Die Darstellung echter Krankheitszeichen bei antiken Bildwerken ist eine Rarität, lange nicht so häufig, wie wir Ärzte, Medizinhistoriker und manchmal auch Archäologen mit unserer retrospektiven Diagnostik es gern hätten. Gleichwohl begegnen uns gelegentlich Darstellungen, die wir vorsichtshalber nicht pathologische Befunde, sondern
1. Abweichungen von der Norm
nennen wollen. Da gibt es die
a. numerische Aberration, also eine quantitative Abweichung von der Norm.
Abb. 1 Linker Vorfuß, Corvaro/Latium, 3./2. Jh. v. Chr.
(nach L. Capasso 1999, 31 Abb. E 0.2)
Hier ist ein Fuß mit sechs Zehen wiedergegeben. Hat der Koroplast (Tonbildner) wirklich eine Polydaktylie darstellen wollen[1], oder handelt es sich um ein Versehen, eine Unachtsamkeit des Kunsthandwerkers? Liegen rituelle Gründe vor? Haben wir es mit dem Fragment einer Figur oder eines Votivfußes zu tun? Viele offene Fragen!
Etwas anders liegt der Fall bei einem Fuß aus Praeneste, dem heutigen Palestrina. Die überzählige sechste Zehe ist deutlich kürzer und offenbar nicht vollständig von der fünften getrennt. Man gewinnt den Eindruck, daß es dem Koroplasten, der etwas Ähnliches aus eigener Anschauung am Lebenden gekannt haben mag, tatsächlich um die Darstellung einer Normabweichung ging.
Abb. 2 Praeneste/Palestrina, frühe römische Kaiserzeit
(nach M. Grmek – D. Gourevitch 1998, 289 f. Abb. 227)
Noch weniger häufig ist die
b. qualitative Aberration.
Ein um 2000 v. Chr. auf Kreta entstandenes Terrakottafigürchen zeigt eine beträchtliche Umfangsvermehrung des linken Beines.
Abb. 3 Lipoedem (?) aus einem Höhenheiligtum auf Kreta, um 2000 v. Chr.
(nach M. Grmek – D. Gourevitch 1998, 293 Abb. 230)
Offensichtlich ist die Veränderung einseitig. Man denkt an ein Krankheitsbild aus dem Umkreis Lymphoedem, Lipoedem, Elephanthiasis, Papillomatosis cutis lymphostatica, die allerdings an den Beinen häufiger doppelseitig auftreten. So läßt sich denn auch ein „Ausreißer“, eine Fehlform, wie sie in jeder Werkstatt passieren können, nicht völlig ausschließen.
Im 7. Jh. v. Chr. konnten die Pferdemenschen, Kentauren, sowohl mit männlichen als auch mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen dargestellt werden; nicht als Dokumentation eines hermaphroditischen Irrwegs der Natur, sondern als Ausdruck des Dämonischen, das all diesen Mischwesen innewohnt.
Abb. 4 Ayia Irini/ Zypern 7. Jh. v. Chr. Meddelhavsmuseet Stockholm
(nach V. Karageorghis 2003, 164 f. Nr. 190)
2. Abstraktionen und Stilisierungen
Naturgetreue Formen können landschaftsspezifisch abstrahiert oder zeitbedingt stilisiert sein. Den bewußten Abweichungen von der physiologischen Anatomie des Menschen kommt bisweilen nicht der geringste Krankheitswert zu. Die Angabe eines zusätzlichen vierten Gliedes am fünften Finger ist durchaus nicht als pathologisch zu verstehen, sondern als eine
a. spezifisch regionale Gestaltungsweise[2].
Man bediente sich ihrer bei den Kouroi, überlebensgroßen marmornen Jünglingsfiguren archaischer Zeit, und zwar ausschließlich in der Landschaft Attika. Streng parallel und ganz naturwidrig liegen die Finger nebeneinander. Es ist eine reine Kunstform.
Abb. 5 Sunion, Kuros A , frühes 6. Jh. v. Chr. (nach W. Martini 1990, 130 Abb. 37)
Auch andere Körperteile hat man vorsätzlich verändert, abstrahiert. Die Ohrmuschel des Kouros A ist vollkommen vertikal gegeben, mit ornamentalen Windungen, parallel verlaufender Helix und Anthelix und einem übergroßen kugelrunden Tragus[3].
