Schlagwort: Medizin

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    Beitrag zur Lesung Gehen oder Bleiben auf dem BDSÄ-Kongress 2017 in Gummersbach

     

    Zähne, die fehlen

    Ein Zahn, der beißt, der tut nicht weh,
    ein Zahn, der nicht mehr beißt, tut doppelt weh.
    Ist es mit Zähnen wie mit Partnern?
    Sie machen Schmerzen, bis man sie bekommen hat,
    sie machen Schmerzen, seit man sie bekommen hat,
    und machen Schmerzen, wenn sie hassen
    und schließlich uns verlassen.
    Der Zahnbruch, subjektiv genommen,
    ist ohne Zweifel immer unwillkommen.

    Mitunter sitzt die ganze Seele
    In eines Zahnes dunkler Höhle.
    Ein hohler Zahn ist ein Asket,
    der allen Lüsten widersteht,
    weil Mundgeruch dem hohle Zahn entweht.
    Auch können Zahnspanggürtel
    fungieren wie ein Keuschheitsgürtel.
    Doch hat’s die gute Eigenschaft,
    dass sich dabei die Lebenskraft,
    die oft man außenhin verschwendet,
    auf einen Innenpunkt hinwendet.
    Es ist und bleibt ein weher Zahn
    ein schlechter Schlafkumpan.

    Ein Zahn, er macht mitunter
    die faulsten Leute munter.
    Besonders an den Zähnen nagt
    der Zahn der Zeit und plagt.
    Die Lust aufs allerbeste Beafsteak
    wächst, wenn der letzte Zahn fällt weg.
    Es ist und bleibt der wehe Zahn
    ein schlechter Fresskumpan.

    Wird der Betäubungsstich gesetzt,
    und fühlst du das bekannte Bohren,
    das Zucken, Rucken und Rumoren,
    ist sie beendet, deine Weltgeschichte,
    vergessen sind die Kursberichte,
    die Steuern und das Einmaleins,
    kurz, jede Form gewohnten Seins.
    Was sonst real erscheint und wichtig,
    wird plötzlich wesenlos und nichtig.
    Es ist und bleibt der wehe Zahn
    ein schadenfroher Wegkumpan.

    Warum bohrt bloß
    der Zahnarzt früh am Morgen los?
    Ach ja: die Morgenstund
    hat Gold im Mund!

    Ja, selbst die alte Liebe rostet,
    man weiß nicht, was der Zahn im Urlaub kostet,
    denn einzig in der engen Höhle
    des wehen Zahnes weilt die Seele,
    und unter Toben und Gesaus
    entschließt du dich: Er muss heraus!

    Du kommst zum Schluss:
    Dich reizt das Apfel-Essen nicht.
    O, lass uns schauen!
    Du hast bloß Implantate nicht
    genug zum Apfel-Kauen!

  • Dr. med. Cordula Sachse-Seeboth,

    RAPIDOT, Pandoras Pillbox,

    Amazon 2017

     

    Rezension von Dr. Dietrich Weller 

    Eine Warnung vorweg: Es soll Menschen geben, die an das Gute im Menschen und besonders in unserem Gesundheitssystem glauben. Wenn Sie diesen Glauben aufrechterhalten wollen, sollten Sie Rapidot, den Debutroman von Cordula Sachse-Seeboth, der im April 2017 erschienen ist, nicht anfangen zu lesen. Denn wenn Sie anfangen, kommen Sie nicht mehr weg. Sie werden hineingerissen in einen Strudel von kurzen Kapiteln, die mit einer rasanten und leider realistisch möglichen Handlung alle Hinterhältigkeiten und kriminellen Machenschaften offenlegen, die bei der Erprobung eines neuen Medikaments im Rahmen von vorgeschriebenen Studien denkbar sind. Die Gier nach Geld und Macht sind die Treibfedern einer Bande von Gangstern im vornehmen Klinik- und Pharmamilieu von Berlin. Die Handlung spielt hauptsächlich in der Kardiologischen Klinik der Cordialité (wer könnte die Parallele zu der berühmten Charité übersehen?), wo Professor Lindberg der Leiter der zweiten Studienphase zu einem revolutionären Mittel gegen das gefährliche Vorhofflimmern ist. Rapidot ist das als Handelsname geplante Kunstwort aus rapid – schnell und Anti-dot – Gegengift.

    Die studienerfahrene Ärztin und Autorin Cordula Sachse-Seeboth schildert mit enormem Sachwissen und verblüffenden Details zu Praxis und Risiken des Studienablaufs, wie gewissenlose Drahtzieher planmäßig Menschenleben aufs Spiel setzen, um die Genehmigung für das Medikament Rapidot zu erhalten. Den Verbrechern im weißen Kittel und im blauen Zweireiher, die mit teilweise sarkastischer Eiseskälte geschildert werden, steht die junge Assistenzärztin Zoe gegenüber. Sie wird als Assistentin von Lindberg eingestellt und mit der Durchführung der Studie betraut, weil er testosterongesteuertes Interesse an ihr hat und sie ihn mit kluger Ablehnung und geistreicher Schlagfertigkeit reizt. Zoe ahnt die geplanten kriminellen Pläne der Pharmafirma und die lebensgefährdende Wirkung von Rapidot und heckt einen ebenso kriminellen Plan aus, um die Versuchspersonen zu retten. Zoe entdeckt die Hintergründe, die zu zehn „zufälligen“ Unfalltoten im Vorfeld der ersten Studienphase geführt haben. Dadurch verwickelt sie sich immer mehr in eine für sich selbst lebensbedrohliche Lage. Das Netz der Gier und der Süchte, der Lügen und Finten, der Morde und Rettungsversuche wird entfaltet, es führt zu mehreren packenden Höhepunkten und fällt dann auf total verblüffende Weise in sich zusammen.

    Obwohl der Roman 600 Seiten umfasst, wird der Leser von Kapitel zu Kapitel weitergelockt, denn die Autorin beherrscht die Dramaturgie perfekt: Sie lässt den Leser oft am Ende eines Kapitels im spannendsten Moment „hängen“ und schwenkt zu einem anderen Handlungsstrang um. (Daher kommt der Fachbegriff cliffhanger.) Die einzelnen Kapitel sind knapp und präzise aufgeteilt und geschildert. Sie springen mitten in die Handlung, und schildern Menschliches und Allzumenschliches in bildhafter Sprache, die häufig mit witzigen und geistreichen Dialogen gespickt ist. Skrupellosigkeit, Raffinesse, kriminelle Energie und tiefe Menschlichkeit werden eindrucksvoll verwoben. Die Charaktere der Handlung sind plastisch und lebensecht beschrieben, sehr gut ausgearbeitet, auch mit vielen kleinen Charakteristika versehen, und der Leser kann sich jede Hauptperson klar vorstellen. Das Böse und das Gute liegen sehr nahe beieinander. Und beides ist glaubwürdig.

    Imponierend finde ich, dass die Autorin im Anhang nach Ideen der Arzeimittelkommission, der Cochrane Collaboration und der Zeitschrift arznei-telegramm einen realisierbaren und wertvollen Katalog von Verbesserungen der bis jetzt gültigen Vorschriften für Studienabläufe zusammengestellt hat. Die dort noch enthaltenen Lücken in den Regeln haben unter anderem den vorliegenden Pharma-Thriller möglich gemacht. Dass die Autorin auch eine gehörige Portion Humor hat, zeigt sie mit dem angehängten Kapitel „Aufklärung über Nutzen und Risiken des Buchkonsums“.

    Ein beeindruckender und (auch für Nichtmediziner!) lesenswerter Debutroman, der mich neugierig macht, womit die Autorin uns demnächst überrascht. Ihren Kindern hat sie Kinderbücher versprochen, und Science-Fiction steht auch auf ihrem Plan. Wir dürfen gespannt sein.

