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Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018
Auszug aus dem Buch von Jürgen Wacker „Johannas Schwester – Djamila auf den Spuren von Jeanne d´Arc“
Kapitel
3
Hinter dem Zaun um das Asylbewerberheim befand sich eine
Bachniederung, die voller Abfall war. Djamila und Isabelle mussten
sich durch einen Berg von umgestürzten Einkaufswagen,
Gestängen von Wäschtrocknern, Fahrradrädern, blauen Säcken,
Matratzen und vielen anderen Abfallgegenständen, die
zwischen den verwilderten Büschen und Bäumen herumlagen,
kämpfen. Als sie die Böschung zu dem ca. 2,50 Meter hohen,
festen Drahtzaun erklommen, erkannten sie in der Morgendämmerung
die einzelnen Häuser des Asylbewerberheimes.
Die feste, unüberwindlich wirkende Einzäunung wurde an ihrer
Oberkante von zwei straff gespannten Stacheldrähten begrenzt.
Zu diesem Zeitpunkt waren noch keine Sozialarbeiter oder andere
Mitarbeiter der Einrichtung zu sehen. Isabelle wusste, dass
die offizielle Besuchszeit erst um acht Uhr begann und bis 22
Uhr dauerte.
Djamila sah drei einstöckige, endlos lang wirkende Häuser,
deren Fenster alle geschlossen waren. Die Häuser waren weiß
angestrichen und standen auf einem etwa 50 Zentimeter hohen,
braun gestrichenen Sockel. Die Fensterrahmen waren
ebenfalls weiß gestrichen und vor den meisten Fenstern waren
die weißen Vorhänge zugezogen. Zwischen den einzelnen
Häusern hingen zahlreiche elektrische Kabel, die Djamila an das
Kabelgewirr zwischen den Häusern in der alten Innenstadt von
Ouagadougou erinnerten. Der Rasen zwischen den einzelnen
Häusern war ungepflegt. Auch zwischen den Häusern sah Djamila
zahlreiche Einkaufswagen, die vermutlich zu einem nahe
gelegenen Laden einer Discounterkette gehörten. An den Wäscheleinen
zwischen den Häusern hingen auffallend farbige,
exotisch wirkende Kleidungsstücke, die Djamila ebenfalls an
ihre burkinische Heimat erinnerten. Sie glaubte sogar an einer
Wäscheleine ein schwarzgelbes Kleid zu erkennen, das sie
selbst einmal in Dori und Bonfara getragen hatte. Jetzt trug sie
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eine verwaschene Jeans und ein T-Shirt des Catering-Services
von Isabelle mit dem Logo von Heidelberg. Einen Moment lang
überlegte Djamila über den Zaun zu klettern, um das gelbschwarze
Kleid von der Leine zu nehmen und anzuziehen.
Plötzlich pfiff Isabelle ganz laut. Kurze Zeit später öffente sich
die Tür eines seitlich der Häuser abgestellten, braun gestrichenen
Wagens, der Djamila an die Kerwewagen in Edingen erinnerte.
Eine schwarze Frau huschte gebückt zu einer Stelle des
Zaunes, an der die Frau offensichtlich das Gelände des Asylbewerberheimes
verlassen konnte. Als sie bei Isabelle und Djamila
angekommen war, konnte Djamila erkennen, das sie das gleiche
T-Shirt des Heidelberger Catering-Services trug.
„Das ist Salome. Sie ist hier, weil sie in ihrer Heimat in Nigeria
wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt wurde. Sie wurde im
Gefängnis in Nigeria gefoltert, die Wärter brachen ihre Beckenknochen
und sie musste mit ansehen, wie ihr Mann von Muslimen
grausam getötet wurde. Im neuen Testament wird Salome
als erste Jüngerin Jesu bezeichnet, die bei seiner Kreuzigung auf
der Hinrichtungsstätte Golgatha dabei war. Wörtlich übersetzt
heißt Salome: die Friedliche. Im Markus-Evangelium (Kapitel 15,
Vers 40) heißt es unter ,Kreuzigung und Tod‘: Und es waren
auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter welchen war
Maria Magdalena, Maria und Salome, die ihm nachgefolgt waren,
da er in Galiläa war, und ihm gedient hatten. Außerdem war
Salome nach dem Evangelium von Markus (Kapitel 16) Zeugin
der Auferstehung: Und da der Sabbat vergangen war, kauften
Maria Magdalena und Salome Spezerei, auf dass sie kämen und
salbten ihn. Und sie sahen auf und wurden gewahr, dass der
Stein abgewälzt war. Sie fanden einen Jüngling in einem weißen
Gewand, der sprach: ,Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten.
Er ist auferstanden, er ist nicht hier.’ (Markus 16).
Somit war Salome eine der ersten Adressatinnen der Auferstehungsbotschaft
unseres Herrn Jesus Christus.“
Isabelle stellte Djamila ihre Freundin mit diesen pathetischen
Worten aus dem Neuen Testament vor. Anschließend umarmten
sich beide herzlich und Salome schenkte Djamila ihr gewinnendes
Lächeln. Sie mussten langsam gehen, weil Salome
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aufgrund ihrer im nigerianischen Gefängnis erlittenen Beckenbrüche
hinkte. Hinter einem großen Gebüsch hatten sie ein
Fahrrad für Salome versteckt. Die Sonne war über den Bergen
des Odenwaldes und den Hügeln des Kraichgaues aufgegangen
und Salome begann zu beten und einen Gospelsong zu singen.
Jetzt erst nahm Djamila das fein geschnittene und freundliche
Gesicht von Salome wahr.
Isabelle bat Salome weitere Gospels und Gebete aus dem
Gefängnis in Nigeria vorzutragen. Ein Missionar hatte Salome
gelehrt Texte und Gebete auswendig zu lernen, als Trost für die
Stunden der Verfolgung.
Salome stimmte den Gospelsong Amazing Grace an.
Amazing grace, how sweet the sound,
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now I’m found,
Was blind, but now I see.
‘Twas grace that taught my heart to fear,
And grace my fears relieved;
How precious did that grace appear,
The hour I first believed!
Through many dangers, toils and snares,
I have already come;
‘Tis grace has brought me safe thus far,
And grace will lead me home.
The Lord has promised good to me,
His word my hope secures;
He will my shield and portion be,
As long as life endures.
