Kennt ihr Eichelhähne? Nein, keine Eichelhäher, sondern Eichelhähne, es gibt auch Eichelschweine, vielleicht auch Eichelhunde. Das kleine dünne Mädchen im Nachkriegsberlin kannte sie auch nicht. Ihr Spielkamerad erzählte ihr davon auf dem Weg zum Gärtner. Sie traute sich nicht mehr, den Weg alleine zu gehen, seit sie der Zwerghahn angegriffen hatte. Er war ihr auf die Schulter gesprungen und hatte ihr auf den Kopf gehackt. Sie schrie fürchterlich und warf den Korb mit den Kartoffelschalen und Gemüseabfällen weit von sich. Vielleicht hatte der Anblick der Zwerghühner die Erinnerung an die Eichelhähne bei ihm geweckt. Zuhause erzählte sie ihrer Mutter ganz aufgeregt davon. Das gab es doch nicht! Sicher hatte der Junge gelogen. Aber was sagte die Mama? Er habe keineswegs gelogen! Es sei tatsächlich möglich, aus Eicheln und Kastanien Hühner, Hähne und andere Tiere zu machen! Es schien ihr immer noch unglaublich. Und nicht nur seine Mutter könne es, nein, auch sie, ihre Mama könne es auch! Sie solle nur hübsch brav ihren Mittagsschlaf machen, wenn sie aufwache, seien sie da, die Eichelhühner und Eichelhähne.
Sie schlief diesmal schnell ein bei dem Gedanken an die winzigen Hühnchen und Hähnchen, in der Größe der Eicheln, braun wie sie oder weiß oder gepunktet, die Hähne mit schillernden Schwanzfedern. Sie erwachte schneller als sonst. Die freudige Erwartung trieb sie aus dem Bett, als die Mutter nicht sofort auf ihren Ruf hin erschien. „Mama, wo bist du?“ Sicher war sie frische Milch holen. Das kleine Mädchen schlich in die Küche, um die Hühnchen nicht zu erschrecken. Aber was sah sie da? Was war aus ihren schönen Eicheln geworden? Da standen sie, aufgespießt auf Streichhölzern, die in halbierten Korken steckten. Einigen klebte an einem Ende sogar eine winzige Feder. Der Anblick der widerwärtigen Gebilde löste eine maßlose Wut in ihr aus. Sie nahm Rache, sie riss den Hühner-sein-wollenden Eicheln die Streichhölzer raus, sie vernichtete die Gebilde, sie zerlegte sie in ihre Bestandteile. Nur ihre schönen, glatten Eicheln waren zerstört, hatten Löcher.
Als ihr Zerstörungswerk beendet war, erschrak sie. Was hatte sie getan? Ihre Mama hatte das alles für sie gemacht, während sie ihren Mittagsschlaf hielt, hatte sie überraschen wollen. Sie weinte. Sie weinte über die Enttäuschung ihrer Mutter, sie weinte darüber, dass sie so hässlich gewesen war, sie weinte, weil sie keine Eichelhähne hatte, ja, sie weinte, weil es die Eichelhähne, die sie sich vorgestellt hatte, nicht gab. Ihre Mutter erschrak, als sie ihr weinendes Töchterchen am Küchentisch sah. Wie lieb tröstete sie ihr Kind: „Weine nicht, hör auf, Mama bringt alles wieder in Ordnung“. Und die Mutter brachte die Welt wieder in Ordnung, was sie unter Ordnung verstand, sie piekte all den Eicheln die Streichhölzer wieder in den Leib und steckte sie in die halbierten Korken. Es blieben aber Eicheln mit Streichhölzern, wandelten sich nicht in Eichelhähne.
Aus: Helga Thomas, Geschichten (m)einer Kindheit, Sursee 2007, S.20f
Dieser Text wurde bei dem BDSÄ-.Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema “Zauberei und Realität”