Ich war ein Teufel
bis ein Engel kam
und mich verführte,
nun sind wir beides:
viel Teufel und wenig Engelein
Energisch schob ich die Bettdecke zur Seite und setzte mich mit einem Ruck auf. Warum konnte ich nicht schlafen? Eigentlich kann ich immer und überall schlafen, warum jetzt nicht?
Ich stand auf, öffnete das Fenster und zog den Rollladen höher. Leise legte ich mich wieder ins Bett, ich wollte Judith nicht stören.
„Kevin! Gib endlich Ruhe!“
Judith war wach.
„Schlaf endlich, was ist mit dir?“
Sie war ziemlich ärgerlich. So ärgerlich, wie man mitten in der Nacht ist, schlafen will und der Partner nicht schlafen kann. Und wenn Judith ärgerlich ist, dann ist sie besonders ärgerlich.
„Liebling! Ich weiß auch nicht. Ich bin einfach nicht müde. Das heißt, ich bin einfach wach“, antwortete ich beschwichtigend.
„Warum bist du nicht müde, und warum bist du wach?“ Judith wollte nicht beschwichtigt werden.
„Liebling!“
„Hör auf mit Liebling. Das ist immer verdächtig.“
„Judith! Ich habe einfach das Gefühl, dass irgendetwas passiert.“
Ich verstand meinen Zustand selbst nicht und sollte ihn Judith erklären.
Ich drehte mich auf meine rechte Seite, auf meine Einschlafseite.
„Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, auch Judith drehte sich um.
Fest entschlossen einzuschlafen zog ich meine Decke um die Schultern. Während ich auf den Schlaf wartete, merkte ich, dass Judith steif und fest in ihrem Bett lag und auch darauf wartete, dass ich einschlief. Nach wenigen Minuten versuchte ich es auf meiner zweiten Einschlafseite. Judith bewegte sich nicht. Aber ich spürte ihre Wachheit körperlich. Nachdem ich mich auf meine erste Einschlafseite zurückgedreht hatte, setzte sich Judith ärgerlich auf, sehr ärgerlich. Sie knipste ihre Nachtischlampe an. Mit ihrer typischen Bewegung strich sie sich ihre Haarsträhne auf dem Gesicht und beugte sich zu mir.
„Kevin! Willst du mir etwas sagen?“
„Nein“ Was sollte ich dir sagen wollen?“
„Seit Stunden wälzt du dich von einer Seite zur anderen. Was ist los mit dir?“
Ihre Stimme war tranchiermesserscharf.
„Ich weiß nicht, was mit mir los ist?“
Ich merkte, dass meine Stimme schuldbewusst klang, obwohl ich gerade das verhindern wollte.
„Liebst du mich nicht mehr?“
Diese Frage klang schon wie eine Tatsache.
„Quatsch, ich liebe dich fest wie immer.“
„Gibt es eine andere Frau? Gib zu, es gibt eine andere Frau!“
Jetzt setzte ich mich auf. Wir saßen nebeneinander und sahen einander an.
„Blödsinn, Du bist meine Traumfrau. Ich liebe dich.“
„Das ist schnell gesagt. Vielleicht bist du aber nur zu feige, es mir zu sagen“, bohrte sie weiter.
Keine Frau dieser Welt weiß, wann sie aufhören sollte, insbesondere Judith nicht. Ich jedenfalls wurde auch ärgerlich.
„Ich bin nicht feige.“
„Wenn du nicht feige bist, warum sagst du es mir nicht?“
Jetzt war ich rechtschaffend und ehrlich böse.
„Es gibt nichts zu sagen!“ schrie ich.
„Ich liebe dich, und es gibt keine andere Frau“, fauchte ich sie an.
Mir nicht glaubend, sagte sie: „Gut, ich glaube dir. Dann hast du ein anderes Problem“.
„Nein! Nein! Abermals nein, ich habe kein anderes Problem“, ich wurde wieder laut.
„Mir scheint, dass du doch ein Problem hast“.
Ich kochte vor Wut.
„Das einzige Problem, das ich habe bis du!“
„Also doch! Ich bin dein Problem. Stehe ich dir im Weg? Los, sag, dass ich dir im Weg bin.“
Dann schwieg sie, und wenn Judith schwieg, schwieg sie anklagend. Welcher Mann kann in dieser Situation irgendetwas richtig machen? Versöhnlich sagte ich nach einer kleinen Ewigkeit:
„Judith, ich liebe dich. Es gibt kein Problem. Es gibt vor allem keine andere Frau.“
Um es ganz richtig zu machen, fügte ich noch hinzu, „Du bist meine Erfüllung.“
Judith schwieg, was schlimmer war, als wenn sie anklagte.
„Judith? Liebst du mich?“
„Ob ich dich liebe? Das steht doch überhaupt nicht zur Debatte.“
„Nein, aber du könntest mir doch diese Frage beantworten.“
„Warum sollte ich? Davon sprechen wir doch nicht. Du willst nur ablenken.“
Genau in diesem Moment steht man als Mann auf sehr brüchigem Eis. Demonstrativ legte ich mich wieder auf meine erste Einschlafseite.
