Beitrag zur Lesung “Teufeleien” beim BDSÄ-Kongress 2916
Spät abends Hausbesuch in einem Mehrfamilienhaus.
Ja?“, krächzt eine junge Frauenstimme durch die Sprechanlage.
„Hier ist Dr. Weller von der Notfallpraxis!“, sage ich.
„Wir brauchen Sie nicht mehr, es hat sich schon erledigt!“ Die Stimme klingt fest.
„Moment mal, wir sind doch extra gerufen worden! Was ist denn los?“
Ich höre im Hintergrund Stimmen, dann: „Ja, gut, dann kommen Sie mal hoch!“
Matthias, Rettungsassistent und mein Fahrer, mit dem ich schon viele Dienste gemacht habe, schüttelt den Kopf: „Was ist das denn?“
Wir fahren mit dem Aufzug in den 3. Stock, die Wohnungstür ist einen Spalt weit geöffnet. Wir sehen den blonden Wuschelkopf einer jungen Frau, darunter einen Pulli, der nur den Hals umschlingt. Zum Anziehen hat es wohl nicht mehr gereicht. Das große Dekolleté über dem BH ist frei. Aber sie hat wenigstens eine lange Hose an. Ich stelle mich und Matthias vor.
Die Frau blickt auf Matthias: „Aber der kommt nicht rein! Nur Sie!“
Meine Antwort kommt schnell und sicher:
„Wir sind ein Team. Entweder wir kommen beide rein oder wir gehen wieder!“
„Also gut.“, sagt sie und gibt die Tür frei. Dahinter steht ein Mann, grußlos, wortlos, angezogen. Ihr Vater, stellt sich später heraus.
Wir betreten den Wohnraum, in dem neben dem Esstisch ein zerwühltes Bett steht. Ich sehe die offene Schlafzimmertür und dort im Bett eine Frau im Nachthemd sitzen, wohl meine Patientin, vermute ich. Zielsicher gehe ich auf die Tür zu, da stellt sich die Tochter in den Weg.
„Nein, Sie dürfen da nicht rein.“
„Wie soll ich denn Ihre Mutter untersuchen? Sie haben uns doch gerufen für sie, oder nicht?“
„Na gut, dann gehen Sie rein, aber nur Sie! Er bleibt draußen!“
Sie deutet auf Matthias.
Im Schlafzimmer begrüße ich die Patientin und stelle mich vor.
Mein erster Eindruck: Diese Frau ist nicht krank. Was soll ich hier?
Währenddessen steht die Tochter bewachend an der Tür. Matthias hat keine Chance. Auch die Mutter redet dauernd im Befehlston russisch mit der Tochter. Ich verstehe kein Wort, aber mir ist klar: Hier brennt die Luft.
Ich bleibe ruhig: „Was möchten Sie von mir?“
„Ich nicht gut, möchte Sie Blut nehmen und Hochdruckblut messen!“Deshalb ruft man mich nachts? Was soll das denn? –
Trotzdem sage ich freundlich: „Ich kann hier kein Blut untersuchen, aber den Blutdruck kann ich messen.“ –
Ich schaue zu Matthias, der im Wohnzimmer in unseren Koffer greift und das Blutdruckgerät heraus holt und es mir geben will. Aber die Tochter verwehrt den Zugang. Also muss ich ins Wohnzimmer gehen und das Gerät selbst holen.
„Der Blutdruck ist 140/80. Das ist normal. Lassen Sie mich mal Herz und Lunge abhören.“
Ich untersuche die Frau durch das Nachthemd hindurch. Ja nichts provozieren, denke ich.
„Auch normal!“
„Das wollte ich wissen. Dann können Sie wieder gehen!“
Sie zeigt zur Tür. Die Patientin schaut mich mit Augen an, aus denen böses Feuer sprüht.
Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich an den Esstisch. Der Mann steht im Eck und schaut zu. Er sagt nichts.
„Ich muss zuerst noch etwas aufschreiben, und wir brauchen die Personalien.“
Matthias sagt freundlich zu der Tochter: „Geben Sie uns bitte die Krankenversicherungskarte Ihrer Mutter!“
„Nein, bekommen Sie nicht!“
Die Mutter steht plötzlich neben uns.
