Schlagwort: Gesellschaft

  • Ich bin kein Kanarienvogel

    (1970)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Ich bin kein Kanarienvogel, der auf der Wiese singt.
    Wieso verlangst du von mir ein zärtliches Liebesgedicht?
    Frühlingswasserfälle strömen aus meinen Augen,
    da ich ein Berg bin.
    Jedes Wort meines Gedichtes setzt das Papier in Flammen.
    Ich bin das wutentbrannte Lied einer Gruppe,
    einer aufständischen Gruppe, müde vom Warten,
    mit offenen Augen und verbundenen Händen.
    Ihr Schmerz hat eine andere Farbe und einen anderen Klang … 

    Nicht einen Moment vernachlässige ich das Schicksal meiner Heimat,
    obwohl ich von ihr entfernt bin.
    Ich bin der Dichter der Epoche des Übergangs,
    der Poet einer Generation,
    die gegen Ungerechtigkeit und Niederträchtigkeit kämpft.
    Erachte mich als stumm,
    wenn meine Stimme kein Herz erreichen sollte.
    Mit tausend Augen betrachte ich die Welt,
    damit du nicht glaubst, ich bin blind.
    Ich bin der Dichter der schweren Zeit des Übergangs,
    der Zeuge einer Epoche,
    in der ein neues Zeitalter entsteht.

    ֎֎֎

  • Wer bin ich?

    (1977)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Wer bin ich?
    Wer?
    Ein Komet,
    der der Nacht entrissen ist,
    der die Bekanntschaft mit der Morgenröte gemacht hat.
    Ein Auge, das das Licht erblickt hat,
    versöhnt sich nicht mit der Dunkelheit.
    Der helle Geist und das reine Wesen
    versöhnen sich nicht mit der Verderbnis.
    Wenn es in der Welt Ungerechtigkeit, Dunkelheit und Gewalt gibt,
    gibt es den Kampf,
    der zum Land der Gerechtigkeit und des Lichts führt.
    In der großen Inschrift des Lebens steht:
    Wenn du nicht siegst, wirst du verlieren.

    ֎֎֎

  • Der Mensch und der Stein

    (1965)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Die unendliche Einsamkeit ist das Schicksal des Steins.
    Es ist das Schicksal des Steins, blind und stumm zu sein,
    nie aus Trauer zu weinen,
    nie zu lachen,
    schmerzlos, hoffnungslos und wunschlos zu sein. 

    Manchmal bekommt er als Fels
    Tag und Nacht Ohrfeigen von einem fernen Meer.
    Manchmal liegt er auf einem Grab und sagt ohne Stimme,
    wie der Mensch heißt, der nie wieder zurückkehren wird. 

    Aber wenn er zur Statue ewig lebender Personen wird,
    streuen die Menschen Blumen auf sein Haupt.
    Glücklich ist der Stein, der zum Menschen wird.
    Schade, wenn ein unglücklicher Mensch versteinert.

    ֎֎֎

  • Jene Melodie

    (1972)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Die Tulpe des Wunsches wird wieder aufblühen,
    des Herzens verschlossene rote Knospe wird aufgehen.
    Ich sage nicht, dass der vergangene Frühling zurückkehrt,
    dass die abgelaufene Zeit beginnt.
    Es gibt eine andere Zeit und einen anderen Frühling … 

    Es ist eine Kunst,
    fröhlich zu sein.
    Freude spenden ist eine noch erhabenere Kunst.
    Jedoch werden wir es uns nie zubilligen,
    wie eine leblose Figur Tag und Nacht
    ohne Kenntnis der Lage aller anderen Menschen
    fröhlich zu sein.
    Sorglosigkeit ist ein großer Fehler,
    der uns fern sein sollte. 

    Wie schön wäre es,
    wenn es einen Spiegel gäbe,
    der das Innere zeigen würde,
    damit wir uns in ihm betrachten könnten,
    all das sehen würden,
    was den Spiegeln verborgen bleibt.
    Wir würden uns jener erhabenen Kraft bewusst,
    die uns lehrt,
    zu leben,
    Beständigkeit zu erlangen,
    der Bote des Sieges und der Hoffnung zu werden … 

    Es ist eine Kunst, fröhlich zu sein,
    wenn sich andere Herzen an deiner Freude ergötzen.
    Das Leben ist die einzigartige Bühne unserer künstlerischen Tätigkeit.
    Jeder trägt seine Melodie vor und verlässt die Bühne.Die Bühne ist stets vorhanden.

