Fieber habe sie nicht gemessen, aber er habe wahrscheinlich Fieber, und wir sollten gleich kommen, sie könne nicht warten.  Wir vertrösteten sie, auch nachdem sie in den folgenden Stunden mehrfach sehr ungeduldig und verärgert den Besuch anmahnte. Aber da es ihrem Mann angeblich gut ging, sah ich keinen Grund, einen Notarztwagen zu ihm zu schicken.
    Als ich kurz nach 22 Uhr in die Wohnung des Patienten kam, lag der Mann im Bett und begrüßte mich freundlich, während im Nebenzimmer die alkoholisierte Ehefrau meine Fahrerin anschimpfte, weil wir so lange nicht gekommen seien. Sie müsse schließlich morgen früh wieder arbeiten und könne nicht so lange auf uns warten.
    Der Patient sagte, er habe seit morgens Fieber gehabt, aber nicht gemessen, weil er kein Thermometer habe. Er machte auf mich keinen kranken Eindruck. Mein Fieberthermo-meter zeigte jetzt bei ihm 37,5°C. Aus dem Blasenkatheter floss klarer Urin. Der Urin-teststreifen ergab keine Zeichen für einen Harnwegsinfekt. Herz und Lunge waren normal. Der Tastbefund des Bauches war unauffällig. Der Patient klagte keine Beschwerden.
    Ich sah keinen Grund für eine akute Therapie und fragte: „Haben Sie Ibuprofen da, falls Sie tatsächlich Fieber bekommen? Haben Sie ein Antibiotikum da?“ –
    „Nein, ich habe gar keine Medikamente da!“, meinte der Patient.
    Bei einem Blick auf ein Regal entdeckte ich Medikamentenschachteln, ging darauf zu und sagte: „Aber da haben Sie doch Ibuprofen!“
    Ich nahm die Schachtel, sah, dass sie fast voll war, da riss mir die Ehefrau die Schachtel aus der Hand und keifte: „Das sind meine Tabletten!“
    „Das ist prima,“, meinte ich, „da können Sie Ihrem Mann eine Tablette schenken, wenn er heute Nacht Fieber bekommt, und ich schreibe ihm jetzt ein Rezept, dann können Sie morgen für ihn die Tabletten holen.“
    „Nein, der bekommt meine Tabletten nicht! Die brauche ich manchmal!“
    Ihre Stimme wurde schärfer und lauter.
    Ich versuchte freundlich, sie umzustimmen:
    „Mir geht es doch nur darum, dass Sie in Ihrem Zustand jetzt nicht mehr Auto fahren sollten, um in der Nachtapotheke für Ihren Mann Tabletten zu holen!“
    „Nein, der bekommt meine Tabletten nicht!“ –
    Ich setzte mich hin und schrieb ein Rezept über Ibuprofen für den Mann und einen kurzen Informationsbrief für den Hausarzt.
    Eine weitere Diskussion erschien mir bei der angespannten Lage und dem nicht bedrohlichen Gesundheitszustand des Ehemannes nicht angebracht.
    Ich wandte mich zu ihm und sagte: „Also, da läuft gerade eine völlig bescheuerte Situation ab. Es wäre so einfach, Ihnen bei Bedarf heute Nacht die Tabletten zu geben, aber das sollten Sie besser allein mit Ihrer Frau abmachen. In dem Zustand kann sie jedenfalls nicht in die Apotheke nach M. fahren.“
    Ich verabschiedete mich freundlich bei dem Patienten und knapp bei der Frau und verließ das Haus.