Abb. 6 Sunion, Kuros A , frühes 6. Jh. v. Chr. (nach W. Martini 1990, 18. 204 Abb. 3
b. zeitgebundene Stilisierung
Nicht auf Attika beschränkt ist die Vermehrung der naturgegebenen vier Abdominalmuskel-Kompartimente auf sechs bei archaischen Männerfiguren. Beim attischen Kuros A von Sounion wirkt die lineare Sechsteilung der Bauchwand vollkommen graphisch.
Abb. 7 Sounion, Kouros A, frühes 6. Jh. v. Chr. (nach W. Martini 1990, 118 f. Abb. 34)
Dagegen stellt der Koroplast aus einer Werkstatt in Tarent (Westgriechenland) die sechs Kompartimente des geraden Bauchmuskels als plastisch gewölbte, durch tiefe Einziehungen von einander abgesetzte, ‚Kissen‘ dar.
Abb. 8 Tarentiner Symposiast, Neapel (nach A. Levi 1924, 26 f. Abb. 28)
Die ebenfalls noch in archaischer Zeit entstandene Terrakottafigur zeigt einen Symposiasten, einen zum Bankett gelagerten jungen Mann[4].
Mehr als eine Generation später, in klassischer Zeit, halten sich die Skulpteure eher an die anatomischen Gegebenheiten. Eine römische Kopie der um 440/430 v. Chr. geschaffenen Statue des Diomedes lässt das Relief der vorderen Bauchwand mit den vier durch Faserplatten verbundenen Kompartimenten des Musculus rectus abdominalis erkennen.
Abb. 9 Statue ca. 440 v. Chr. (nach A. Benninghoff – K. Goerttler 1957, 162 Abb. 102)
Der Kuriosität halber folgen einige Beispiele von retrospektiven Diagnosen, die nur als
3. Fehlinterpretationen bezeichnet werden können.
Abb. 10 Reibfinger aus Marmor (nach E. Holländer 1912, 306 f. Abb. 198)
Die Beugestellung des Fingers verlockt dazu, an eine Kontraktur des Mittelgelenks oder an einen schnappenden Finger, digitus saltans, zu denken. Doch sind diese beiden Krankheitsbilder nicht gravierend und nicht häufig genug, um eine solche Fülle von Darstellungen erwarten zu lassen wie die Ausgrabungen im gesamten Mittelmeerraum ergaben. Mitfunde von Reibschalen unterstützen die Deutung als Reibfinger, eine Art von kleinen Mörserkeulen, in der „üblichen, einem gebogenen Daumen ähnlichen“ Form[5]. Sie bestehen aus Basalt, Marmor oder Kalkstein und wurden zum Reiben von Salben, Schminke und dergleichen verwendet.
Abb. 11 Terrakottafigur aus Ayia Irini/Zypern, Anf. 6. Jh. v. Chr.
(nach V. Karageorghis 1993, 27 Nr. 66 Taf. 18, 1)
Für einen angehenden Unfallchirurgen ist es gewiss verlockend, in der zyprischen Männerstatue einen Soldaten zu sehen, „der seinen gebrochenen Arm mittels eines Bandes um den Hals in rechtwinkliger Beugung im Ellenbogengelenk hält, wobei der Unterarm in einer Mittelstellung zwischen Pronation und Supination steht“[6]. Dieser „Soldat“ ist jedoch kein Einzel-‚Fall‘. Er gehört zur großen Gruppe männlicher Gewandfiguren aus Kalkstein oder Ton, die auf Zypern seit der Mitte des 7. Jhs. und im 6. Jh. v. Chr. in Heiligtümer geweiht wurden[7]. Für das Motiv des gebeugt eingehüllten rechten Armes, verbunden mit dem Gestus der zur Faust geballten Hand hat man bisher noch keine wirklich überzeugende Deutung gefunden[8]. Die Interpretation als Gebets- oder Verehrungsgestus[9] kann schon deshalb nicht völlig befriedigen, weil es auch männliche Statuen mit dem traditionellen Gruß- oder Gebetsgestus gibt, nämlich dem erhobenen rechten Unterarm und der nach vorn gerichteten offenen Hand[10].
Einen besonders reizvollen ‚Fall‘ versuchte man in die „Statue eines jungen, bildschönen armverletzten römischen Mädchens“ hineinzudeuten[11]. Doch der Mantelbausch, der den linken Arm umhüllt, sollte nicht als Armtragetuch mißverstanden werden. Es handelt sich vielmehr um ein Gewandmotiv, das die jugendliche Anmut und die kokette Haltung des sitzenden Mädchens vom Kapitol wirkungsvoll unterstreicht.