    Blühend ist jene Melodie,
    die die Menschen in ihrer Erinnerung bewahren …

    ֎֎֎

  • Biografie

    (1974)

     

    Von Jaleh Esfahani; (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Das rote Lachen der Tulpen des Frühlings,
    die gelbe Träne der Bäume des Herbstes,
    der Kuss der Vereinigung und die Freude der Begegnung,
    die Trauer des Abschieds und das Unglück der Abwesenheit. 

    Lebenslang suchen,
    warten,wünschen
    und in den Schöpfungen aufblühen:
    Das ist Eure und meine Biografie …

    ֎֎֎

  • Yalda (2)

    (21.12.2018)

     

    In der längsten Nacht des Jahres
    küsste der Mondschein zärtlich
    die letzten verbliebenen braungelben Blätter
    an den Armen meiner Geschwister
    bevor diese beseelt herab
    in den Schoß unserer Mutter tanzten 

    Andächtig fragte ich
    wann werden die Menschen
    die dringende Notwendigkeit begreifen
    die Welt als Partner zu erachten

    ֎֎֎

  • Ansätze

    (23.12.2018)

     

    Im psychotherapeutischen Alltag
    unterstütze ich meine Mitmenschen
    beim Erkunden der Entwicklungsgeschichte
    ihrer Denk- und Verhaltensweisen 

    Wenn wir den Kapitalismus
    als eine Lebensweise erfassen
    als eine Beziehungsart
    zwischen den Menschen und dem Dasein
    gelangen wir zu kritischen Erkenntnissen
    die zur entschlossenen Umsetzung einladen
    im kleinen Kreise und bei uns selbst beginnend

    ֎֎֎

  • Galaktisches Asyl

     

    Ein paar wenige Erdenbürger waren verzweifelt. Im Spiegelteleskop sahen sie den Todesbringer herannahen. Da sie Schweigepflicht einzuhalten hatten, durften sie der Öffentlichkeit nicht offenbaren, dass der herannahende Weihnachtsstern in Wirklichkeit ein Todesbote war.
    Die Tage der Erde waren gezählt. Es blieben vierundzwanzig Tage. 24!

    Die Wissenschaftler beschlossen, ein Notsignal ins Weltall zu senden, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, von einer außerirdischen Zivilisation erhört zu werden, gegen Null ging.

    Wenige Monate zuvor hatten sie auf einer Konferenz getagt und fröhlich über verschiedene Szenarien des Weltuntergangs spekuliert.

    Unter anderem darüber, wie die Erde in etwa sieben Milliarden Jahren vor der sich aufblähenden Sonne gerettet werden könnte. Was zu tun sei, bevor auf Erden ein Inferno ausbräche; was zu tun sei, wenn die Mutter ihre Kinder – die Sonne ihre Planeten – zu fressen droht.

    Obwohl das Szenario erst Milliarden Jahre später eintrifft, und das Überleben der Menschheit bis dahin ernsthaft in Frage zu stellen ist, überlegten sie, wie man mit Hilfe der Atomkraft der Erde einen Schubs in Richtung Jupiter verleiht. Dann würde die Erde zum Trabanten des Gasplaneten werden und vorübergehenden Schutz finden. Aber auch dies würde die blaue Kugel nicht retten. Irgendwann würde der rote Riese zu einem weißen Zwerg kollabieren und bittere Kälte das Sonnensystem ergreifen.

    Auch überlegten sie, ob man den Lauf von vorbeiziehenden Sonnen beeinflussen könnte, um die Erde von einer fremden Sonne einfangen zu lassen, deren Brenndauer deutlich länger sein würde als die der Heimatsonne.

    All das klang jetzt lächerlich, wo doch nur noch wenige Tage zur Verfügung standen, die Erde zu retten. Sie gestanden sich ein, dass keine Technologie der Welt imstande war, dem kosmischen Pingpongspiel aus dem Wege zu gehen.

    Einer der Wissenschaftler wirkte nicht im geringsten verzweifelt, und sie fragten ihn, warum das so sei.

    »Als ich neun Jahre alt war, hagelte Granatenfeuer vom Himmel. Als ich zehn Jahre alt wurde, gab es nichts zu essen. Die Ärmsten unseres Volkes verhungerten. Als ich elf Jahre alt war, verlor ich meine Eltern an ein Gefängnis und meine fünfjährige Schwester an die Cholera. Nur ich sollte überleben. Dann kam ein Fremder, der sich vorgenommen hatte, eine verlassene Seele zu retten. Seine Wahl fiel auf mich. Er sagte, wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt. Ich ging mit ihm und versprach, es ihm irgendwann gleich zu tun«, antwortete Asiel.