    Im Auto dachte ich an meinen Vater, der einmal ein Ehepaar mit dem schwäbischen Satz beschrieben hat: „Er wär´ ja scho´ recht, aber sie isch a Aufgab´!“

  • Die Geschichte begann, als die Uhr stehen blieb. Allerdings ist es keine gewöhnliche Uhr. Nein, meine liebe Frau Birgit hat sie vor vielen Jahren geschenkt bekommen, und deshalb ist die kleine rechteckige Golduhr mit schlichter Eleganz ein wertvolles Erinnerungsstück. Auf dem schwarzen Zifferblatt steht der Name einer weltberühmten Modefirma.
    „Die Uhr braucht sicherlich eine neue Batterie“, meinte Birgit und brachte das Schmuckstück beim nächsten Bummel in Stuttgart zu einem namhaften Uhrenhändler.
    „So einfach ist das nicht!“, gab der Händler zu bedenken. „Diese Firma macht die Batteriewechsel selbst, wir bekommen keine Ersatzteile. Dafür müssen wir die Uhr einschicken. Und hier sehe ich noch einen kleinen Kratzer im Glas. – Ich lasse Ihnen einen Kostenvoranschlag machen. Dann melden wir uns in ein paar Tagen bei Ihnen.“
    „Was kostet denn so eine Batterie? Letztes Mal war die sehr teuer.“
    „Also mit etwa 200 Euro sollten Sie rechnen. Und dann müssen wir sehen, was die Firma noch alles reparieren will.“
    „Aber ich brauche doch nur eine neue Batterie!“
    Der Verkäufer beschwichtigte und vertröstete sie auf den Kostenvoranschlag. Als dieser per E-Mail bei uns eintraf, war ich zuerst einmal sprachlos.
    Da stand „Kompletter Service 305 €, Ersatz des Zifferblattes 219 €, Ersatz des Glases 58 €, zusammen 582 €.“ Optional wurde noch Ersatz des Zeigersets für 44 € und Ersatz der Krone für 35 € in Aussicht gestellt. Alles zusammen für schlappe 661 €. – Und von Batteriewechsel stand da nichts. Immerhin wurden wir informiert, dass die Reparatur etwa 40 Werktage in Anspruch nehmen würde. Der Verkäufer bestätigte uns, dass die Firma die Batterie nur wechselt, wenn die erwähnten Reparaturen auch beauftragt werden.
    „Das lasse ich nicht machen, das ist doch viel zu teuer!“, war Birgit entsetzt.
    Ich pflichtete ihr bei, meinte aber: „Wenn du die Uhr nicht reparieren lässt, liegt sie im Schrank, und dann hast du gar nichts davon, und eine Uhr, die nicht läuft, nur als Schmuckstück anzuziehen, ist auch doof.“
    Nach einigen Wochen Bedenkzeit versuchten wir es noch einmal beim selben Händler, allerdings bediente uns ein anderer Verkäufer.
    Birgit machte ihn auf die etwas lockere Schließe im Lederarmband aufmerksam.
    „Die Schließe funktioniert prima, aber kann man sie etwas straffer einstellen? Und was kostet die Batterie, die in dem Kostenvoranschlag gar nicht aufgeführt ist, obwohl wir gerade deshalb kamen?“
    Der Verkäufer antwortete routiniert: „Ich muss die Uhr einschicken und einen Kostenvoranschlag anfordern. Wir benachrichtigen Sie!“
    Ein paar Tage später kam der neue Kostenvoranschlag.
    Jetzt standen außer den bereits bekannten Reparaturen noch folgende Kosten auf dem Plan: „Ersatz der Faltschließe 350 €, Ersatz des Armbandes 200 €.“ Zusammen waren das 1.214 €, und der Batteriewechsel wurde wieder nicht erwähnt. Aber die angekündigte Reparaturzeit schrumpfte auf 10 Werktage. Die Verdoppelung des Rechnungsbetrags verkürzte die Bearbeitungszeit auf ein Viertel.
    Na, man gönnt sich ja sonst nichts! Ich überlegte mir, dass ich Birgit von diesem Geld locker für jeden Wochentag eine neue Extrauhr kaufen könnte.
    Ich schrieb eine E-Mail zurück: „Da Ihre Firma nicht bereit ist, den Reparaturauftrag ohne Ersetzen der Schließe zu erledigen, möchten wir keine Reparatur und schließen daraus, dass es Ihrer Firma in erster Linie um Erschließung der Geldquellen geht und nicht um die Erfüllung der Kundenwünsche.“
    Prompt kam die Nachricht, die Uhr liege zur Abholung bereit. Als Birgit die Uhr entgegennehmen wollte, beklagte sie sich bei dem Verkäufer über das kundenfeindliche Verhalten der Firma.  Er lächelte etwas gequält, zuckte mit der Schulter und sagte bedauernd: „Ich kann Sie gut verstehen, aber das ist in dieser Firma üblich, wir kennen die Beschwerden schon lang und können nichts dagegen machen. – Sie sehen hier einen kleinen Spalt am Uhrglas , durch den Feuchtigkeit eingedrungen ist. Sie dürfen diese Uhren nie im Badezimmer liegen lassen! Deshalb will die Firma auch das Zifferblatt ersetzen. Die Schließe, die Krone und das Zeigerset muss man nicht ersetzen.“
    „Aber offensichtlich funktioniert die Geschäftsidee mit den angeblich notwendigen Zwangsreparaturen sehr gut, die Leute zahlen das. Sonst würde die Firma das nicht so machen!“, entgegnete ich. „Außerdem wissen wir jetzt genau, von welcher Firma wir in Zukunft keine Produkte mehr kaufen.“
    Als wir den Laden verlassen hatten, begegneten wir einem Bekannten, der uns ein Uhrengeschäft ganz in der Nähe empfahl: „Die wechseln die Batterie!“
    In dem sehr gepflegt wirkenden Geschäft wurden wir freundlich empfangen. Birgit legte die Uhr auf den Tisch und sagte: „Ich glaube, die Uhr läuft nicht mehr, weil die Batterie leer ist. Können Sie das prüfen und eventuell eine neue Batterie einsetzen?“
    Die Verkäuferin schaute die Uhr mit einem prüfenden Blick an und griff zum Telefonhörer: „Wir brauchen jetzt einen Batteriewechsel!“, und dann zu uns gewandt: „Haben Sie ein bisschen Zeit? Wir machen das gleich.“
    „Das trifft sich gut“, sagte ich, „wir gehen jetzt zum Mittagessen und kommen anschließend wieder vorbei.“
    Die Geschichte endet jetzt, weil die Uhr wieder zuverlässig läuft. Nach einem Batteriewechsel für 20 Euro.