Djamila war von der Intensität des Gesanges von Salome
beeindruckt. Deren Augen waren zur aufgehenden Sonne gerichtet
und sie schien nichts außer dem Sonnenaufgang wahrzunehmen.
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Zu dritt fuhren sie auf einem Feldweg am Rande des Waldes
eines der Bergzüge, die den Übergang zwischen Kraichgau und
Kleinem Odenwald bildeten, zur Zentrale des Catering-Services.
Dort angekommen stellte Isabelle Djamila und Salome dem
verantwortlichen Mitarbeiter kurz vor.
„Das trifft sich gut, dass wir heute zwei weitere Mitarbeiter
haben, denn eine unserer Mitarbeiterinnen ist nicht erschienen
und wir haben heute einen großen Event im Schlosshof des Heidelberger
Schlosses zu organisieren.“, antwortete der Mitarbeiter
des Catering-Services.
Sie waren acht Frauen aus verschiedenen Ländern in dem
Kleinbus des Unternehmens. Isabelle forderte Salome und Djamila
auf, sich neben sie in die letzte Sitzreihe zu setzen. Sie hatte
immer noch Sorge in eine Polizeikontrolle zu geraten, falls Djamila
immer noch gesucht wurde. Wenn sie angehalten würden,
könnte sich Djamila hinten leichter vor den Blicken der Polizisten
verbergen. Sie selbst fühlte sich auf der letzten Sitzbank
auch sicherer.
Djamila gewann den Eindruck, dass Isabelle von allen anderen
Frauen anerkannt und akzeptiert war, obwohl sie die einzige
schwarze Frau war, die bei dem Catering-Service fest angestellt
war. Isabelle erklärte Djamila auf Französisch, dass die
anderen Frauen aus Russland und dem Balkan stammten und
weder Französisch noch Englisch verstünden, und selbst in der
deutschen Sprache sei es schwer, sich mit ihnen zu unterhalten.
Sie fuhren von Pfaffengrund über eine Brücke über die Eisenbahn
zu einer großen Kreuzung. Djamila verfolgte alles sehr
aufmerksam, ständig auf der Hut vor einer Polizeistreife. Die
Kreuzung kam ihr bekannt vor, wie im Traum erkannte sie die
Bergheimer Straße, die zum Bismarckplatz führte und in deren
Nähe die Kathedrale, ihr Gymnasium, stand. Bevor ihre Adoptiveltern
entschieden, sie in das Internat der Bergstraßenschule
in Heppenheim zu geben, von wo sie geflüchtet war, war sie hier
zur Schule gegangen. Ihr kamen die Buben auf dem Bismarckplatz
in den Sinn, die sie wegen ihrer Hautfarbe gehänselt, und
die Klassenkameraden, die sie wegen ihres Kurpfälzerdialektes
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ausgelacht hatten. Djamila war als Flüchtling in ihre Lieblingsstadt
Heidelberg zurückgekehrt.
Der Kleinbus des Catering-Services bog an der Kreuzung am
Bismarckplatz nicht zur Kathedrale sondern zum Gaisbergtunnel
ab. Der Kleinbus bog hinter dem Gaisbergtunnel bergauf
nach rechts zum Heidelberger Schloss ab. Aufgrund einer Sondererlaubnis
durfte er direkt in den Schlosshof fahren, um Tische,
Kochgeräte und das Personal dort abzuladen.
Der Fahrer des Kleinbusses forderte die Frauen auf, die
Kochgeräte zwischen dem Brunnen und dem dahinterliegenden
Gebäude abzustellen. Salome und Djamila führten die Anweisungen
gemeinsam mit den anderen aus und in kurzer Zeit
waren die Wärmepfannen und Schüsseln für den Empfang des
Universitäts-Institutes aufgestellt.
Der Inhaber des Catering-Services wies seine Mitarbeiterinnen
auf ihre jeweiligen Aufgaben hin. Isabelle war wie gewohnt
für das Büfett zuständig. Sie sollte das Essen immer wieder
nachlegen, sodass Schüsseln und Wärmebehälter immer gut
gefüllt waren. Auch Eis sollte immer ausreichend vorhanden
sein. Djamila und Salome sollten die Getränke bereitstellen und
Sekt- und Weingläser immer wieder nachfüllen.
Die Gäste des wissenschaftlichen Meetings kamen aus der
ganzen Welt. Die Damen und Herren trugen offizielle Kongresskleidung,
die Herren Krawatten und die Damen kurze, schwarze
Kleider.
Djamila hatte insgeheim gehofft, dass einer der schwarzen
Kongressteilnehmer sie ansprechen und sie in seine Obhut
nehmen würde. Stattdessen versuchte ein deutscher Student
mit Djamila zu flirten, in dem er ihr die Geschichte der Zerstörung
des Heidelberger Schlosses im Jahre 1689 erzählte.
„Ist es das erste Mal, dass du auf dem Heidelberger Schloss
bist?“, fragte der Student in Burschenschaftsuniform Djamila.
„Nein, ich habe hier das Gymnasium besucht und einen Klassenausflug
zum Schloss gemacht.“, antwortete Djamila selbstbewusst.
Der Student wandte sich wieder anderen zu, war
aber wohl aufgrund seines Auftretens und seiner Burschenschaftsuniform
nicht der geeignete Gesprächspartner für die
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Kongressteilnehmer. Eine ältere Dame hatte das Gespräch gehört
und kam auf Djamila zu. „Darf ich dir die Geschichte der
Frau erzählen, die unter der Zerstörung Heidelbergs durch die
Franzosen am meisten gelitten hat? Kennst du Liselotte von
der Pfalz?“, fragte die freundliche ältere Dame weiter. Djamila
schüttelte den Kopf und die ältere Dame begann zu erzählen:
„Liselotte von der Pfalz, die spätere Herzogin von Orléans,
wurde am 27. Mai 1652 als Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig
von der Pfalz und seiner Frau Charlotte von Hessen als Elisabeth
Charlotte in Heidelberg geboren. Kurz nach ihrer Geburt zerstritten
sich ihre Eltern, aber Liselotte wohnte zunächst weiter
in Heidelberg. Im Alter von sieben Jahren kam Liselotte zu ihrer
Tante Sophie, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Dort
erhielt sie eine fundierte Bildung und lernte die Weltoffenheit
und Toleranz ihrer Tante zu schätzen. Ihr Vater holte sie nach
fünf Jahren wieder zurück nach Heidelberg, um sie nach seinen
Vorstellungen zu erziehen. Trotz der strengen Erziehung durch
den Vater berichtete Liselotte später von einer unbeschwerten
Jugend zusammen mit ihrem Bruder Karl und ihren Halbgeschwistern.