    »Was willst du uns damit sagen?«, fragten seine Kollegen.

    »Wir reichen galaktisches Asyl ein. Wir bitten höflich um sofortige Aufnahme in ein anderes Sonnensystem.«

    Die Kollegen lachten.

    Asiel schmunzelte in sich hinein. »Tut es einfach.«

    Sie kamen seiner Bitte nach, weil ohnehin keine Chance auf Rettung bestünde, meinten sie.

    Außerdem würde die Reichweite des Signals von kürzester Distanz sein. Man konnte nicht erwarten, dass die Nachbarn überhaupt zuhörten, wenn sie denn überhaupt technisch so weit seien, und, und, und …

    Es kam, wie es sich Asiel gewünscht hatte. Eine übergeordnete benachbarte galaktische Instanz, die mit den Erdlingen selbst eigentlich nichts zu tun haben wollte, erhielt den Asylantrag gerade rechtzeitig.

    Kurz bevor die Feuerkugel, die einer verirrten Zwergsonne entsprach, mit der Erde kollidieren würde, wurde die Erde mitsamt dem Mond in ein anderes Sonnensystem transportiert. Das göttliche Murmelspiel war im Handumdrehen vorbei. Für eine kurze Zeit blieben Erde und Mond in einer Wartehalle wie auf einem Bahnhof stecken und wurden anschließend in ein passendes System überführt. Nachdem der Weihnachtsstern das unsrige Sonnensystem durcheinander gebracht hatte, wurden Aufräumarbeiten notwendig. Als dies nach etwa einem Monat erledigt war, wurde die Erde mit ihrem Mond wieder an diejenige Stelle zurückversetzt, auf der sie nach Kalkulation sich hätte befinden müssen.

    Die galaktische Instanz hatte dem Asylantrag stillschweigend entsprochen. Die galaktische Nachbarschaftshilfe blieb für das Gros der Menschheit beinahe unbemerkt. Viele erinnerten sich an das kosmische Ereignis des sich nahenden Weihnachtssternes. Die damit verbundenen physikalischen Ereignisse vermochten sie nicht in den korrekten Zusammenhang stellen.

    Nachdem die Rettung der Erde geglückt war, tüftelten Asiel und seine Kollegen an jener neuen zauberhaften Technologie, die sie Gravitationsschleuder nannten. Irgendwann in sieben Milliarden Jahren, wenn die Erde das Sonnensystem erneut verlassen müsste – … ja, bis dahin würden sie die Funktionsweise wohl längst herausgefunden haben.

    Der eigentliche Zauber aber bestand darin, dass sich jene unbekannte Instanz, die sich nur dieses eine Mal offenbarte, erbarmt hatte, der Erde zu helfen.

     

    Nachtrag:

    Die Erdlinge haben nie erfahren, dass die Menschenrechte im Wesentlichen identisch sind mit dem des Galaktischen Individualrechtes. Die Erdlinge wurden auch nicht darüber informiert, dass zur Erleichterung der kosmischen Kommunikation sämtliche Radiosignale mit Hilfe von Miniwurmlöchern umgeleitet werden. Sie kreisen am Rande eines Sonnensystems und saugen sämtliche Signale zuverlässig auf. Der galaktische Rat ist innerhalb von wenigen Stunden auf dem aktuellen Stand. Lediglich der galaktische Verwaltungsapparat brauchte etwas länger zur Bearbeitung des Antrags. Das scheint ein kosmisches Problem zu sein …

     

    verfasst am 23.12.2018

  • Blicke und Gedichte

    (23.12.2018)

     

    Wir verweilen in einem Raum
    mit vielen Wänden
    Jede Wand hat zahlreiche Fenster
    zum Empfangen und zum Senden
    Jeder öffnet ein Fenster zum Licht
    verfasst dann sein eigenes Gedicht
    Wenn wir Blicke und Gedichte
    redlich zusammenführen
    werden  wir gemeinsam
    die Wahrheit eher berühren

    ֎֎֎

  • Botschaften

    (30.11.2018)

     

    Für Verena Tobler

     

    Manchen Menschen bin ich noch nicht
    persönlich begegnet, und doch
    beleben mich ihre Botschaften
     wie die morgendlichen Sonnenstrahlen
    So mache ich mein Herzens Fenster
    willentlich weit auf
    damit ihre Düfte betörend einströmen
    Träumen wir von blühenden Landschaften
    als Entwicklungsraum der Kinder
    sind wir auf ein erleuchtetes Zusammenspiel
    aller Lebewesen angewiesen

    ֎֎֎