  • Im Grunde sind wir reich an Zeit; wir haben mehrere Arten davon.

    Da ist Chronos, die Zeit im absoluten Sinne, als Weltprinzip, lateinisch tempus. Das um 130 v. Chr. datierte römische Marmorrelief mit beigeschriebenen Namen zeigt Chronos als jugendlichen geflügelten Genius, in den Händen Buchrollen (Abb. 1). Neben ihm steht Oikoumene mit einer hohen Mauerkrone, die Personifikation der bewohnten Erde. Sie bekränzt den vor ihnen beiden thronenden Dichter Homer. Es ist zu vermuten, dass die beiden Schriftrollen auf die berühmtesten Epen Homers, Ilias und Odyssee, hinweisen[1]. „Solange Menschen auf Erden leben, sagt die Szene aus, ehren sie die Werke Homers“[2].

       Abb. 1: Apotheose Homers, Relief des Archelaos, Ausschnitt. Um 130 v. Chr.  
                                          Nach Pinkwart 1965, 57 Taf. 29 

    Spätestens seit dem Mittelalter wird der Gott greisenhaft dargestellt[3] und mit den Attributen Sanduhr und Sense (oder Sichel) versehen. Schon im Altertum setzte man ihn gleich mit dem Titanen Kronos, der seine Kinder, die Jahre, verschlingt. Im Hymnos „An Schwager Kronos“ meint Goethe zwar den Gott der Zeit, doch beginnt er den Namen konsequent mit dem Anfangsbuchstaben K (Kappa):

    Spute“ dich, Kronos, fort den rasselnden Trab…   

    Zurück zum lateinischen Aequivalent Tempus. In ihrem großen Zeit-Monolog im „Rosenkavalier“ setzt sich die Marschallin mit der endlichen Zeit auseinander[4]:

    Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding.