    Dr. med. Dietrich Weller,

    Präsident im Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte BDSÄ

    —>> Lesen Sie auch www.rapidot.de

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    Tommy 

    My owner calls me Tommy. I have a large body with a thin long tail. I am plump and sit all day long on the couch feeding myself and watching TV. My owner is a very fat person. He feeds me daily with his leftover food. Every day I have breakfast, a light meal, brunch, afternoon refreshments and an opulent dinner. Between meals I love to drink coca cola and eat peanuts that I find adorable. I like eating bacon or sausages, Afterwards, I also like to eat cakes, chocolate and sweets. Every part of my body rebels against my stomach.  I´m asked: “Why should we be perpetually being engaged in administering to all your wants, while you do nothing. Simply you rest and enjoy your food. Your legs need to move, the pancreas needs the rest from the sweets and other foodstuffs. All your organs can no longer do their job”.

    Afterword

    Kim Campbell-Thornton who has written many articles and books about dogs and cats ,in the  article “Diabetes rising pets “ (image  above),  affirms: „As with people, the incidence of diabetes in cats and dogs is increasing and diabetes now affects as many as one in 50 of the animals, It is published in the literature that obesity is on the rise, No. 1, and No. 2, diabetes is on the rise right along with it.“

    Author’s note   

    Respect your body’s needs. Give your body excellent care to promote its health and well-being. Give it everything it absolutely requires including healthy food and drink.                    To continue stuffing food into a satiated body is to be trapped into believing that more of something is the cause of your happiness. To keep on feeding it is not as good as stopping. Eat, but stop when you are full.

     The World Health Organization warns: «Obesity has reached epidemic proportions globally, with more than 1 billion adults overweight – at least 300 million of them clinically obese – and is a major contributor to the global burden of chronic diseases, such as diabetes, cardiovascular diseases and disability.”  In the 21st century the simple advice for a healthy diet is “Enough is enough”.

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Tommy 

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Mein Herrchen nennt mich Tommy. Ich habe einen mächtigen Körper und einen dünnen langen Schwanz. Ich bin plump und hocke den ganzen langen Tag auf der Couch, ernähre mich selbst und sehe fern. Mein Herrchen ist eine sehr fette Person. Er füttert mich täglich mit seinen Essensüberbleibseln. Jeden Tag bekomme ich Frühstück, ein leichtes Essen, Brunch, nachmittägliche Erfrischungen und ein reichhaltiges Abendessen. Zwischen den Mahlzeiten liebe ich es, Coca Cola zu trinken und Erdnüsse zu essen, die ich wunderbar finde. Ich mag Schinkenspeck oder Würste. Danach esse ich auch gern Kuchen, Schokolade oder Süßigkeiten. Jeder Teil meines Körpers wehrt sich gegen meinen Magen. Ich werde gefragt: „Warum sollten wir uns andauernd mit deinen Wünschen beschäftigen, während du gar nichts tust? Du ruhst dich einfach aus und genießt dein Essen. Deine Beine müssen sich bewegen, die Bauchspeicheldrüse braucht Erholung von den Süßigkeiten und dem anderen Esskram. Alle deine Organe können nicht mehr länger ihre Aufgaben erledigen.“

    Nachwort

    Kim Campbell-Thornton, die viele Artikel und Bücher über Hunde und Katzen geschrieben hat, bestätig in dem Artikel „Diabetes schwemmt Haustier auf“ (siehe obiges Bild): „Genau wie bei Menschen steigt der Anteil an Diabetes bei Katzen und Hunden, und Diabetes betrifft eines von fünfzig Tieren. Es ist in der Literatur veröffentlicht, dass erstens Fettsucht immer häufiger vorkommt und zweitens Diabetes im gleichen Ausmaß ansteigt.

    Bemerkung des Autors

    Respektiere die Bedürfnisse deines Körpers. Gib deinem Körper hervorragende Pflege, um seine Gesundheit und Wohlbefinden zu gewährleisten. Gib ihm alles, was er absolut benötigt einschließlich gesunder Ernährung und Getränke.

    Weiter Nahrungsmittel in einen gesättigten Körper zu stopfen bedeutet, dass du in der Falle steckst, die dich glauben lässt, dass mehr von etwas die Ursache deines Glücks ist. Weiter zu essen ist nicht so gut wie damit aufzuhören. Iss, aber höre auf, wenn du satt bist.

    Die Weltgesundheitsorganisation warnt: „Fettsucht hat weltweit epidemische Ausmaße erreicht mit mehr als 1 Milliarde übergewichtigen Erwachsenen, von denen mindestens 300 Millionen klinisch fettsüchtig sind. Und das ist ein wesentlicher Beitrag zu der weltweiten Last der chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Behinderung.“

    Im 21. Jahrhundert ist der einfache Ratschlag für eine gesunde Ernährung „Genug ist genug!“

    Bemerkung des Übersetzers

    Das Wort Diät kommt aus dem Griechischen δίαιτα (díaita) und bedeutete ursprünglich Lebensweise. Inzwischen wird es für gesunde Ernährung benutzt.

  • Frau Silke Albrecht hat zwischen 2009 und 2015 ihre Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades im Fach Humanmedizin an der Universität Halle-Wittenberg im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin (Prof. Dr. Florian Steger) geschrieben. Die Promotion fand im Juni 2016 statt.

    Frau Dr. Albrecht hat uns freundlicherweise erlaubt, ihre Arbeit hier zu veröffentlichen. Wir sind ihr für ihre tief schürfende Recherche sehr dankbar, die zu dieser hervorragenden  Dokumentation geführt hat.

    Wenn Sie einen Einblick in die Arbeit haben wollen, schreiben Sie diesen Link der Universität Halle

    http://digital.bibliothek.uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:4-18081

    in die Zielzeile im Internet. Auf der Seite, die Sie dann finden, sehen Sie rechts ein Feld, in dem Sie die Arbeite herunterladen können.

     

     

     

     

     

  • Der Text stammt aus dem gerade erschienen Buch „Kill the ill“, Band 2, von Benita Martin, im Buchhandel und online erhältlich.

     

    Ich gründete einen Ärztequalitätszirkel. Warum? Um meinen Bildungshorizont zu erweitern.

    Fünf Ärzte musste ich finden, die das Ganze mit unterzeichneten.

    Der Form halber war noch ein Zertifikat in Deutschland von Nöten: ein Moderatorenschein.

    Also warum nicht. Werde ich eben eine Moderatorin. Die Genehmigung seitens der Kassenärztlichen Vereinigung erledigte sich, ohne Witz, wie von selbst. Keine Ahnung warum. Mein Zirkel war genehmigt, staatlicherseits abgesegnet und zertifiziert. Ich durfte an die teilnehmenden Ärzte Qualitätspunkte verteilen!

    Für ein paar einleitende Sätze.

    Naja, ganz so einfach war es denn nun doch nicht. Ich brauchte einen Referenten, der vom jeweiligen Thema Ahnung hatte.

    Aber die Themenauswahl, die Brennpunkte und allgemein üblichen allgemeinmedizinischen Bildungslücken, die konnte ich jetzt bedienen und schließen! Und das nutzte ich aus.

    Der Zuspruch war enorm: tickten doch meine Berufskollegen ähnlich wie ich, mein „rtm“, round table medicine, vereinigte nämlich verschiedene Berufsgruppen an einem Tisch. Eine Neuheit in Deutschland. Für mich als ehemalige „Ossi-Ärztin“ eher nicht, gab es doch damals ähnlich geartete fachübergreifende Mitgliederversammlungen.

    Und so fanden sich Pflegekräfte, Apotheker, Vertreter der Krankenkassen, Feuerwehrbeamte, SMH- Personal, Physiotherapeuten u.v.a.m. an meinem Tisch ein.