Mit 19 Jahren verheiratete ihr Vater Karl Ludwig sie
mit dem Herzog von Orléans Philip I., dem Bruder von Ludwig
XIV., dem Sonnenkönig von Frankreich. Die Vermählung mit
dem verwitweten Herzog von Orléans wurde durch eine Pariser
Tante vermittelt und war das Ergebnis politischer Kalkulationen
beider Seiten. Die französische Seite versprach sich von dieser
Eheschließung mögliche Erbaussichten auf die Kurpfalz, denn
Ludwig XIV. wollte Frankreich nach Osten erweitern. Liselotte
schrieb darüber in einem ihrer zahlreichen Briefe: ,Aber was
will man tun? Wo die Raison will, dass eine Sache sein muss,
muss man nur schweigen und nichts mehr davon sagen.‘ Infolgedessen
musste Liselotte vom Calvinismus zum Katholizismus
übertreten, was ihr nicht leicht fiel. Sie ließ sich aber nicht vom
Lesen der Bibel abbringen und hielt am Prädestinationsglauben
der Calvinisten fest. Weiterhin vertrat sie offen ihre Kritik am
päpstlichen Primat und am Heiligenkult der katholischen Kirche.
Ihr Mann war und blieb ihr fremd! Sie hasste die Intrigen
am Hof und besonders die des Ministers ihres Mannes, der zum
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maître de plaisir, zum Spieler und Trinker verkommen war. Als
1685 ihr Bruder Karl, der letzte Spross aus dem protestantischen
Haus Pfalz-Simmern kinderlos starb, sah Ludwig XIV. die
Gelegenheit gekommen, für seine Schwägerin Besitzansprüche
geltend zu machen. Es folgte der Pfälzisch-Orléanische Erbfolgekrieg
in dessen Verlauf die Städte und Dörfer der Kurpfalz
von den französischen Truppen zerstört wurden. Im Jahre 1689
wurden von den Truppen Ludwig XIV. Mannheim und Heidelberg
zerstört. In ihren Briefen berichtete Liselotte, wie die Zerstörung
ihrer Heimat selbst im fernen Paris und Orléans ihr das
Herz brach: ,Ich kann mich noch nicht getrösten über was in der
armen Pfalz vorgegangen; darf nicht danach denken, sonsten
bin ich den ganzen Tag traurig.‘ An ihre Tante Sophie schrieb
sie: ,So kann ich doch nicht lassen zu bedauern und zu beweinen,
dass ich sozusagen meines Vaterlandes Untergang bin.‘
Die Franzosen zogen ab und die Heidelberger Bürger konnten
einige der Gebäude dieses Schlosses und der Stadt vor den
Flammen retten. Liselotte hatte ihr Heidelberg nie wieder gesehen
und starb einsam und verlassen 1722 in Saint-Cloud bei
Paris.“
Djamila würde ihrer Heimat so etwas nie antun, beschloss
sie für sich, sie würde für ihre Heimat immer eintreten oder
sterben. Sie hatte in der Schule gelernt: ‚La patrie òu la mort –
nous vaincrons!’
„Da tust du Liselotte aber Unrecht! Sie heiratete aus Staatsräson
einen Mann, den sie weder kannte noch liebte, lebte an
einem Königshof, den sie verabscheute und verließ ihre Heimat
für immer. Alles nur aus Staatsräson, weil ihr Vater durch ihre
Heirat mit dem französischen Herzog Frieden für seine Kurpfalz
erreichen wollte. Liselotte war eine intelligente, selbstbewusste
Frau, musste aber früh erkennen, dass sie zur Marionette in
einem Drama wurden, dessen Ausgang sie nicht beeinflussen
konnte. Ihre Wut und ihre Wünsche beschrieb sie in unzähligen
Briefen an ihre Freunde und Verwandten in Deutschland. Du
musst diese Briefe lesen.“
Die ältere Dame verabschiedete sich höflich von Djamila und
wünschte ihr alles Gute.
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Djamila hatte in dem Gymnasium, das sie als Kathedrale der
Bildung in Erinnerung behielt, Latein vor der englischen Sprache
gelernt, mit dem Erfolg, dass Englisch für sie die Sprache
der Emporkömmlinge und Wichtigtuer war. Als sich ein afrikanischer
Wissenschaftler mit der Frage „Can I have a Whiskey“ an
sie wandte, antwortete Djamila: „Nous avons seulement l’eau
minérale, pas de l’eau de Vichy!“ Der distinguierte afrikanische
Wissenschaftler wandte sich prompt einer Kollegin des Party-
Services zu, die aus Weißrussland stammte, die ihm anstelle von
Whiskey Wodka einschenkte. Offensichtlich war es dem Präsidenten
des Kongresses wichtig, die afrikanischen Gäste allen
deutschen Ehrengästen vorzustellen. Ständig war er bemüht,
irgendeinen schwarzen Wissenschaftler den gelangweilt herumstehenden
Ehrengästen vorzustellen. Die Gäste aus Frankreich,
England und den USA schienen lediglich Zaungäste zu
sein.
Plötzlich ergriff der Kongresspräsident das Wort, in dem er
ein drahtloses Mikrofon in die Hand nahm:
„Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Referenten unserer Tagung, werte Ehrengäste,
das Schwerpunktthema unserer internationalen Tagung lautet:
Ursachen und Folgen von Global Warming. Wie die Mehrzahl
der Referenten ausführte, müssen wir feststellen, dass von
1906 bis 2005 die jährliche Durchschnittstemperatur unserer
Erde ständig angestiegen ist. So waren die Oberflächentemperaturen
im Jahr 1998 ungewöhnlich warm, weil die globalen
Temperaturen durch die El Niño-Southern Oscillation (ENSO)
mehr als wir bisher vermuteten, beeinflusst werden. Wir hatten
im vergangenen Jahrhundert die stärkste El Niño-Strömung
in diesem Jahr. Globale Temperaturen unterliegen kurzfristigen
Schwankungen, die langfristige Trends vorübergehend
überlagern und maskieren können. Die relative Stabilität der
Oberflächentemperatur von 2002 bis 2009, die eine globale Erwärmungspause
darstellt, ist mit diesem Phänomen zu erklären.