„Wir bezahlen so! Was kostet das?“
„Auch gut,“, sage ich, „das muss ich kurz ausrechnen“.Ich zücke mein iPhone und schlage die App mit der Gebührenordnung auf.
„Nein, Sie schicken uns eine Rechnung!“, schnarrt die Mutter.
Matthias reagiert ruhig, zieht ein Formular heraus und legt es der Tochter mit seinem Kugelschreiber hin:
„Bitte unterschreiben Sie hier, dass wir Ihnen eine Rechnung schicken dürfen!“
Die Tochter nimmt den Stift, beugt sich über das Blatt. In diesem Moment schlägt die Mutter ihr den Stift aus der Hand: „Du unterschreibst nichts!“
Ich mache einen neuen Versuch.
„Dann sagen Sie mir doch wenigstens Ihren Namen.“
„Das geht Sie gar nichts an! Gehen Sie jetzt!“
“Moment mal, soll ich jetzt die Polizei rufen, damit Sie der Ihren Namen sagen?“
Ich fixiere die Frau mit meinen Blicken.
„Ich brauche Ihren Namen, damit ich Ihnen die Rechnung schicken kann, die Sie wollen.“
„Der steht auf der Klingel, das haben Sie doch gelesen!“
„Aha, ist das dieser Namen hier?“
Ich zeige Ihr unseren schriftlichen Einsatzbefehl. Sie schaut nicht hin und sagt: „Ja!“
„Wie heißen Sie mit Vornamen? Das brauche ich auch.“
„Das geht Sie nichts an! Sage ich nicht!“
„Aber dann kann ich keine Rechnung schreiben!“
„Martina!“
„Aha,“, sage ich, „geht doch! Danke!“
Und ich ahne im selben Moment, dass der Name nicht stimmt.
Da sagt die Tochter zu mir: „Meine Mutter ist misstrauisch. Können wir zwei mal vor die Tür gehen und in Ruhe reden?“
„Du bleibst hier!“, kreischt die Mutter und packt sie am Pullover, der immer noch um den Hals hängt. Der Mann hat immer noch nichts gesagt. Er hat wohl hier nichts zu melden. Dann greift die Patientin mich wieder an:
„Warum sind Sie denn immer noch da? Nehmen Sie jetzt endlich ihren Koffer, und gehen Sie aus der Wohnung!“
Jetzt reicht´s mir. Ich mache etwas, was ich noch nie in dreiundvierzig Jahren bei einem Hausbesuch gemacht habe. Ich stehe kommentarlos auf, schaue mich nicht mehr um und verlasse grußlos die Wohnung.
Draußen im Auto holen wir beide erst mal tief Luft.
„Was war das denn?“, sagt Matthias.
„Das waren unverschämte Leute. So was habe ich auch noch nie erlebt.“
„Und was machen wir jetzt mit der Rechnung?“
Ich schaue ihn an.
„Nichts, Matthias, nichts machen wir. Und weiß du warum? Wir wissen doch, dass diese Leute die Rechnung nicht zahlen. Die wollten uns nur loshaben.“
„Da hast du Recht!“
„Eben, und du weißt, dass die Rechnung von unserem Rechnungsdienst abgeschickt wird, der auch die Mahnungen schreibt und mir in jedem Fall 20 Euro abzieht für diesen Service, unabhängig davon, ob die Rechnung bezahlt ist oder nicht. Und ich habe überhaupt keine Lust, mich unverschämt behandeln und rausschmeißen zu lassen und dafür noch 20 Euro zu zahlen.“
„Aber der nächste Arzt läuft in die gleiche Falle wie du!“
„Kann gut sein, deshalb müssen wir schauen, ob wir eine Warnnotiz in die Krankenakte machen können. Vielleicht haben wir die Frau im PC.“
Tatsächlich: Sie war vor zwei Jahren mal in der Praxis. Der Vorname Martina ist gelogen. Die Adresse und das Alter passen. Ich schreibe einen entsprechenden Bericht als „Notiz“. Hoffentlich liest der nächste Kollege diese Nachricht, bevor er die Frau besucht.
Schlagfertigkeit ist das, was uns zu spät einfällt. Wie wär´s denn mit diesem Satz?
„In der russischen Literatur lese ich immer wieder von der großzügigen Gastfreundschaft der Russen. Sie sind die ersten Russen, die ich kennen lerne, auf die das nicht passt.“