    Und eines Tages fiel mein Auge auf KIESER. KIESER-Training in Chemnitz. Eine feste Größe im Rehabilitationsprogramm so vieler Patienten von mir. Und damit verbunden das „fast“ Tabuthema: Beckenbodengymnastik. Dazu das „ganz“ Tabuthema: Orgasmus.

    Das galt es nun rtm-mäßig zu beleuchten.

    Also lud ich meine Arztkolleginnen und Kollegen ins Chemnitzer KIESER-Trainingscenter ein. Und siehe da. Aufgeschlossen, wie Mediziner nun so sind, erschienen auch zu diesem Workshop zahlreiche Teilnehmer.

    Demonstriert wurde die Beckenbodentrainingsmaschine, ich als Cheerleaderin tönte laut, ich wolle es probieren, aber erst, wenn alle den Raum verlassen hätten.

    Und so platzierte ich mich auf diese längliche Rolle unter Aufsicht der KIESER-Trainingsleiterin und zupfte und kniff zu, mit meinen Beckenbodenmuskeln. Und siehe da! Es kam eine Kurve auf dem Aufzeichnungsgerät zustande. Oh wie bemühte ich mich, diese nach Anleitung zu optimieren. Und wie stolz war ich, dazu gelernt zu haben betreffs Empfangs- und Liebesfreudigkeit.

    Danach marschierte ich zum anschließenden Imbiss und stellte mit Wohlwollen fest, wie der Reihe nach alle Kollegen und Kolleginnen mit leicht geröteten Wangen lächelnd und weitergebildet aus dem Trainingsraum schlenderten.

    Mein rtm war wieder ein voller Erfolg.

     

    Copyright Dr. Benita Martin

     

     

     

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    Wieder suchte diese Patientin meine Praxis auf. Sie klagte über Kreislaufstörung, Schwindel, ja Angst! Würden diese Attacken auftreten, wenn ein Klient bei ihr im SadoStudio „am Kreuz hinge“, die Folgen wären nicht auszudenken! Ich solle doch bitte noch einmal alles genau durchchecken, ihr dürfe niemals ein Fehler unterlaufen.

    Sie klagte über Stress und überhaupt wäre es ein überaus risikovoller Job, so als Domina.

    Sie schaute gedankenversunken auf ihre ultrahohen Stils, die bis zur Oberkante mit Schlamm beschmiert waren. Ich sagte: „Mein Gott, wo waren sie denn mit ihren wunderschönen Schuhen?! In einer Suhle?“

    Daraufhin sie: „Ja so ähnlich. Nachher kommt ein Kunde. Der besteht darauf, meine schlammbespritzen Stiefel abzulecken. Wir nennen ihn den ‚Stiefelknecht‘. Und danach wird es noch stressiger, weil dann muss ich einen nächsten Klienten, bekleidet mit schwarzen Lackutensilien, in Maske und gefesselt, durch die Stadt chauffieren.“

    Mir blieb der Mund offen…

     

    (Auszug aus „kill the ill“ Teil 2, Copyright Dr. Benita Martin))

  • Bitteres Ende

    Was lange ihre Heimstatt war,
    wo sie gelebt in ganzen Horden,
    wo sie gehaust seit Tag und Jahr,
    das ist zur Falle jetzt geworden.

    Verhängnisvoll war just der Platz,
    den sie erwählt für ihr Zuhause –
    hat jemand erst mal einen Schatz,
    zerstört ihn auch schon ein Banause.

    Allhier in Wennemanns Salon,
    da hatten sie Quartier genommen,
    doch Wennemann kennt kein Pardon,
    ist ihnen auf die Spur gekommen.

    Mit einem Sauger sog er sie
    heraus aus ihrem trauten Hort,
    nur zwei entkamen, wer weiss wie,
    und sie verkrochen sich vor Ort.

    Doch Wennemann voll List und Arg
    hat alle Ritzen abgedichtet
    und so den beiden einen Sarg
    der ganz besondren Art errichtet.

    Dort schleppt sich nun mit letzter Kraft
    verzweifelt, abgekämpft und leise,
    auf dass der Tod Erlösung schafft,
    der Ameisbock zu der Ameise.

    Den letzten ihres Volkes ist
    ein Denk- und Mahnmal hier errichtet,
    das Aberach voll Lust und List
    den Nachgeborenen gedichtet.

    (20.07.2013) © E W Grundmann

     

    Lüge

    Die Lüge dringt
    überall ein
    und
    überall durch,
    sie ist so
    geschmeidig
    und klein
    und hat ganz
    kurze Beine.

    (21.03.2005) © E W Grundmann

     

    Fettsucht

    Er lebte
    von der Hand in den
    Mund und daran
    starb er auch,
    denn seine
    Rechte wusste nicht, was
    seine Linke tat

    (03.04.2005)© E W Grundmann

     

    Augen

    Die Rätselfrage, welche Augen
    zum Sehen überhaupt nicht taugen,
    sei leicht, sagst du, und glaubst, es sind
    die Hühneraugen, welche blind.

    Ich muss dir aber widerstehen,
    weil nämlich Hühner prächtig sehen –
    und weisst du auch, womit sie’s tun?
    Mit Hühneraugen sieht das Huhn!

    (20.12.2013 0100)© E W Grundmann

     

    Greifswald

    Als die Wissenschaft zur Erden
    sprach, du sollst zur Kugel werden,
    da war Greifswald einmal schneller,
    und es blieb so flach wie’n Teller.

    Dieses schuld’ ich, sprach es eilig,
    meinen Türmen, die mir heilig,
    dass sie sich nicht seitwärts neigen
    und verschiedne Himmel zeigen.

    Da stehn sie nun jahrein jahraus,
    Maria, Jakob, Nikolaus,
    wo die Erde ewig bleibe
    eine schöne platte Scheibe.

    Und ich weise es dir gerne:
    Nahst du dich der Stadt von ferne,
    siehst du, niemand kann’s verhehlen,
    alle drei in Parallelen.

    (05.04.2015 0245)© E W Grundmann

     

    Erkenntnis

    Will ich die Welt betrachten,
    muss ich auch mich selbst beachten.

    Doch seh’ ich, was ich sehe,
    stets aus meiner Augenhöhe.

    Demzufolge sehe ich
    beinah alles, nur nicht mich,

    denn niemand ist es eigen,
    selber sich zu übersteigen,

    um dort, wie soll ich’s nennen,
    ausserhalb sich zu erkennen.

    Es bleibt nach diesem Gleichnis
    in mir selbst die Welt Geheimnis.

    (08.09.2004) © E W Grundmann

     

    Epithalamium

    Das Wunder
    bleibt ein
    Geheimnis
    du kannst es
    erfahren
    aber nicht
    erklären
    du kannst
    es empfangen
    und verschenken
    aber nicht
    erzwingen
    hüten kannst du es
    oder
    zerstören
    es weilt nur
    wo Wahrheit ist
    und Freiheit.

    Menschen zugedacht
    nicht
    von Menschen gemacht
    ist Liebe.

    (für Karen und Christian 08.04.2000)© E W Grundmann

     

    Klarwasser

    Einst wandert ich durch dunkles kaltes Tal,
    tief eingeschnitten und geheimnisschwer,
    es war das sagenhafte Digital.

    Darinnen floss ganz schnell ein Fluss daher,
    so schnell, dass er nicht war zu sehen, hören,
    zu riechen oder fühlen, aber er,

    der Fluss, der Digi hiess, ich kann es schwören,
    riss alles mit sich, was man wissen wollte,
    um an dem Ufer jeden zu betören.

    Und wenn dann einer tat, was er nicht sollte,
    klammheimlich ohne Angelschein zu fischen,
    dann ging das leidlich, bis dass die Revolte

    der ehrenhaften Fischer ihn erwischen
    und in die ferne Wüste schicken würde.
    Genauso ist es auch geschehn inzwischen.