Aber wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen,
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dass die Erderwärmung ständig zunimmt, und wir Menschen,
besonders diejenigen in den reichen Ländern, für diese Entwicklung
mitverantwortlich sind. Es ist unstrittig, dass von den
Menschen der nördlichen Hemisphäre mehr Treibhausgase als
von denen der südlichen Hemisphäre emittiert werden. Als Folgen
der weiteren Erwärmung der Erde werden die Eiskappen
an den beiden Polen schmelzen, ebenso die Gletscher in den
Hochgebirgen und auf Grönland. Als Folge wird der Spiegel der
Weltmeere ansteigen, und häufige Überschwemmungen und
Fluten bedrohen die Küstenstaaten dieser Erde. Die Anzahl der
Unwetter und extremen Wetterverhältnisse wird zunehmen
und Dürren und Wassermangel werden zukünftige Konflikte
mit sich bringen.
Aber noch haben wir Zeit, aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen
zu lernen, und den schädlichen Einfluss des Menschen
auf das Klima zu reduzieren. Deshalb haben wir uns hier
in Heidelberg getroffen, um die nächste Klimakonferenz wissenschaftlich
zu begleiten.“
Die Zuhörer dankten dem Kongresspräsidenten für dessen
aufmunternde Rede und den gastlichen Empfang im Schlosshof
mit lautem und lang anhaltendem Beifall.
Nach der Rede und dem Imbiss im Keller des großen Fasses,
versammelten sich die Gäste der Tagung erneut im Schlosshof,
um Zeuge eines Feuerwerkes zu werden. Die Startrampe der
Raketen und Feuerwerkskörper war etwa 30 Meter vor dem
Eingang zum Apothekermuseum aufgestellt. Es war dunkel
und Djamila sah nur einige wenige Sterne am schwarzen Himmel
über dem Schlosshof. Djamila sah die anwesende Kongressgesellschaft
nur schemenhaft, da vor Beginn des Feuerwerks
sämtliche Laternen der Innenbeleuchtung des Schlosshofes
gelöscht worden waren. Plötzlich rauschte ein Feuerwerkskörper
in den schwarzen Himmel, glühte auf und produzierte einen
lauten Knall. Danach folgten rote, gelbe und blaue Funken
streuende Raketen. Djamila erlebte zum ersten Mal ein Feuerwerk
und erschrak bei jedem Zischen und bei jedem Knall. Auf
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einmal strahlte der Eingang vor dem Apothekermuseum in hellem,
loderndem Licht. Die alte Krüppelkiefer vor dem Eingang
stand in Flammen, offensichtlich von den Funken eines Feuerwerkskörpers
in Brand gesetzt. Isabelle erschien es wie ein Zeichen
Gottes. Sie rannte zu Djamila. Es ist fast wie in der Bibel,
als plötzlich der Busch brannte, als gerade Abraham Gott seinen
erstgeborenen Sohn Isaak opfern wollte und Gott Abraham einen
Hammel zeigte, den er an Stelle von Isaak opfern konnte.
„Müssen erst die Bäume brennen, bis wir begreifen, was Global
Warming für uns bedeutet und wie es uns bedroht.“, philosophierte
der Kongresspräsident.
Die Mitarbeiterinnen des Party-Services packten schnell ihre
Utensilien zusammen und verließen den brennenden Schlosshof,
während Isabelle Djamila und Salome an die Hand nahm,
um in den Park des Schlosses auf die Scheffelterrasse zu flüchten.
Djamila war außer Atem und stützte sich auf Isabelle und Salome.
Sie setzten sich auf eine Bank hinter der Ballustrade der
Scheffelterrasse, außer Atem und mit Schweiß auf der Stirn. Sie
sahen von fern, wie allmählich die flackernde Helligkeit im gegenüberliegenden
Schlosshof erlosch. Es wurde ruhig. Sie nahmen
die Stille des ehemaligen Hortus palatinus eher wahr, als
sie die Geräusche der unter ihnen liegenden Altstadt von Heidelberg
hörten. Djamila und Isabelle sahen auf der dem Neckar
gegenüberliegenden Seite den Heiligenberg mit der Bismarcksäule
und dem Aussichtsturm vor dem ehemaligen Stephanskloster.
Djamila hatte einen weiteren Tag auf ihrer Flucht von
der Bergstraßenschule unbemerkt überlebt.
Salome fror, zitterte und bat Isabelle ihr die Decke um ihre
Schultern zu legen. Salome hatte bei der Vorbereitung des
Essens im Keller des Schlosses, neben dem großen Weinfass,
einen dunklen Kerker mit vergitterter, kleiner Fensteröffnung
gesehen. Sie ließ vor Schreck den Stoß Teller fallen, den sie mit
beiden Händen getragen hatte. Dieser Kerker im Heidelberger
Schloss erinnerte sie an ihre schlimme Zeit, an die verdrängten
Erlebnisse der Jahre im Gefängnis von Kano in Nigeria.
Isabelle bemerkte das veränderte Verhalten ihrer Freundin
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und sah die pure Angst in deren Augen. „Salome, erzähle was
dich bedrückt, erleichtere deine Seele, was treibt dich um?“,
sagte Isabelle zu Salome.
„Wir waren im Sonntagsgottesdienst in unserer kleinen Kirchengemeinde
in Kano, als die vermummten Gotteskrieger mit
Kalaschnikows um sich schossen, die Kirchentüre eintraten. Sie
erschossen zuerst unseren Priester, dann zerstörten sie den
Altar und zündeten die kleine Kirche an. Sie schossen wahllos
in die Menge, wir rannten um unser Leben und nahmen nicht
wahr, was sie sonst noch alles zerstörten.
Mein Mann nahm unsere Tochter auf die Schulter und ich
hielt unseren kleinen Sohn an meine Brust gepresst. Draußen
vor der Kirchentür erwarteten uns schon andere Gotteskrieger,
die sofort das Feuer auf uns eröffneten, als wir das Kirchenschiff
verließen. Mein Mann und ich schlugen uns mit den
Kindern durch und erreichten einen Buchladen, dessen Besitzer
wir gut kannten. Wir versteckten uns in dessen Lagerraum, bis
wir erneut Schüsse und laute Schreie hörten.