    In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie.
    In meinen Schläfen, da fließt sie.

    Lautlos wie eine Sanduhr.

    Manchmal steh ich auf  mitten in der Nacht
    Und lass die Uhren alle, alle steh’n.
    Dann, versöhnlich:
    Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten.
    Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.

    Harald Weinrich geht in seiner ebenso instruktiven wie fesselnden Abhandlung „Knappe Zeit“ der philologisch-philosophischen Verbindung zwischen Zeit: tempus und  Schläfen: tempora ausführlich nach[5]. Jeder Mediziner kennt das Schläfenbein, Os temporale und die Schläfenarterie, Arteria temporalis, wo man den Puls mindestens ebenso gut wie am Handgelenk ertasten kann. In heutigen lateinischen Wörterbüchern findet man für das Wort tempus außer „Zeit“ auch „Schläfe, Gesicht, Haupt“, die drei letzteren meist vom Plural „tempora“ abgeleitet.     

    Nahezu synonym mit Chronos[6] wird Aion gebraucht. Er vertritt die mit dem Menschen zusammen geborene Lebenszeit, symphytos aion[7]. Euripides nennt ihn des Chronos‘ Sohn[8]. Beide ähneln sich auch in ikonographischer Hinsicht. Wäre dem Relief eines sinnenden älteren Mannes nicht der Name beigeschrieben[9], könnte man ihn auch für Chronos halten. Ảιών verkörpert besonders lange Zeitspannen[10] und ist Herr über „Leben“ und „Lebenszeit“. In seinen letzten Augenblicken beschwört Goethes Faust selbstbewusst den heute wenig gebräuchlichen, von Aion abgeleiteten Ausdruck „Äonen“:

    …Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehen…[11]

    Seit Platon identifiziert man Aion mit dem Wort Ewigkeit, seit Cicero mit dem lateinischen Äquivalent aeternitas. Als dem „Erzeuger“ der Zeiten fügt er dem „Χρόνος“ nicht nur … „ein in Zahlen fortschreitendes bewegliches Abbild der Ewigkeit, Ảιών, hinzu sondern auch die  zyklische Auffassung von der Zeit, ἐνιαυτός[12]. Durch die Gliederung in Tage und Nächte, Monate und Jahre, in der engen Verbindung zum Zodiakos und zum Kreis der Jahreszeiten lassen sich die Zeit-Personifikationen, Χρόνοι, kaum von einander trennen[13].

    Ein Mosaik in Paphos gibt den durch ein goldenes Diadem und den Nimbus hervorgehobenen Aion als Richter in einem Schönheitswettbewerb wieder. Er und die Konkurrentinnen Kassiopeia und die Nereiden Thetis, Doris und Galathea sind namentlich gekennzeichnet[14].    

    Eniautós klingt im lateinischen annus wieder und steht, wie wir bereits wissen, für die „kreisenden Jahre“, eine zyklische Zeit-Auffassung[15], die den Menschen des Altertums bis in die Spätantike hinein geläufig war. Der große Zyklus, mégas eniautós, umfasst die Periode zwischen zwei Festzyklen. Sie beträgt acht Jahre.  Vier Jahre, die Hälfte davon, entsprechen dem Abstand zwischen zwei olympischen Spielen, der Olympiade. Das einzelne Jahr gliedert sich in die wiederkehrenden Jahreszeiten, die Horen[16]. Selbst der Tag „kreist“ zwischen dem Aufgang der Sonne und dem des Mondes.