    Der Digifluss trägt eine schwere Bürde:
    das klare Wissen für der Menschen Leben,
    und er benötigt eine sichre Hürde,

    ihm gegen Unrat, Missbrauch Schutz zu geben,
    damit an seinen Ufern Früchte wachsen.
    Ihr Leute, danach, danach müsst ihr streben.

    (19.12.2013 0435) (Terzinen)© E W Grundmann

     

    Virtuelles

    Will Herr Wennemann spazieren gehen,
    mag er nicht aus seinem Fenster sehen,
    sondern fragt TV und Internet,
    was es heute für ein Wetter hätt’.

    In den meisten Fällen bleibt er hängen,
    weil ganz andre Themen ihn bedrängen
    oder weil die Technik wieder zickt –
    Abend wird’s, bis er sich durchgeklickt.

    Bestenfalles sieht er Leute wandern,
    er versetzt sich dann in diese andern,
    und so verwandelt sich ganz auf die Schnelle
    sein Spaziergang in das Virtuelle.

    Manchmal wünscht er sich, dass an der Türe
    Aberach, der Freund, stünd’ und entführe
    ihn zu einem Rundgang um den Block,
    dass er nicht nur in der Stube hock’.

    Da erfand der Fortschritt – welch ein Hohn –
    das verflixte Bildertelefon.
    Wennemann hat’s um so mehr beweint,
    als der Freund nur noch am Schirm erscheint.

    (05.02.2013) © E W Grundmann

     

    Teppich

    Frau Grote erbte einen Teppich
    und sprach zu sich, sie sagte nebbich,
    wie hoch kann man das Stück bewerten?
    Ich frage besser den Experten.

    Der Fachmann hat nach zehn Sekunden
    neunhundert für genug befunden.
    Die Freude war die allergrösste,
    als neunzehntausend sie erlöste.

    Schon bald ihr Glücksgefühl entschwindet,
    just als ihr Käufer einen findet,
    der ihm den Teppich wird entlohnen
    mit sieben Komma zwei Millionen.

    So wird die Wirklichkeit gemessen
    an unsern Plänen und Int’ressen.
    Uns stimmt nur alles das zufrieden,
    was wir nach unserm Willen schmieden.

    Doch haben wir es dann bekommen,
    wird es uns wieder abgenommen,
    und sei es nur, weil Wünsche schwanken
    und dauernd sich um andres ranken.

    (27.01.2012)© E W Grundmann

     

    Werte

    Kinderstube:
    Du sollst es einmal besser haben.
    Du sollst alles haben.
    Haben.
    Nimm dir.
    Iss, soviel du kannst.
    Wenn du nicht mehr kannst,
    nimm Naschwerk.
    Etwas geht immer.
    Nie hörst du die Worte:
    – Das tut man nicht.
    – Das musst du verantworten.
    – Das ist deine Pflicht und Schuldigkeit.

    Später:
    Sei Knallhart.
    Sei tough,
    gnadenlos erfolgreich,
    schlagkräftig,
    schlage kräftig.
    Maximiere den Gewinn.
    Du hast nichts zu verschenken.
    Du kannst alles kaufen.
    Mitnehmen und abräumen.
    Abstauben, dass es staubt.
    Was nicht verboten ist,
    das ist erlaubt.

    (05.03.2008) © E W Grundmann

     

    Evolution

    Wennemann hat seinen Laden
    gut geführt und ausgestaltet
    mit Qualität in hohen Graden,
    hochmodern und nicht veraltet.

    Dann verkaufte er an einen
    jüngeren und hoffnungsfrohen
    Mann vom Fach, so wollt’ es scheinen.
    Die Erwartung ist entflohen,

    als der Neue alle Werte
    konterte und demontierte
    und mit ungerechter Härte
    die Angestellten schikanierte.

    Alles, was an gutem Standard
    Wennemann hat eingerichtet,
    hat der Neue voller Hoffart
    abgeschafft und glatt vernichtet.

    Wennemann gerät ins Grübeln,
    ob abgesehn vom Einzelfalle
    sich die Menschheit je von Übeln
    aufschwingt hin zur Ruhmeshalle,

    oder ob, was wir Entwicklung
    nennen, nicht ein Kreisgang sei,
    der in ewiger Verstrickung
    angepflockt im Einerlei.

    Aberach versucht zu trösten:
    Fortschritt bei den Qualitäten
    stosse immer auf die grössten
    Hindernisse und da täten

    Vor- und Rückschritt alternieren
    so, dass man erst nach Äonen
    kann die Frage ventilieren
    nach den Evolutionen.

    Wennemann seufzt hörbar auf:
    Wie soll ich da noch hoffen,
    denn mein kurzer Lebenslauf
    lässt ja alle Fragen offen.

    (30.03.2013)© E W Grundmann

     

    Republikflucht

    Im Namen des Volkes
    ergeht folgendes Urteil.
    Der Republikflucht wird
    für schuldig befunden
    die Deutsche Demokratische Republik
    (im Folgenden „DDR“).

    Urteilsbegründung

    Die DDR hat sich am 3. Oktober 1990 verflüchtigt.
    Sie erfüllt den Straftatbestand
    der Republikflucht (§213 StGB) in Tateinheit
    mit Landesverräterischer Nachrichtenübermittlung (§99),
    Ungesetzlicher Verbindungsaufnahme (§219)
    Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele (§218)
    Zusammenrottung (§217),
    Wahlbehinderung (§210),
    Wahlfälschung (§211)
    Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses (§202),
    Nachrichtenunterdrückung (§203),
    Verbrecherischer Beschädigung sozialistischen Eigentums (§164)
    Unterlassung der Anzeige (§225).

    Straferschwerend ist zu würdigen
    die planvolle Absicht bei der Straftat,
    das Zurücklassen Schutzbefohlener,
    Kollaboration mit dem Klassenfeind.

    Im Strafmass wird auf lebenslänglich erkannt.

    Bewährung ist ausgeschlossen.
    Es ist sicherzustellen, dass von deutschem Boden
    nie wieder Sozialismus ausgeht,
    ob braun, ob rot oder sonstiger Couleur.
    Die Kosten des Verfahrens tragen die üblichen Dummen.

    (1.5.2010) © E W Grundmann

     

    Der Ort des Seins

    ist
    HIER und JETZT und SO.

    Ein Gefängnis
    wäre er,
    stünde er nicht
    in der Spannung
    zu
    GESTERN und MORGEN,
    ANDERSWIE und ANDERSWO.

    Das Haus des
    Wirklichen
    ist unbewohnbar
    ohne den Garten
    des Möglichen.

    (09.05.2004)© E W Grundmann

     

    Die fünf Leben der Zwiebel

    Aus Samen zieht der Gärtner Giebel
    zunächst die kleine Steckezwiebel.

    Bald drauf wird Hausfrau Helga Ranzen
    die Zwiebel in den Garten pflanzen,

    und schon nach ein paar kurzen Wochen
    nascht von dem Schlot ihr Stiefsohn Jochen.

    Die ganze Zwiebel isst dann später
    ihr zweiter Sohn, der kleine Peter.

    Zuletzt nach Durchgang beider Söhne
    gibts von der Zwiebel Duft und Töne.

    ( ~20.08.1995)© E W Grundmann

     

    Garten

    Ein schöner Garten schwebt dir vor
    mit edlen Pflanzen hinterm Tor,
    wobei alleine solches zählt,
    was du dir selber auserwählt.

    Du ackerst und du sähst und eggst
    und sorgst, dass alles prächtig wächst,
    du freust dich, wenn die Triebe sprossen,
    denn fleissig hast du sie begossen.