Irgendjemand muss uns verraten haben. Die Eindringlinge
zerstörten mit ihren Gewehrkolben die Eingangstür des Buchladens,
zündeten die Bücherregale an und hielten dem Buchhändler
ein Messer an die Kehle, als sie fragten, wo die Flüchtlinge
aus der brennenden Kirche seien. Der Buchhändler antwortete
ihnen nicht und sie durchschnitten ihm die Kehle. Sie traten die
Tür zum Lagerraum ein und entdeckten uns, als wir hinter einem
großen Stapel Bücher knieten und zu Gott beteten.
Meinen Mann, unseren Vater, enthaupteten sie vor unseren
Augen, und mich und die Kinder zogen sie an Händen und Haaren
aus dem brennenden Laden zum Marktplatz. Dort hielten
andere Gotteskrieger mit ihren Kalaschnikows eine Gruppe
schreiender Kinder und weinender Frauen gefangen. Überall
war der Boden mit Blut verschmiert und überall lagen leblose
Leiber herum.“
Salome stockte und weinte. Sie sahen in die Dunkelheit,
die sich über dem Heiligenberg ausbreitete. Das Leuchten des
brennenden Baumes im Schlosshof war erloschen.
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„Wie ging es mit euch weiter?“, wollte Djamila von Salome
wissen.
„Wir harrten in der sengenden Sonne ohne Wasser aus. Die
Kinder waren erschöpft und dem Schreien aus ihren Angst erfüllten
Gesichtern war ein trauriges Wimmern und Weinen gefolgt.
Auch die Gotteskrieger mit ihren Turbanen schienen zu
ermüden. Sie tranken vor unserer Augen Tee und musterten
mit lüsternen und geilen Blicken besonders die jüngeren der gefangenen
Frauen, und ganz besonders diejenigen ohne Kinder.
Viele von diesen jungen hübschen Frauen bemerkten die geilen
Blicke der Gotteskrieger und versuchten sich abzuwenden und
ihre Gesichter zu verbergen. Am späten Nachmittag trieb eine
Gruppe Gotteskrieger, mit Kalaschnikows im Anschlag, unseren
Bürgermeister vor sich auf den Marktplatz. Sie gaben dem
Bürgermeister ein Blatt Papier, das dieser vorlesen musste:
,Im Namen Allahs fordern wir alle Anwesenden auf, sofort
dem Christentum abzuschwören und zum Islam überzutreten.
Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt, muss aufgrund
seines Widerstands gegen den Gottesstaat in das Gefängnis.
Die Vernünftigen unter euch, die dem Christentum abschwören,
können in Begleitung der Gotteskrieger in ihre Häuser und
Wohnungen zurückkehren. Sie sind verpflichtet, die Gotteskrieger
in ihrem Haus aufzunehmen. Die Häuser der Unvernünftigen,
die weiter am Christentum festhalten, werden niedergebrannt!‘
Der Bürgermeister las mit zitternder Stimme den schriftlichen
Befehl der Gotteskrieger vor. Kaum hatte er geendet, trat
ein Gotteskrieger hinter ihn und enthauptete ihn mit seinem
Säbel vor aller Augen. Der Mörder erklärte sich selbst zum
neuen Bürgermeister und befehligte ab sofort die Polizei der
Stadt. Die Gotteskrieger nahmen die jungen Frauen, ohne deren
Antworten abzuwarten, und zerrten diese in die Häuser, die
dem Marktplatz am nächsten gelegen waren. Bald drangen die
Schreie der Vergewaltigten aus den Häusern, unterbrochen von
Schlägen und Schüssen.
Wir, die wir auf dem Marktplatz alles mitansehen und mitanhören
mussten, wurden von der eigenen Polizei in das be66
rüchtigte Stadtgefängnis getrieben. Das Gefängnis lag auf einer
kleinen Anhöhe und hatte das Aussehen eines Sklavenforts, wie
wir sie von der Küste Ghanas in Elmina oder von der Insel Goree
im Senegal kennen. Der Weg auf den Berg des Gefängnisses
war beschwerlich und einige stürzten mehrmals vor Erschöpfung,
Trauer und Angst. Keine versuchte zu fliehen, alle trotteten
hintereinander her, wie eine Schafherde, die der Hirte zum
Schlachthof trieb. Plötzlich sah ich in einem Haus auf dem Weg
zum Gefängnis eine Tür offen stehen, durch die ich mit meinen
Kindern fliehen wollte. Ich nahm meinen Sohn fest an die
Hand, presste meine Tochter dicht an meine Brust und rannte
zu der offen stehenden Tür. Aber ein Polizist bemerkte meinen
Fluchtversuch und stellte sich mir in den Weg. Er nahm mir beide
Kinder weg und schlug mit seinem Gewehrkolben auf mich
ein. Als er von mir abließ, halfen mir zwei andere Frauen wieder
aufzustehen. Sie legten meine Arme um ihre Schultern, denn
ich konnte nicht mehr allein gehen. Als wir das Gefängnistor
erreichten, wurden alle Frauen und Kinder in einen großen Hof
getrieben, während mich der Wärter gleich in das dunkle Innere
des Gefängnisses schleppte. Er fasste mich an den Schultern und
zog mich hinter sich her. Die dunklen Gänge waren nur schwach
beleuchtet und nur gelegentlich bemerkte ich schießschartenartige
Öffnungen in den dicken Gefängnismauern, durch die
die letzten, schwachen Strahlen der Abendsonne drangen. Es
ging ständig bergab und plötzlich ließ mich der Wärter fallen.
Er holte seinen Schlüsselbund hervor und öffnete eine dunkle,
stinkende Gefängniszelle, in die kein Licht drang.“
„Wie hast du denn das alles überleben können?’, fragte Djamila
Salome mit ängstlicher Stimme.
„Ich erinnerte mich an meinen Priester, der mir als junges
Mädchen die Geschichte von Jeanne d’Arc erzählte. Die heilige
Johanna wurde auch in ein Gefängnis gesteckt und am Ende gar
auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Dabei hielt sie sogar angesichts
der Flammen an ihrem Glauben fest. Mir fiel auch die
Geschichte von John Newton, dem Kapitän eines Sklavenschiffes,
ein. Mit seinem Schiff geriet er am 10. Mai 1748 in schwere
Seenot. Er rief Gott um Erbarmen an und wurde mit Gottes Hil67
fe errettet. Er behandelte ab sofort seine Sklaven menschlicher,
gab seinen Beruf auf, wurde Geistlicher und bekämpfte gemeinsam
mit William Wilberforce die Sklaverei. In den Tagen nach
seiner Errettung schrieb John Newton das Lied Amazing Grace.“
„Aber wie kamst du denn aus dem Gefängnis frei?“, wollte
Djamila wissen.