    Zur Zeit Ptolemaios‘ II Philadelphos war die riesige Gestalt des Eniautós in Alexandria Teil der Prozession zu Ehren des Gottes Dionysos. Er wurde von einem Tragödien-Schauspieler auf hohen Kothurnen dargestellt. Auf einer apulischen Loutrophoros[17] dagegen erscheint er als beinahe nackter Jüngling, der ein Füllhorn mit Getreideähren im Arm trägt. Neben ihm thront die

    Ortspersonifikation von Eleusis mit einer Kreuzfackel, einem Attribut der Korngöttin Demeter/Ceres (Abb. 2).

              Abb. 2: Eniautòs und Eleusis, 330/320 v. Chr. Malibu, Getty-Museum.
                                           Nach Simon 1988, 68. 82 Taf. 7

    Beide Namen sind beigeschrieben.

    Von den drei bisher besprochenen Zeit-Personifikationen setzt sich Kairos, der junge Gott der qualitativen Zeit,deutlich ab. In einer Spanne von äußerster Kürze, dem flüchtigen Augenblick, drängt sich die ganze Fülle einer Lebens- und Welterfahrung zusammen[18], lateinisch occasio, auch fortuna. Als geflügelter Jüngling balanciert er eine Wage auf Messers Schneide. Wem es nicht gelingt, ihn vorn am Schopf zu packen, hat das Nachsehen[19]. Der kurz geschorene glatte Hinterkopf gleitet unter den Händen weg (Abb. 3). Jede weitere Aktion kommt dann παρὰ καιρὸν, zur Unzeit, wie es bei Platon heißt[20].

    Wer jedoch schnell reagiert und die günstigen Umstände zu nutzen versteht – carpe diem[21] –  hat gewonnen.

                                         Abb. 3:  Relief Turin, 2. Jh. n. Chr.
                                    Nach LIMC V, 1990, 922 Nr. 4 Taf. 597

    Marie von Ebner-Eschenbach fasste den Sachverhalt in einen treffenden Aphorismus:

    Wenn die Zeit kommt, in der man könnte,
    ist die vorüber, in der man kann.

    Daher rät Goethes Mephisto auch dem Schüler:

    Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen,
    doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen[22].

    So lange aber das Werk über die Zeit, le Temps[23] noch nicht in einem Buch in Sicherheit gebracht ist, mis en sȗreté, besteht die Gefahr, dass le temps, die Zeit, nicht ausreicht. Es ist also höchste Zeit, grand temps. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Wir schreiben schließlich für uns selbst. Schiller hat das in  einem 1797 verfassten Brief an Goethe formuliert: …da es einmal ein festgesetzter Punkt ist, dass man nur für sich selber philosophiert und schreibt, so ist auch nichts dagegen zu sagen; im Gegenteil, es bestärkt einen auf dem eingeschlagenen guten Weg …Seien wir geizig mit dem kostbaren Gut, denn: 

    die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont[24] . Trotzdem ist    nicht gesagt, dass in dem undurchsichtigen Sack Zukunft nicht auch ein Entzücken steckt[25]

    Abgekürzt verwendete Literatur und Bildnachweis:

    Bemmann 1994: K. Bemmann, Füllhörner in klassischer und hellenistischer Zeit (Frankfurt am Main 1994)

    Brommer 1967: F. Brommer, Aion, MarbWPr 1967, 1-5 Taf. 1-3

    Daszewski – Michaelidis 1989: W. A. Daszewski – D. Michaelidis, Führer der Paphos Mosaiken (Nicosia 1989)

    Fränkel 1968: H. Fränkel, Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: F. Tietze (Hrsg.), Wege und Formen frühgriechischen Denkens (München 1968) 1-22

    LIMC I, 1981: LIMC I, 1981, 399-411 Taf. 312-319 s. v. Aion (M. Le Glay)

    LIMC V 1990: LIMC V, 1990, 922 Nr. 4 Taf. 597 s. v. Kairos (P. Moreno)     Abb. 3 

    Pinkwart 1965: D. Pinkwart, Das Relief des Archelaos von Priene, AntPl  IV, 55-65   
    Abb. 1

    Simon 1983: E. Simon, Zeitbilder der Antike, in: Feier zur Verleihung des Ernst Hellmut Vits-Preises (Münster 1983) 17-41. 