    Doch schon nach ein paar Tagen siehst
    du, dass viel Ungebetnes spriesst –
    selbst, wenn du rodest, wenn du jätest,
    und wenn du Tag und Nacht es tätest,

    und wenn du zupfst mit Stiel und Stumpf:
    das Unkraut feiert den Triumph –
    nur deine Kandidaten kranken,
    statt, wie gewünscht, empor zu ranken.

    Das Elend kann man nur beenden,
    wenn sich die Perspektiven wenden,
    wenn Unkraut du zu Kraut erhebst
    und dann im Gegenzug erlebst,

    dass nun die Kräuter dich auch adeln,
    und statt als Unmensch dich zu tadeln,
    sie dich zum Menschen nun erheben
    und fortan friedlich mit dir leben.

    Sei schlau und greif zu dieser List:
    Lass die Natur so wie sie ist,
    sonst wird sie wieder, wie sie war.
    Ist das jetzt endlich allen klar?

    (05.02.2010) © E W Grundmann

     

    Frischluft

    Aberach, ein Feind von allen Düften,
    ist in seinem Hause stets am Lüften,
    Fenster hält er offen auch bei Frosten,
    ebenso bei Schneesturm aus dem Osten,
    selbst die Gartentüre lässt er offen,
    um sich bessre Lüftung zu erhoffen.

    Wennemann, der zu Besuch gekommen,
    hat die Scheiben heimlich rausgenommen
    und verkauft, um Aberach zu testen.
    Dieser findet jetzt die Luft am besten.

    (23.01.2013) © E W Grundmann

     

    Heckenschnitt

    Wennemann benimmt sich wie die tote
    sagenhafte Kunstfigur Quijote.
    Einst vor Jahren liess er um den ganzen
    Rand des Gartens eine Hecke pflanzen.

    Leider, was er damals nicht bedachte,
    hat der Gartenbauer, der es machte,
    überwiegend Stacheln und auch Dornen
    angepflanzt zur Rache für die Nornen,

    die den Wennemann nun stachen, schnitten,
    ritzten. Viel hat Wennemann erlitten,
    bis er sich zum Kampf entschloss und Waffen
    für den Krieg begann sich anzuschaffen.

    Seither sieht man ihn in Schweiss und Blut
    gebadet und mit Inbrunst, Glut und Wut,
    mit Motorsäge, Häcksler, Beil und Schere
    kämpfen, so als gelte es die Ehre.

    (18.04.2013)© E W Grundmann

     

    wetter

    er bedaure
    sagte der kommentator
    das schlechte wetter

    der garten
    frohlockte
    über den milden regen

    das wetter ist immer schlecht
    irgendwo
    und immer gut
    irgendwo
    für irgendwen
    und auch hier
    irgendwann

    (11.05.2013)© E W Grundmann

     

    New Blue

    Eine Woche Sturm und Grau –
    heute wieder himmlisch blau,
    alle Wolken sind gewichen
    und der Himmel frisch gestrichen.

    Die wir verloren längst geglaubt,
    von bösen Mächten schnöd geraubt,
    sie spiegelt sich, die Sonne,
    in der vollen Regentonne.

    (02.06.2010 Neuendorf / Hiddensee)© E W Gr

  • Zertifizierer und Zertifizierte

     

    Der Klinikverwalter hielt den Erlös des Hospitals seit Jahren in der Gewinnzone. Die Eingabe eines Advokaten bei Gericht, der die Konkurrenzklinik vertrat, zwang ihn zu einer Nachzertifizierung.

    Zertifizierer prüfen jedes angeforderte Papier genau, vergleichen es mit Hilfe elek-tronischer Schablonen, um keine Dokumentationslücke zu übersehen, und fordern ständig neue Informationen an.

    HansEmsig, der Leiter der Firma Zertissimo, genoss es, mit dem ständigen Stochern in Unterlagen bei den Kunden Dankbarkeit zu wecken. Jedes Klinik-Team möchte das andere übertreffen, die Gunst der Haushaltsplaner erheischen. Doch kein Team organisiert den Arbeitsprozess so perfekt, dass Herr Emsig kein Optimierungspotenzial entdecken würde.

    Dr. Moor, der für die Zertifizierung abgestellte Arzt, wusste, wann Herr Emsig den Aufzug bestieg. Der Doktor bezog Position in der finsteren Ecke des Korridors zum Kon-ferenzzimmer im siebten Stock. Dort befandsich eine Schalttafel des Lifts. Auf- und Abfahr-Geschwindigkeit, Ein- und Ausstieg regulierte man für den zügigen Ablauf von Konferenzen. Dr. Moor öffnete die Schalttafel und ließ Hans Emsig in den Keller fahren.

    HansEmsigfuhr zurück; einer von der Firma Zertissimo stieg im Parterre hinzu. Der Lift karrte sie hinab. HansEmsig fragte den Mitarbeiter: »Wissen Sie, wer für den Fahrstuhl verantwortlich ist?«

    »Wird der Hausmeister sein«, murmelte der Fachkollege, »er ist fällig. Der Aufzug hält ja im Parterre!«

    Der nächste Fachgenosse stieg zu. Drei Fachkräfte der Firma Zertissimo gerieten in den Keller. Jede Stunde geht dem Profit verloren, die man nicht mit Zertifizieren verbringt. Sie trösteten sich damit, eine Gewinn bringende Zertifizierungslücke aufzuspüren.

    In der Eingangshalle berieten sie die Lage. Sie mochten keinen gegen sich aufbringen, dessen Dankbarkeit sie brauchen dürften. Die Herren – ein Vierter kam hinzu –  vereinbarten, dass der Jüngste die Stockwerke zum Konferenzzimmer hinaufsteigen und den Arzt holen soll.

    Er nahm den Lift im ersten Stock und gelangte in den siebten. Dr. Moor gratulierte dem Zertissimo. Wie erwartet, fragte Dr. Moornicht nach dem Grund der Verspätung. Die Firmengenossen hatten die Anzeige über der Aufzugtür verfolgt und machten es dem Jüngsten nach.

    Endlich besprach Firma Zertissimo mit Dr. Moor die Nachzertifizierung. Ärzte gehören zur schwierigsten Kundschaft. Man begeistert sie zwar für  Prozessqualität und Qualitätsmanagement, Psychiater aberhalten es für Aberglauben, dass Zertifizierung Erfolg bringen soll. Sie fördere allenfalls die informationsleere Dokumentation.

    »Es ist jetzt alles auf dem modernsten Stand«, begann Herr Emsig, »wir widerlegen den Klägeranwalt. Das Gericht wird künftig genau prüfen, ob es seine Klagen annimmt.«

    »Meine Herren«, antwortete Dr. Moor, »stillhalten, kein Interesse erregen, das ist nichtmein Rezept. Ich war es, der das Interesse des Klägers auf unser Hospital lenkte.«

    »Sie?«

    »Beruhigen Sie sich! Ich tat es, um Zertissimo zu zertifizieren. Sehen Sie, ein Klinikum ist ein Organismus. Mag es Ihnen auch gegen den Bürstenstrich gehen: Organische Prozesse bleiben ständig in der Schwebe. Ändert sich das Organ, ändert sich der Prozess. Wer nicht aufpasst und sich nur nach der Prozessqualitätsvorschrift richtet, verliert den Anschluss.«

    »Da haben wir es«, warf der zweite der Firma Zertifissimo ein, »der Organismus braucht Betriebsstörungen, um das Anpassen nicht zu verlernen!«

    Dr. Moor lächelte: »Genau, meinHerr! Das gesunde System gleicht jeden Defekt aus, es findet selbst den Ausweg.«

    »Dochsicher«, stürmte der Dritte von Zertissimo vor, »nur bis zu einer gewissenGrenze.«

    »An dieser Grenze«, erklärt Dr. Moor, »wird der Organismus zornig. Er bestraft Grenzüberschreitung mit Krebs, Depression oder Suizid.«

    »Das ist nicht unsere Kompetenz«, stellt der vierte Zertissimist fest, »nennen Sie ein Beispiel, das in unsere Kompetenz gehört!«

    »Gern. Patienten, Lokalpolitiker, die Medien würden aufschreien, wenn wir den Be-trieb herunterfahren. Betrachten Sie Ihre Ratschläge! Wo taucht der brauchbare auf?«

    »Aber Herr Dr. Moor, das gehört nicht zu unserer Kompetenz!«

    »Doch! Sie stören den Organismus. Sie schaffen den Leidenden ohne Eigenschaft. Sie heften ihm Nummern an, obendrein vernichten Sie seinen Namen. Sie rechtfertigen jede Kostenoptimierung, werfen das Ziel des Organismus über Bord. Sie lösen seine Beziehungen auf. Aus Sozialdaten und Gesundheitskosten zimmern Sie eine dubiose Signifikanz, eingebettet in Zertissimo-Diagramme, die niemand glaubt.«

    Eine Pause trat ein.