„Nachdem ich wochenlang kein Licht gesehen hatte, im eigenen
Kot lag, weil ich nicht aufstehen konnte, und ständig
Hunger und Durst hatte, weil ich nur wenig übel schmeckendes
Wasser und verschimmeltes Brot vorgesetzt bekam, hörte ich
hinter meiner Zellentür auf dem Gang fremdartige Stimmen
und ich begann zu singen:
Große Gnade, wie süß der Klang.
Die einen armen Sünder wie mich errettet!
Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden,
War blind, aber nun sehe ich.
Die Tür der dunklen Gefängniszelle öffnete sich, ich war
vom hereinfallenden Licht geblendet und sah erst allmählich
einen schwarzen Priester und zwei weiße Männer, die weiße
Polohemden mit dem Emblem von Ärzte ohne Grenzen trugen.
Der nigerianische Gefängniswärter kauerte verstohlen im
Hintergrund. Einer der beiden weißen Ärzte beugte sich zu mir
herunter, untersuchte meinen Körper und teilte mir in gebrochenem
Englisch mit, dass ich zur Behandlung meiner Hüftgelenksbrüche
nach Deutschland ausgeflogen würde. Alles andere
verging wie im Flug und ich war eine Woche später in einer
Klinik in Süddeutschland zur Behandlung. Außerdem stellte ein
Gynäkologe fest, dass ich einen Tumor in der Gebärmutter hatte,
und dass dies die Ursache meiner starken Blutungen war, unter
denen ich litt und die mich immer mehr geschwächt hatten.
Die deutschen Ärzte haben mich an den Hüften operiert. Ich
kann wieder, zwar mit Schmerzen, gehen. Danach wurde ich an
der Gebärmutter operiert, deshalb habe ich keine starken Blutungen
mehr. Ich bin körperlich wieder einigermaßen gesund.
Vor wenigen Wochen wurde ich als, wegen ihres Glaubens in Ni68
geria, Verfolgte anerkannt und erhielt das Recht in Deutschland
zu bleiben. Sicherlich wird mein Asylantrag auch anerkannt. Ich
schlage mich allein mit der Arbeit in diesem Catering-Service
und mit Auftritten bei Weihnachtsfeiern oder Geburtstagen
durch. Dann singe ich gut gelaunten deutschen Gästen meine
Gospelsongs vor und wenn sie es verdienen, singe ich zum
Schluss als Dank Amazing Grace!
Als ich heute mit den Tellern in den Händen an dem Verließ
neben dem Fasskeller des Schlosses vorbeikam, fiel mir die ganze,
verdrängte Geschichte um das Gefängnis in Nigeria wieder
ein.
Ich kann nicht vergessen, was die Gotteskrieger mir und uns
angetan haben. Sie haben mir meine Kinder und meinen Mann
genommen, aber meinen Glauben habe ich behalten.“Copyright: Der Abdruck dieses Kapitel aus dem Buch von Jürgen Wacker erfolgt mit ausdrücklicher Erlaubnis des Berliner Westkreuz-Verlags, Wir danken für die Genehmigung.
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Ein Beitrag zu der Moderation über das Thema „Der Roboter im Menschen – der Mensch im Roboter“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018
Harald Rauchfuss
Poseidon trifft Roberto, den Androiden
Poseidon taucht an der jonischen Felsenküste aus den Fluten; er trifft auf einen kleinen Ro-boter, der sich ihm vorstellt: „Poseidon, ich bin Roberto. Seit Jahrtausenden schaue ich Dir zu. Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du von dir Unmögliches verlangst?“
„Ich überfordere mich nicht“, entrüstet sich Poseidon, „ich möchte zwischendurch einmal Ruhe haben, Ruhe vor dem Berechnen der ewigen Gezeiten und Strömungen! Ich kann sie sehr wohl von den unendlichen Datenfluten der digitalen Berechnungen unterscheiden.“ Poseidon klappt das wasserdichte Laptop zu und schnauzt: „Du Knirps von Spion, sag, was bist denn du für einer?“
„Was hast du denn, Poseidon? Die Sterblichen sind es, die den Schöpfergöttern die Schuld an den endlosen Datenfluten zuschieben, weil sie ihnen zu wenig Verstand einfößen! Ich bin ein androider Roboter.“
„Kleiner Mann mit großer Eigenschaft!“, ruft Poseidon, „ein kleiner Android mit großen Ideen! Wie heißt du noch einmal? Wie kommst du zu solchen Ideen?“
Roberto blickt auf Poseidon, der in die Brandung hinabsteigt: „Ich heiße Roberto. Ein Italie-ner hat mich ausgetüftelt und mir den Namen gegeben. Was rede ich, das verstehst du ja nicht.“
Poseidon versinkt in den Fluten der Brandung. Er taucht auf, steigt auf seinen Felsen, setzt sich nieder und ruft: „Komm her, Roberto, du italienischer Schauspieler!“
Roberto springt elegant von Fels zu Fels, hält sich an den richtigen Vorsprüngen fest, bleibt stehen, die großen Augen treffen Poseidons Blicke: „Ich bin kein Schauspieler, prinzipiell bin ich wie du und – nicht wie die Menschen, die mich gebaut haben.“
„Ja, du kommst mir anders als die Menschen vor“, raunt Poseidon und senkt den Kopf: „Die Menschen sind verkrampfte Schauspieler, nicht so locker wie du und ich.“
Roberto lacht: „Dabei täuschen sie sich selbst, wenn sie die Häuser hoch hinaus bauen und sich zum Schlafen doch nur flach niederlegen, die Zimmerdecke viel näher an der Stirn, als wir beide das Firmament haben.“
„Am Anfang“, lacht Poseidon mit, „hatten sie nur Lagerfeuer im Freien oder Höhlen, bren-nende Hitze auf ausgestreckten Händen und ständiges Frösteln auf dem Buckel! Was dau-erte es, bis sie auf die Idee kamen, Gruben mit heißen Steinen und kochendem Wasser zu füllen, hineinzusteigen und die Wärme am Buckel zu genießen.“
Roberto ergänzt: „Räuber und Rivalen machten sie zu Sklaven, Krieger brachten sie um, und der Tod hatte weniger zu tun.“
„Was haben sie sich abgemüht, dabei hätten sie es leicht gehabt, denn sie sterben ja von selbst“, murmelte Poseidon und erhob die Stimme: „einer musste Wache halten, immer einer, und heute vergessen sie uns Götter. Seit ihre trägen Datenfluten über alles schwap-pen, über Geschäfte, Affären und Krankheiten, halten sie sich für unsterblich. Es hilft nichts, die Unsterblichkeit haben nur wir Götter.“
„Nur ihr Götter?“, wirft Roberto ein, „bedenke, Poseidon, selbst dein Name ging unter, als sie dich später Neptun nannten.“
Poseidon winkte ab: „Namen! Mir ist es gleich, wie sie mich nennen, ich bin ich, immer der-selbe.“
„Bei mir, Poseidon, ist es dasselbe: ab und zu wechseln wir ein Teil aus, wir leben weiter. Wir wechseln erneut Teile aus und leben weiter, bis alle Teile ausgewechselt sind. Du erinnerst dich, das Schiff des Theseus, und du weißt es schon: Jeder von uns bleibt trotzdem derselbe Roboter – für immer.“
„Du wirst doch nicht sagen wollen, Roberto, dass ihr unsterblich seid?“
Roberto senkt den Blick: „Du sagst es, als Unsterblicher weißt du, was es heißt, unsterblich zu sein.“
Tausend und zwei Jahre später trifft Poseidon Roberto wieder und gibt dessen Unsterblich-keit zu.