    Simon 1988: E. Simon, Eirene und Pax (Wiesbaden1988)      Abb. 2

    Simon 2012: E. Simon, Die Apotheose Homers, in: dies., Ausgewählte Schriften IV (Wiesbaden 2012) 131-139 

    Wamser-Krasznai 2016: W. Wamser-Krasznai, Kairós – den rechten Augenblick ergreifen…in: dies. Beschwingte Füße (Budapest 2016) 117-121

    Weinrich 2008: H. Weinrich, Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens (München 2008)


    [1] Pinkwart 1965, 57 Taf. 29; LIMC  III (1986) 277 Abb. 1 Taf. 222, s. v. a. Chronos  (M. Bendala Galán); Simon 1983, 25.

    [2] Simon 2012, 134 Abb. 1.

    [3] RE 1899 ND, 2481 f.; Simon 1983, 17 f.

    [4] Text: Hugo von Hofmannsthal (1911), Komposition: Richard Strauss.  

    [5] Weinrich 2004, 229-238.

    [6] Simon 1983, 18.

    [7] Aischyl. Ag. 107.

    [8] Eur. Heraklid. 900; RE I, 1 (Stuttgart 1893) 1042.

    [9] Brommer 1967, 3 Taf. 3; LIMC I, 1981, 401 Nr. 7 Taf. 312 (M. Le Glay).

    [10] Hes. theog. 609.

    [11] Goethe, Faust II, 60, Großer Vorhof des Palasts.

    [12] Plat. Tim. 37 d-38 e.

    [13] s. LIMC I, 1981, 400 Nr. 2  Taf. 311; Simon 1983, 28-31 Abb. 15.

    [14] Daszewski – Michaelidis 1989, 67-70 Abb. 48.

    [15] Hom. od. 16.

    [16] Simon 1988, 78 f. (28 f.); LIMC VIII,1, 1997, 573.

    [17] Das Gefäß, in dem man das Wasser für das Brautbad transportierte, Simon 1988, 68 (18) Taf. 7.

    [18] Weinrich 2008, 54.

    [19] Wamser-Krasznai 2016, 117.

    [20] Politeia 546 b.

    [21] Hor. carm. 1, 11. Auf dem Mosaik in Paphos, Haus des Aion, Daszewski – Michaelidis 1989, 69 Abb. 48.sind zwei Formen der Zeit, Aion und Kairos, dargestellt, beide durch Beischrift gekennzeichnet.

    [22] Goethe, Faust I, Studierzimmer.

    [23] M. Proust, A la Recherche du temps  perdu, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; dazu ausführlich Weinrich 2008, 147-150.

    [24] I. Bachmann, Die gestundete Zeit, 1953.

    [25] M. L. Kaschnitz, Nidda, Fragment 1928/29. 

  • Getöse

     (9.3.2020)

    Günter Rexilius gewidmet*

    Bei schneller Abfolge der Erlebnisse
    wird manch bewundernswerte Blume
    bedrückend bedeutungslos
    Mitten im betäubenden Getöse
    wird manch bewegender Gedankengang
    schwer beschreitbar
    manch wach rüttelnde Wirklichkeit
    schwer begreifbar
    manch liebevolles Lied
    schwer fassbar
    manch lähmendes Leid
    schwer sichtbar

    So ist es nicht verwunderlich
    wenn die Verwüster der Erde
    die Reizüberflutung der Menschen
    gezielt als Waffe verwenden֎֎֎

  • Gedächtnisschwund

    (16.2.2020)

    Der gemeine Gedächtnisschwund
    gehört zu den gefährlichen Volkskrankheiten
    Er grassiert gewaltig und global
    Im Gegensatz zu anderen Volkskrankheiten
    die in der Regel lediglich
    das Leben der betroffenen Person beeinträchtigen
    verwüstet der gemeine Gedächtnisschwund
    generationenübergreifend ganze Regionen

    ֎֎֎