    »Lassen Sie uns zum Ende kommen«, lächelt Dr. Moor, »Ihre Analyse macht namenlose Patienten zur Ursache für Kostenproduktion. Zertissimo erstellt irgendein Statistik-Diagramm. Es sieht wie ein allergischer Ausschlag auf der Haut des Organismus aus … Verstehen Sie nun, dass Sie mich zwingen, gegen den Ausschlag vorzugehen, obwohl er für michals Psychiater fachfremd ist?«

    Herr Emsig hakt ungeduldig nach: »Warum haben Sie, Herr Dr. Moor, uns den Streich mit dem Aufzug gespielt?«

    Dr. Moor lächelt. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie ÄrzteundPatienten ohne Eigenschaften produzieren. Sie versuchen mit Ihrem Raster alles abzufangen, was den Menschen betrifft, das Schicksal eines Kranken, das Tun eines behandelnden Doktors. Sie verdammen das Gesprächals Kostentreiber, Sie haben keine Vorstellung vom Wert des Gesprächs für Patientund den Organismus.«

    »Wir bitten Sie, HerrDoktor, denken Sie an die Geschäftsführung des Hospitals! Sie braucht den Vergleich mit Zahlen, nicht mit Worten!«

    »… und ich brauche Worte«, gab Dr. Moor zurück, »damit habe ich Erfolg, präsentiere dem Verwaltungsleiter wachsende undnicht fallende Fallzahlen. Wir Psychiater verschrei-ben andere Rezepte und verrechnen uns nie beim Nachzählen.«

    Hans Emsig fand keine Antwort.

    Dr. Moor schaute lächelnd den jüngsten Zertifizierer an: »Ich halte Sie für talentiert. Ich sähe Sie gern im Funktionsbereich Qualität der Klinik. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sich einmal verändern möchten. Der Funktionsbereich ist meine Aufgabe.«

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ bei dem BDSÄ-Kongress in Würzburg 2016

     

    Die Leiden des Philoktet und der Lessing’sche Laokoon  

    Zu meiner Schulzeit war es in der gymnasialen Mittelstufe noch üblich, am Tag vor Beginn der Ferien an die Tafel zu schreiben:

    “Es ist schon immer so gewesen – am letzten Tag wird vorgelesen.”

    Unser vorlesender Mitschüler machte das ausgezeichnet, und die Texte, die er zu Gehör brachte, waren unterhaltsam und erheiternd. Eines Tages hörten wir  “Der Besuch im Karzer”, eine Humoreske des Gießener Autors Ernst Eckstein. Sie spielt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts  an einem Gießener Gymnasium. Der Direktor, ein jovialer Altphilologe mit besonderen Aussprache-Gepflogenheiten – er verwandelt die hellen Vokale samt und sonders in dunklere – liest mit Schülern der Oberstufe das Sophokles-Drama Philoktet. Der Heros ist mit den anderen Griechen nach Troja aufgebrochen und wird unterwegs von einer Schlange gebissen. Er empfindet den Schmerz als so unerträglich, dass er fortwährend und durchdringend schreit und ihn die Gefährten entnervt auf der Insel Lemnos zurücklassen.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet-Bild1

     

    Bild 1: Rotfigurige Bauchlekythos NY ca. 430 v. Chr.

     

    Zum Jubel der Klasse verdeutscht der übersetzende Primaner das Wehgeschrei des Unglücklichen mit ai, ai, ai, ai… “ Da fällt ihm der Direktor in die Rede: Sagen Sä au, au, au, au. Das “ai” als Interjektion des Schmerzes äst sprachwädrig”. Auch den Einwurf „nun, umso besser“ verwandelt die eigentümliche Diktion des Pädagogen in:  “non, omso bässer”, natürlich ebenfalls zum Entzücken der Schüler. Ich muss es mir leider versagen, den Fortgang des Unterrichts und seine Folgen mit Ihnen zu genießen; denn wir haben es hier mit einem leidenden griechischen Helden zu tun.

    In seiner Abhandlung “Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie” bezeichnet Lessing subsummierend „die bildenden Künste überhaupt” mit dem Begriff  Malerei. So stellt er den hemmungslos mit weit aufgerissenem Mund schreienden Philoktet aus der Dichtung dem maßvollen Ausdruck des Schmerzes gegenüber, den die Bildhauer dem trojanischen Priester Laokoon und seinen Söhnen gegeben haben, obwohl alle drei in Kürze der tödlichen Umklammerung durch die gewaltigen Schlangen erliegen werden.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet Bild 2.doc

    Bild 2: Laokoon, Vatikan

    Nach: W.-H. Schuchhardt, Die Kunst der Griechen, 1940, 440 Abb. 410

     

    Entgegen der Behauptung Winckelmanns, Laokoon leide wie der Philoktet des Sophokles, zeigt nun Lessing, dass es den Bildhauern gelang, beim Laokoon “unter den angenommenen Umständen des körperlichen  Schmerzes…auf die höchste Schönheit” hin zu arbeiten, wozu allerdings die entstellende Heftigkeit herabgesetzt, “Schreien in Seufzen” gemildert werden musste, “nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise” verzerrt. “Man reiße dem Laokoon in Gedanken“ einmal „den Mund auf und urteile”.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet Bild 3.doc

    Bild 3: Was ist schon Sport ohne Schrei?

    Nur eine Darstellung, die “Schönheit und Schmerz zugleich” zeige, könne Mitleid  erregen, während der Anblick heftigen Schmerzes allein abscheulich sei und “Unlust erregt, ohne dass die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann”[1].

    Was jedoch den schreienden Philoktet angeht, so ist der überwältigende, fast  unangemessene Schmerz nicht das einzige Übel, das ihn befallen hat. Die schlecht heilende Wunde entwickelt nämlich einen widerwärtigen Gestank, den Freunde und Kriegsgefährten nicht ertragen. Dieses in der Sekundärliteratur (z. B. DNP 9, 832 f. RE 1938, 2501[2]) durchweg geradezu genüsslich, manchmal sogar als einziges[3], beschriebene Symptom, spielt offenbar nicht in allen antiken Quellen eine vergleichbare Rolle. Im sog. Schiffskatalog im 2. Gesang der homerischen Ilias ist zwar von Schmerzen die Rede, nicht aber vom üblen Wundgeruch (Il. 2, 714-728). Auch Sophokles lässt Odysseus lediglich mitteilen:

    „Ihm fraß am Fuße eine Wunde, eitrig, nässend,
    und seine wilden Schmerzensschreie, Jammern, Stöhnen
    durchhallten unaufhörlich unser Heer und  machten
    uns Spenden, Opfer, jeden stillen Gottesdienst
    unmöglich.“ (Philoktetes 7-11).