„Du weichst mir aus!“
Judith war noch nicht fertig.
„Nein, ich weiche dir nicht aus. Ich bin müde.“
„Jetzt plötzlich bis du müde. Du willst dich drücken, über deine Probleme zu reden.“
„Gute Nacht!“, sagte ich nachdrücklich.
„Gute Nacht! Kevin!“
Dieses „Gute Nacht“ klang eher nach einer Drohung oder einer Kriegserklärung. Auch Judith legte sich auf ihre Einschlafseite und löschte das Licht.
Wie soll man in solch einer Situation, in solch einer Anspannung einschlafen können?
„Judith, hast du etwas gesagt?“
„Nein!!“
„Aber ich habe es ganz deutlich gehört“, sagte ich.
Judith schwieg.
Es vergingen einige Minuten.
„Judith, wach auf! Es spricht jemand mit mir.“
„Hier spricht niemand, außer dir. Schlaf endlich, oder ich zieh aus.“
Ich lag da und lauschte.
„Kevin! Steh auf und komm!“
Ruckartig setzte ich mich auf. Ich lehnte mit dem Rücken an das Kopfteil.
Jetzt hörte ich es wieder: „Kevin, auf was wartest du, komm mit“.
„Judith, Judith!“ langsam wurde ich panisch, hörst du es nicht?“
„Bitte, bitte, schlaf endlich. Ich hör nur dich sprechen. Hier ist niemand.“
Judiths Stimme klang beruhigend, wie man zu einem Kind spricht.
„Judith, ich höre es ganz deutlich“, schrie ich.
„Judith, ich soll mitkommen.“
Resigniert antwortete sie: „Schlaf jetzt. Ich höre nichts. Hier gibt es keine Stimmen. Ich bin wirklich müde.“
Minuten blieb ich mit angezogenen Knien sitzen. Ich lauschte und horchte auf jedes Geräusch.
„Kevin! Wir haben nicht ewig Zeit. Zieh dich an und komm.“
Die Stimme war bestimmt und fordernd.
Ich stand auf und zog mich an. Mich schauderte, trotz Kleidung. Gerade zog ich die Haustür hinter mir ins Schloss, als die Stimme tadelte: „Kevin, willst du dich nicht von deiner Frau verabschieden? Wir haben eine lange Reise vor uns.“
„Ja? Natürlich!“, stammelte ich. Obwohl ich keinen Schlüssel eingesteckt hatte, war die Tür offen. Schnell ging ich ins Schlafzimmer zurück und beugte mich zu Judith. Was sollte ich sagen? Ich setzte mich auf ihre Bettkante und tastete nach ihrer Hand.
„Nein, Nein, Kevin, nicht jetzt, ich will schlafen. Gib doch endlich Ruhe.“
„Judith, das ist es nicht. Ich muss gehen!“
„Ja, Ja“, erklang es müde.
„Tschüss, Judith, ich gehe jetzt.“
„Ja, Ja, ist schon gut. Geh! Geh mit Gott, aber lass mich schlafen“, antwortete sie schläfrig.
Ich beugte mich zu ihr. Nachdem ich ihr Haar gestreichelte hatte, hauchte ich ihr zaghaft einen Kuss auf die Backe. Sie schlief schon fest und bemerkte es nicht. Oder doch? Sie lächelte leicht. Ich schüttelte den Kopf. War ich doch im Begriff, eine weite, eine sehr weite Reise anzutreten, von der ich weder das Ziel noch die Wiederkehr wusste, und Judith schläft und lächelt im Schlaf. Woher kam die rote Rose in meiner Hand? Ich legte sie auf ihren Nachttisch.
„Eine kleine Prophetin, deine Judith“, spöttelte die Stimme.
„Warum?“
„Die gehst nicht nur mit Gott, du gehst auch zu Gott.“
Bevor ich mich richtig wundern konnte, befahl die Stimme: „Los!“
Ich fühlte mich um die Schultern ergriffen und gehoben, dabei fühlte ich keine Furcht, nein, ich fühlte mich sogar in dieser Situation wohl. Leicht und beschwingt, wie in einem schönen Traum, in dem man fliegen kann.
„Du liebst Judith?“, wurde ich gefragt.
Wie selbstverständlich antwortete ich.
„Ja, sehr.“
„Sie dich auch“, sagte die Stimme.
„Bist du sicher?“, fragte ich in die Nacht. Ich unterhielt mich und war doch allein.
„Wer bist du?“, fragte ich. Dabei merkte ich, dass ich neugierig war.
„Ich bin ein Engel und habe den Auftrag, dich zu holen und zu begleiten“, antwortete die Stimme.