Abb. 12 Sitzendes Mädchen, Rom, Kapitolinische Museen, Anf. 3. Jh. v. Chr.
(nach Bulle 1922, 123 Abb. 171)
Bildnachweis und abgekürzt zitierte Literatur:
Benninghoff – Goerttler 1954: A. Benninghoff – K. Goerttler, Lehrbuch der Anatomie des Menschen 1 (München – Berlin – Wien 1957) Abb. 9
Bulle 1922: H. Bulle, Der schöne Mensch im Altertum (München 1922) Abb. 12
Capasso 1999: L. Capasso, Le terrecotte votive come fonti di informazioni paleopatologiche, in: G. Baggieri (Hrsg.), „Speranza e sofferenza“ nei votivi anatomici dell’Antichità (Rom 1999) Abb. 1
Grmek – Gourevitch 1998: M. Grmek – D. Gourevitch, Les maladies dans l’art antique (Poitiers 1998) Abb. 2 und 3
Holländer 1912: E. Holländer, Plastik und Medizin (Stuttgart 1912) Abb. 10
Karageorghis 1993: V. Karageorghis, The Coroplastic Art of Ancient Cyprus III (Nicosia 1993) Abb. 11
Karageorghis 2003: V. Karageorghis, The Cyprus Collections in the Medelhavsmuseet (Nicosia 2003) Abb. 4
Levi 1924: A. Levi, Le Terrecotte figurate del Museo Nazionale di Napoli (Florenz 1924) Abb. 8
W. Martini 1990: W. Martini, Die archaische Plastik der Griechen (Darmstadt 1990) Abb. 5-7
Mylonas 2003: D. Mylonas, Ikonographie und Typologie der kyprischen archaischen Kalksteinplastik, in: V. Karageorghis – S. Rogge (Hrsg.), Junge zyprische Archäologie (Münster – New York – München – Berlin 2003) 51-71
Papaxenopoulos 1981: A. Papaxenopoulos, Zypriotische Medizin in der Antike, Diss. Universität Würzburg 1981
Schadewaldt u. a. 1966: H. Schadewaldt – L. Binet – Ch. Maillant – I. Veith, Kunst und Medizin (Köln 1966) 64 f.
Schmidt 1968: G. Schmidt, Kyprische Bildwerke aus dem Heraion von Samos (Bonn 1968)
Senff 1993: R. Senff, Das Apollonheiligtum von Idalion (Jonsered 1993)
Wamser-Krasznai 2013: W. Wamser-Krasznai, Für Götter gelagert. Studien zu Typen und Deutung Tarentiner Symposiasten (Budapest 2013)
Wiegand – Schrader 1904: Th. Wiegand – H. Schrader, Priene (Berlin 1904
[1] Capasso 1999, 31 Abb. E 0.2.
[2] W. Martini, Die archaische Plastik der Griechen (Darmstadt 1990) 130. 203 f. Abb. 37.
[3] Martini 1990, 204.
[4] Levi 1924, 26 f. Abb. 28; Wamser-Krasznai 2013, 182 Nr. 437 Abb. 83.
[5] Wiegand – Schrader 1904, 393.
[6] Papaxenopoulos 1981, 21 f. Abb. 1.
[7] Senff 1993, 25. 30 Taf. 3 f. 51 d-f.
[8] […] „verschiedene kultische Gesten, die sich seit frühesten Zeiten herauskristalisiert haben […] Die Armhaltung […] ist als bestimmter religiöser Gestus zu definieren“ […], Mylonas 2003, 54 f.; […] Der Gestus […] „einer dienenden Bereitschaft“, Schmidt 1968, 103; […] „der rechte (Arm) in einer Mantelschlaufe mit geballter Faust vor die Brust genommen“ […] Senff 1993.
[9] Senff 1993, 25 Anm. 204.
[10] Senff 1993, 34 Taf. 12 g-i und 13 e-g.
[11] H. Schadewaldt – L. Binet – Ch. Maillant – I. Veith, Kunst und Medizin (Köln 1966) 64 f. Abb. 46, fälschlich „Vatikan. Museen“.
Copyright Frau Dr. Dr. Waltrud Wamser-Krasznai