    Später äußert sich der Betroffene selbst gegen Neoptolemos:

    „Du, edel nach Charakter wie nach Abstammung,
    mein Junge, fandest standhaft dich mit allem ab,
    mit meinen schrillen Schreien, meinem Pestgestank.“ (κακῂ ὀςμῂ).

    (Philoktetes 874-876).

    Die Ausdrucksweise der Weggefährten ist bemerkenswert zurückhaltend. Immerhin geht es um die Verletzungsfolgen eines befreundeten Kommandanten von sieben Schiffen mit Bogenschützen, den die Achäer schnöde vernachlässigen und auf einer unwirtlichen Insel zurücklassen[4]. Wollte Sophokles ein Geheimnis aus dieser unrühmlichen Tatsache machen? Oder hielt er – ein Priester des Heil-Heros Halon und Wegbereiter des Asklepioskultes in Athen, der wohl mit dem Medizinbetrieb einigermaßen vertraut gewesen ist – den Gestank einer eitrigen, nässenden Wunde für so selbstverständlich, dass er ihn nur nebenbei erwähnte? Wir heutigen Ärzte würden das Krankheitsbild als „feuchte infizierte, stinkende Gangrän“[5] bezeichnen. Werfen wir einen kurzen Blick auf andere retrospektive Differentialdiagnosen:

    1. Chronoblastomykose, eine Pilzinfektion der Wunde, geht auch bei eingetretener bakterieller Superinfektion gewöhnlich nicht mit derart heftigen Schmerzen einher[6].

    2. Gicht erklärt zwar exzessive Schmerzen, nicht aber die purulenten Exsudate[7].

    3. Aktinomykose, eine Mischinfektion, häufig durch Bakterien aus der Gruppe der Aktinomyzeten verursacht, führt nicht zu Schmerzen.

    4. Osteomyelitis – das Ausmaß der Schmerzen passt nicht dazu[8].

    5. Eine Anaerobierinfektion[9] wie Gasbrand hätte, ohne Antibiotika, wohl zu einem fatalen Ende geführt und kommt schon aus diesem Grund kaum in Betracht.

    6. Am wahrscheinlichsten ist eine chronische bakterielle Mischinfektion aus Aerobiern bzw. Anaerobiern mit der Folge einer Gangrän.

    In der Bibliothek Apollodors, einer vermutlich aus dem 1. Jh. n. Chr. stammenden Mythensammlung (Apollod. Epitome 3, 27), wird der Bezug zwischen Gestank und schmerzhafter Wunde klarer, und auch Hygin erwähnt in seiner Fabelsammlung (Hyg. fab. 102, 2. Jhs. n. Chr.) den ekelerregenden Geruch. Beide berufen sich vermutlich auf  ältere, für uns verlorene, Quellen wie den Philoktet des Aischylos oder des Euripides. Wir wissen zwar, dass die gleichnamige Tragödie des Euripides zusammen mit zwei anderen tragischen Stücken und einem Satyrspiel des Dichters an den Dionysien des Jahres 431 v. Chr. aufgeführt wurde, doch ihren Wortlaut kennen wir nicht[10]. Dies gilt auch für den früher entstandenen Philoktet des Aischylos[11]. Jener üble Geruch muss aber früh zum Philoktet-Mythos gehört haben, war er doch ein Argument, mit dem die Griechen ihr unmenschliches Verhalten – die Vernachlässigung eines kranken Gefährten – zu erklären suchten. Dass wir keine archaischen Darstellungen des Ausgesetzten haben, hängt vielleicht mit jenem ’schlechten Gewissen‘ zusammen. Als dann Aischylos und nach ihm Euripides und Sophokles die Tragik des Philoktet als Schicksal darstellten, trat er auch in der Bildkunst auf[12]. Doch während der Kranke in der Sophokles-Tragödie an der Grenze zum Wahnsinn einen regelrechten Schrei-Exzess absolviert[13], zeigen ihn die bisher bekannten bildlichen Darstellungen stets mit einem  geschlossenen, allenfalls nur leicht geöffneten Mund[14]. In ihrer dezenten Gestaltung bleiben sie sogar hinter dem maßvollen Ausdruck des Schmerzes zurück, der den Laokoon und seine Söhne kennzeichnet. Eine Wiedergabe ‚in Schönheit‘ siegte in klassischer Zeit allemal über tragischen Realismus[15].

    Philoktet aber wird, weil man ihn vor Troja braucht, später aus Lemnos abgeholt und durch die Söhne des Asklepios, Machaon und Podaleirios, von seinem Übel geheilt.

    Literatur:

    [1]Laokoon. Lessings Werke Band 3 (Stuttgart 1873) 69. 76 f.

    [2] Der Neue Pauly; Realezyklopädie der klassischen Altertumswissenschaften; dazu auch   M. Grmek – D. Gourevitch, Les maladies dans l’art antique (Paris 1998) 99. 109; E. Simon, Philoktetes – ein kranker Heros, in: H. Cancik (Hrsg.), Geschichte – Tradition  – Reflexion. Festschrift für Martin Hengel zum 70. Geburtstag (Tübingen 1996) 16; J. Söring, Das Schreien des Philoktet. Sophokles und Heiner Müller, in: J. Söring – O. Poltera – N. Duplain (Hrsg), Le théâtre antique et sa réception. Hommage à Walter Spoerri (Neuchâtel 1994) 154 f.  A. Thomasen,  Philoktet – ein Thema mit Variationen, Clio medica 18, 1983, 1.

    [3] So P. Blome, Der Mythos in der griechischen Kunst. Der troianische Krieg findet statt, in: Traum und Wirklichkeit Troia (Stuttgart 2001) 144; C. W. Müller, Das Bildprogramm der Silberbecher von Hoby, JdI 109, 1994, 321.

    [4] Simon a. O. 1996, 16 Anm. 8.

    [5] St. Geroulanos – R. Bridler, Trauma. Wund-Entstehung und Wund-Pflege im antiken Griechenland (Mainz 1994) 57 f.

    [6] H. A. Johnson MD, The foot that stalled a thousand ships: a controversial case from the 13th century BC, J R Soc Med 96, 2003, 507 f.

    [7] ders. a. O. 508.

    [8] ders. ebenda.

    [9] Geroulanos – Bridler a. O. 57 f.

    [10] Müller a. O. 322 Anm. 4.

    [11] Müller a. O. 340 Anm. 63 f.

    [12]Simon a. O. 18, dazu auch brieflich am 20.03.2016.

    [13]Soph. Phil. 735-816.

    [14] LIMC VII (1994) 376-385 Nr. 12-74 Taf. 321-326 s. v. Philoktetes ( M. Pipili); Simon a. O. 1996, 15 Anm. 4. 5.

    [15]Dazu W. Wamser-Krasznai, In Schönheit sterben, in; dies., Fließende Grenzen (Budapest 2015) 22-35.

    Copyright Dr. Dr. Waltrud Wamser-Krasznai

  • Beitrag zur Lesung „Teufeleien“ beim BDSÄ-Kongress 2916

     

    Spät abends Hausbesuch in einem Mehrfamilienhaus.
    Ja?“, krächzt eine junge Frauenstimme durch die Sprechanlage.
    „Hier ist Dr. Weller von der Notfallpraxis!“, sage ich.
    „Wir brauchen Sie nicht mehr, es hat sich schon erledigt!“ Die Stimme klingt fest.
    „Moment mal, wir sind doch extra gerufen worden! Was ist denn los?“
    Ich höre im Hintergrund Stimmen, dann: „Ja, gut, dann kommen Sie mal hoch!“
    Matthias, Rettungsassistent und mein Fahrer, mit dem ich schon viele Dienste gemacht habe, schüttelt den Kopf: „Was ist das denn?“
    Wir fahren mit dem Aufzug in den 3. Stock, die Wohnungstür ist einen Spalt weit geöffnet. Wir sehen den blonden Wuschelkopf einer jungen Frau, darunter einen Pulli, der nur den Hals umschlingt. Zum Anziehen hat es wohl nicht mehr gereicht. Das große Dekolleté über dem BH ist frei. Aber sie hat wenigstens eine lange Hose an. Ich stelle mich und Matthias vor.