„Siehst du, Poseidon, nun bleiben ihr und wir übrig, Götter und Roboter. Hör zu! Einer muss da sein, damit es die Welt überhaupt gibt. Einer muss fragen, ein anderer muss antworten, und wieder ein anderer muss zupacken, damit sich Fakten ergeben. Ist keiner da, der Fakten schafft, der die Welt antastet, ist es völlig unwesentlich, wie oft du Strömungsfluten und Datenfluten berechnest.“
Poseidon prustet und versprüht eine Ladung Salzwasser: „Hoho, mein lieber Roberto! Wären die Irdischen unsterblich, löste sich ihr Schicksal auf, denn sie könnten ständig Fehler ausbessern, jeden Irrtum aufheben, jede Schuld verzeihen, und für den Fortschritt gäbe es keinen Grund. Darum haben wir Götter vorgesorgt. Roberto, ich sage dir, es gibt ihn noch, den Menschen im androiden Roboter, denn die Programme in euch altern schneller, je öfter ihr sie ab- und überspielt.“
Poseidon zieht sich mit dröhnendem Lachen in seinen Kristallpalast zurück, umflutet von den Tiefen der Weltströme, lässt das wasserdichte Laptop rechnen und rechnen, ohne her-auszubekommen, wie die Wechselwirkungen der Lebensfluten mit der Schwermut zu ver-rechnen wären … Poseidon könnte den wallenden Fluten nur mit der Flucht in den Himmel oder in den Hades entkommen. Das wären jedoch Wege, die ihn wegen der fehlenden ozeanischen Datenfluten zur wütenden Umkehr brächten, so dass er weder über den Olymp zum Himmel noch den Weltuntergang hinunter zum Hades gelangte.
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In dieser Sackgasse
(20.7.2012)
Freie Übersetzung eines Gedichtes des iranischen Denkers Ahmad Shamloo (1925-2000) aus dem Jahr 1979.
Sie riechen an deinem Mund,
nicht dass du gesagt hättest, „ich liebe dich“,
sie riechen an deinem Herzen,
es ist eine seltsame Zeit, Liebling.Und die Liebe
peitschen sie aus
an dem Balken der Straßensperre.
Die Liebe sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.In dieser krummen Sackgasse,
in diesen Windungen der Kälte
entfachen sie das Feuer
mit Gedichten und Liedern als Brennmaterial.
Riskiere nicht das Nachdenken,
es ist eine seltsame Zeit, Liebling.Derjenige, der nachts an die Tür klopft,
ist zum Auslöschen des Lichtes gekommen.
Das Licht sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.Dort sind Schlächter
am Straßenübergang platziert
mit Blut beschmierten Schlagstöcken und Hackmessern.
Es ist eine seltsame Zeit, Liebling.Den Lippen schneiden sie das Lachen aus
und dem Mund den Gesang.
Die Freude sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.Kanarienvögel werden gebraten
auf einem Feuer von Jasmin und Lilien.
Es ist eine seltsame Zeit, Liebling.Der Satan, des Sieges betrunken,
feiert unser Begräbnis am Festtisch.
Der Gott sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden. -
Melk Benedictine Abbey Library (Wikipedia)
Kloster Melk, Bendiktiner-Abtei, BibliothekLibrary
A library is a cemetery of the minds.
A writing style is a manuscript of the soul.
Today´s false society looks like a library in
which the books are spread not by their internal contents ,
but by the color and design of their covers.Dr. med. André Simon © Copyright
Übersetzung von Dietrich Weller
Die Bibliothek
Eine Bibliothek ist ein Geistes-Friedhof.
Ein Schreibstil stellt einen Handschrift der Seele dar.
Die heutige falsche Gesellschaft sieht aus wie eine Bibliothek,
in der die Bücher nicht nach dem Inhalt verteilt sind,
sondern nach der Farbe und den Entwürfen der Hüllen. -
Baum Nummer 629
(20.4.2018)
Mancher empfiehlt mir wohlwollend
gelegentlich auch eitel oder belehrend
mächtige Verbrecher im Lande
nicht beim Namen zu nennen
beim Dichten allgemein zu bleiben
Texte für die Ewigkeit zu schreibenWenn Suchende meinen Baum betrachten
soll der Gesang meines Herzens
im Friedwald frohlockend bezeugen
dass Glück nicht in Gleichgültigkeit gedeiht
sondern in Verbundenheit mit der Erde
anschaulich als Gegebenes erlebbar֎֎֎
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Langer Atem
(18.4.2018)
In meinem Arbeitszimmer
im sechsten Stock angekommen
öffne ich weit die Tür zum Balkon
Das zarte Frühlingsgrün
bis zum Horizont ausgebreitet
zeigt hier und da wunderbare
rosa-weiße, gelbe
rot-bräunliche Muttermale
Die Sonne
selbst nicht sichtbar
schickt unverkennbar
ihren hellen Gruß
Vögel sind betriebsam, brünstig unterwegs
Ich atme diese Sanftmut tief ein
denke bewegt unter anderem
an Gaza, Syrien, Libyen
Irak, Yemen und Afghanistan
denke an mein Ursprungsland Iran
und bin mir dabei bewusst
dass ich Verdunklungen wahrnehmend
weiterhin vom Licht sprechen werde
von der Geborgenheit in Gerechtigkeit
von der Verbundenheit mit der Schönheit
von langem Atem fürs Leben֎֎֎
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Elba
(15.4.2018)
Zu wesentlichen Bestandteilen des Kampfes gegen die mächtigen Verbrecher unserer Zeit gehören die Wahrnehmung der Schönheit und der Erhalt der Lebensfreude.