    Die Frau blickt auf Matthias: „Aber der kommt nicht rein! Nur Sie!“
    Meine Antwort kommt schnell und sicher:
    „Wir sind ein Team. Entweder wir kommen beide rein oder wir gehen wieder!“
    „Also gut.“, sagt sie und gibt die Tür frei. Dahinter steht ein Mann, grußlos, wortlos, angezogen. Ihr Vater, stellt sich später heraus.
    Wir betreten den Wohnraum, in dem neben dem Esstisch ein zerwühltes Bett steht. Ich sehe die offene Schlafzimmertür und dort im Bett eine Frau im Nachthemd sitzen, wohl meine Patientin, vermute ich. Zielsicher gehe ich auf die Tür zu, da stellt sich die Tochter in den Weg.
    „Nein, Sie dürfen da nicht rein.“
    „Wie soll ich denn Ihre Mutter untersuchen? Sie haben uns doch gerufen für sie, oder nicht?“
    „Na gut, dann gehen Sie rein, aber nur Sie! Er bleibt draußen!“
    Sie deutet auf Matthias.
    Im Schlafzimmer begrüße ich die Patientin und stelle mich vor.
    Mein erster Eindruck: Diese Frau ist nicht krank. Was soll ich hier?
    Währenddessen steht die Tochter bewachend an der Tür. Matthias hat keine Chance. Auch die Mutter redet dauernd im Befehlston russisch mit der Tochter. Ich verstehe kein Wort, aber mir ist klar: Hier brennt die Luft.
    Ich bleibe ruhig: „Was möchten Sie von mir?“
    „Ich nicht gut, möchte Sie Blut nehmen und Hochdruckblut messen!“Deshalb ruft man mich nachts? Was soll das denn? –
    Trotzdem sage ich freundlich: „Ich kann hier kein Blut untersuchen, aber den Blutdruck kann ich messen.“ –
    Ich schaue zu Matthias, der im Wohnzimmer in unseren Koffer greift und das Blutdruckgerät heraus holt und es mir geben will. Aber die Tochter verwehrt den Zugang. Also muss ich ins Wohnzimmer gehen und das Gerät selbst holen.
    „Der Blutdruck ist 140/80. Das ist normal. Lassen Sie mich mal Herz und Lunge abhören.“
    Ich untersuche die Frau durch das Nachthemd hindurch. Ja nichts provozieren, denke ich.
    „Auch normal!“
    „Das wollte ich wissen. Dann können Sie wieder gehen!“
    Sie zeigt zur Tür. Die Patientin schaut mich mit Augen an, aus denen böses Feuer sprüht.
    Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich an den Esstisch. Der Mann steht im Eck und schaut zu. Er sagt nichts.
    „Ich muss zuerst noch etwas aufschreiben, und wir brauchen die Personalien.“
    Matthias sagt freundlich zu der Tochter: „Geben Sie uns bitte die Krankenversicherungskarte Ihrer Mutter!“
    „Nein, bekommen Sie nicht!“
    Die Mutter steht plötzlich neben uns.
    „Wir bezahlen so! Was kostet das?“
    „Auch gut,“, sage ich, „das muss ich kurz ausrechnen“.Ich zücke mein iPhone und schlage die App mit der Gebührenordnung auf.
    „Nein, Sie schicken uns eine Rechnung!“, schnarrt die Mutter.
    Matthias reagiert ruhig, zieht ein Formular heraus und legt es der Tochter mit seinem Kugelschreiber hin:
    „Bitte unterschreiben Sie hier, dass wir Ihnen eine Rechnung schicken dürfen!“
    Die Tochter nimmt den Stift, beugt sich über das Blatt. In diesem Moment schlägt die Mutter ihr den Stift aus der Hand: „Du unterschreibst nichts!“
    Ich mache einen neuen Versuch.
    „Dann sagen Sie mir doch wenigstens Ihren Namen.“
    „Das geht Sie gar nichts an! Gehen Sie jetzt!“
    „Moment mal, soll ich jetzt die Polizei rufen, damit Sie der Ihren Namen sagen?“
    Ich fixiere die Frau mit meinen Blicken.
    „Ich brauche Ihren Namen, damit ich Ihnen die Rechnung schicken kann, die Sie wollen.“
    „Der steht auf der Klingel, das haben Sie doch gelesen!“
    „Aha, ist das dieser Namen hier?“
    Ich zeige Ihr unseren schriftlichen Einsatzbefehl. Sie schaut nicht hin und sagt: „Ja!“
    „Wie heißen Sie mit Vornamen? Das brauche ich auch.“
    „Das geht Sie nichts an! Sage ich nicht!“
    „Aber dann kann ich keine Rechnung schreiben!“
    „Martina!“
    „Aha,“, sage ich, „geht doch! Danke!“
    Und ich ahne im selben Moment, dass der Name nicht stimmt.
    Da sagt die Tochter zu mir: „Meine Mutter ist misstrauisch. Können wir zwei mal vor die Tür gehen und in Ruhe reden?“
    „Du bleibst hier!“, kreischt die Mutter und packt sie am Pullover, der immer noch um den Hals hängt. Der Mann hat immer noch nichts gesagt. Er hat wohl hier nichts zu melden. Dann greift die Patientin mich wieder an:
    „Warum sind Sie denn immer noch da? Nehmen Sie jetzt endlich ihren Koffer, und gehen Sie aus der Wohnung!“
    Jetzt reicht´s mir. Ich mache etwas, was ich noch nie in dreiundvierzig Jahren bei einem Hausbesuch gemacht habe. Ich stehe kommentarlos auf, schaue mich nicht mehr um und verlasse grußlos die Wohnung.

    Draußen im Auto holen wir beide erst mal tief Luft.
    „Was war das denn?“, sagt Matthias.
    „Das waren unverschämte Leute. So was habe ich auch noch nie erlebt.“
    „Und was machen wir jetzt mit der Rechnung?“
    Ich schaue ihn an.
    „Nichts, Matthias, nichts machen wir. Und weiß du warum? Wir wissen doch, dass diese Leute die Rechnung nicht zahlen. Die wollten uns nur loshaben.“
    „Da hast du Recht!“
    „Eben, und du weißt, dass die Rechnung von unserem Rechnungsdienst abgeschickt wird, der auch die Mahnungen schreibt und mir in jedem Fall 20 Euro abzieht für diesen Service, unabhängig davon, ob die Rechnung bezahlt ist oder nicht. Und ich habe überhaupt keine Lust, mich unverschämt behandeln und rausschmeißen zu lassen und dafür noch 20 Euro zu zahlen.“
    „Aber der nächste Arzt läuft in die gleiche Falle wie du!“
    „Kann gut sein, deshalb müssen wir schauen, ob wir eine Warnnotiz in die Krankenakte machen können. Vielleicht haben wir die Frau im PC.“
    Tatsächlich: Sie war vor zwei Jahren mal in der Praxis. Der Vorname Martina ist gelogen. Die Adresse und das Alter passen. Ich schreibe einen entsprechenden Bericht als „Notiz“. Hoffentlich liest der nächste Kollege diese Nachricht, bevor er die Frau besucht.

    Schlagfertigkeit ist das, was uns zu spät einfällt. Wie wär´s denn mit diesem Satz?
    „In der russischen Literatur lese ich immer wieder von der großzügigen Gastfreundschaft der Russen. Sie sind die ersten Russen, die ich kennen lerne, auf die das nicht passt.“