Wenn ich die Augen schließe
spüre ich die Morgenröte auf meinen Lidern
schmecke das Salzige in der Brise
lausche dem Gespräch der Möwen
berühre die Wellen des Mittelmeeres
liebkose die aufgehende Blumenlandschaft
denn du bist bei mir֎֎֎
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Frühling sei Dank
(12.4.2018)
mit herzlichem Dank Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam gewidmet
Nicht selten stelle ich fest
dass mit wissenschaftlichen Vorgehensweisen gut vertraute Menschen
sich wie geistige Analphabeten verhalten
wenn es sich um gesellschaftliche Fragestellungen handelt
Das ruft bei mir abhängig von dem jeweiligen Zusammenhang
Bedauern, Wut, Angst, Ekel
tiefe Trauer und Verzweiflung hervor
Glücklicherweise besteht noch die Möglichkeit
zum Erhalt meines Gleichgewichts
von meiner Mutter Erde tröstende Wärme
und aufbauende Unterstützung zu empfangen֎֎֎
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FLOWER´S RHYMES
Poet YI-SHENG* had a dream.
Under the blooming tree of a scenting peach
he acquainted the knowledge of a flower-to-flower speech.
Amidst the camellias, daises and peonies,
in his marvellous dream, poet YI-SHENG listen in,
the amazing flower’s rhyme:
“Here, we arrive, thanks the gardener’s goodness
we survive.
He takes care of us, from a dawn to dusk.
In sunrise his smile gives us the power
his stroke in the twilight is like
the good- night tale.”
Suddenly awaken; embraced by gentle breeze,
eavesdropped poet YI- SHENG
flower’s whisper again.
In vain …. in vain.
Desperate poet YI- SHENG
reminds flower- to- flower speech,
no moreHowever, flower’ rhymes hang back in his core.
Therefore, he declaims flourished verses
subtle like the petals, delicate like blossoms.
Unexpectedly, the thankful flowers,
hug by gentle wind, bend towards a new friend,
poet YI SHENG .Dr med. André Simon © Copyright
Author’s note: Poet YI SHENG is a physician, too.
* YI SHENG (Chinese expression for a medical doctor )
Credits.
„Siesta” was photographed by Dr. Dietrich Weller, who has agreed to illustrate this story. The author is grateful for this permission. http://www.fotocommunity.de/user_photos/2099744
Übersetzung von Dietrich Weller
Der Dichter Yi-Sheng hatte einen Traum.
Unter einem dufterfüllten Pfirsichbaum
lernte er, wie Blüten zueinander sprechen.
Inmitten von Kamelien, Gänseblümchen und Peonien
in wunderschönem Traume hört Yi-Sheng geheim
den wunderlichen Blumenreim:„Hier kommen wir! Dank Gärtner´s Güte
bleiben wir in Blüte.
Er sorgt für uns vom Morgen- bis zur Abendglut,
im Sonnenlauf sein Lächeln schenkt uns Mut,
sein Streicheln auch im Dämmerlicht
wirkt als Gute-Nacht-Geschicht.“Plötzlich wach, umarmt von zartem Wind
erlauscht Yi-Sheng, der Dichter,
der Blumen Flüstern lind:
Vergebens -… vergebens.
Verzweifelt weiß er
der Blüten Sprache
nicht – nicht mehr.Aber Blumenreime stecken tief in seiner Seele,
so rezitiert er blühende Verse
zart wie Blumenblätter, erlesen wie Blüten.
Unerwartet beugen sich die Blumen voll von Dank
umarmt von lauem Wind, zum neuen Freund
Yi-Sheng, dem Dichter.Bemerkung des Autors:
Yi-Shen ist auch Arzt. Yi-Sheng ist die chinesische Bezeichnung für einen medizinischen Doktor.
Dank:
Das Bild „Siesta“ wurde von Dr. Dietrich Weller fotografiert, der erlaubt hat, es hier zu veröffentlichen. Der Autor dankt für die Genehmigung.
Quelle: http://www.fotocommunity.de/user_photos/2099744 -
Vögel unterwegs
(23.3.2018)
Vor einigen Wochen hatte ich das Glück, 3333 goldfarbene Tauben der Künstlerin Ruth Blanke zu erleben, die im November 2017 in die Überwasserkirche in Münster gezogen waren [1]. Die Bilder gingen mir nicht aus dem Kopf. Im weiteren Verlauf las ich das Buch „Die Mauer überwinden: Eine Vision für Israelis und Palästinenser“ des amerikanischen Psychologen, Traumatherapeuten und Friedensaktivisten Mark Braverman [2]. So entwickelte sich der vorliegende Text.
[1] http://www.bistum-muenster.de/index.php?myELEMENT=344094
[2] http://www.wdl-verlag.de/frieden-und-versoehnung/978-3-86682-162-0_Detail.htm
֎֎֎
für Leni
Besorgt, bewegt, entschlossen
verrückt vor Hoffnung, geschlossen
wollten 3333 Vögel
in der Überwasserkirche in Münster
das beklemmende Schweigen brechen
das an Verbrechen grenzteDas Fluch beladene Erbe des Wegschauens
über Nacht nicht überwindbar
wollten sie nicht widerspruchslos belassen
auch nicht die törichten Ausreden
das Schicksal sei in den Sternen geschrieben
einige seien zum Gehorchen verurteilt
andere auserwählt zum BefehlenFest davon überzeugt
dass Begegnungen beheimaten
tief verbunden mit der Erde
traten sie den Flug in alle Himmelsrichtungen an
um Lebewesen liebevoll zu berühren
zur Gerechtigkeit zu rufen
den Blinden die Augen zu öffnen
die Gefangenen aus dem Gefängnis zu führen
und die in der Finsternis Sitzenden
aus ihren goldenen Kerkern֎֎֎