Jetzt begann ich, mir Gedanken über meine Situation zu machen. Sie war wirklich! Ohne Frage: Wirklichkeit und Realität, und sie war selbstverständlich.
„Zu holen und zu begleiten? Wohin?“
„Zu holen, zu begleiten, zu führen und zu beschützen, das ist mein Auftrag.“
„Wohin?“ Ich wurde wieder neugierig.
„Weit, weit, sehr weit“, antwortete der unsichtbare Engel.
Ich spürte einen leichten Schups. Mit einem vorsichtigen Schritt ging ich los. Schritt für Schritt ging ich leichtfüßig weiter. Immer schneller kamen wir voran. Ich sah den Schwarzwald und den Bodensee unter mir weggleiten.
„Spring!“, befahl die Stimme.
Wir überquerten die Alpen und das Mittelmeer. Sogar Zypern konnte ich zweifelsfrei erkennen. Weiter und weiter ging es, Schritt für Schritt, Zeit für Zeit.
Plötzlich wurde ich an der Hand ergriffen.
„Stopp!“
Ich schaute mich um. Um mich? Uns? Ringsherum nichts als Wüste. Ich? Wir? Standen auf einen kleinen Plateau auf einem Hügel und hatten einen guten Überblick. Immer noch wurde ich an meiner Hand festgehalten. Ich empfand keine Angst, nur unendliche Neugierde.
Wo war ich? Zu sehen war nur Wüste und unbekanntes Land.
„Wer bist du?“, fragte ich.
„Zeig dich!“
Plötzlich war ich nicht mehr allein. Hand in Hand standen wir nebeneinander. Als ich Ihr? Ihm? ansichtig wurde, verschlug es mir den Atem: lange, schwarze Haare, bis auf die Hüfte reichend, strukturierte Übergänge, ein Mund, ein Mund, die Sinnlichkeit personifiziert, er allein schon jeder Sehnsucht wert, Brüste, Beine, Schoß, nicht von dieser Welt. Ein unendliches Begehren kam über mich.
„Da fällt dir nichts mehr ein! Nicht wahr. Glaub mir, mein Freund Kevin, wir Engel sind keine Engel, wie ihr es glaubt. Wir Engel genießen alle Freuden deiner Welt und aller anderen Welten, jeden Tag und jede Nacht.“
Nachdem ich meinen Engel mit aller Sehnsucht bedacht hatte, kehrte ich langsam zu meinem Bewusstsein zurück.
„Wie heißt du, Engelchen?“ fragte ich.
„Ich bin Lulu. Aber, Kevin, hör mit dem Flirten auf, dafür wurdest du nicht hierher gebracht“, antwortete sie tadelnd.
Ich war weiterhin keines weiteren Wortes fähig und starrte nur Lulu an.
„Kevin! Kevin! Komm zu dir!“, lachte sich fröhlich, „ich bin ein Wesen aus dem Paradies.“
Sie wiederholte das letzte Wort: „Paradies, nicht von dieser Welt. Ich genieße jede Wonne.“
Gefangen in meiner Welt und plötzlich doch darüber. Jedenfalls stand sie neben mir. Nicht wie ein Geist, sondern real. Für mich jedenfalls. Ich hielt doch ihre Hand und sie die meine. Ich stand an einer Schwelle, die ich nicht begriff, nicht begreifen konnte. Lulu sah mich an. Sie begriff meine eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit. Sie legte ihren Arm um meine Schultern, dabei drückte sie ihre Brust fest gegen meinen Oberarm. Fest und elastisch spürte ich ihre Brüste. Ich blickte in ihre Augen. Dabei sah ich Ungeduld, unerfüllte Erwartung und ungezügelte Erotik.
„Kevin! Du erblickst nur das, was du sehen willst. In deinen Augen bin ich die schiere Erfüllung. Das ist aber nicht so, sondern existiert nur in den Gedanken, in deinen Gedanken und Gefühlen als Mann. Ich bin das alles nicht. Vielleicht ein ganz winziges Stückchen. Du denkst in eindimensionaler Kategorie: in begehrenswert und in nicht begehrenswert. Es gibt auch kein eindimensionales Gut oder Böse. Das eine, was du vielleicht als böse, sehr böse beurteilen würdest, kann höherdimensional durchaus gut oder absolut notwendig sein. Löse dich von jeder eindimensionaler Betrachtungsweise, deinem Denken in Kategorien. Meine Welt, Gottes Welt ist nicht eindimensional, oder zwei- oder dreidimensional, sie ist nur mit dem Maßstab der Unendlichkeit fassbar.“
Lulu war ernst, oberlehrerhaft und amüsiert.
Ich löste meinen Blick von ihr, auch wenn es mir schwer fiel. Mein Blick fiel wieder auf die öde, karge Landschaft.
„Was willst du, oder was wollt ihr von mir?“
„Mein lieber Freund“, sagte Lulu, „du bist ausgewählt. Du sollst Zeuge sein. Du sollst Zeugnis geben. Zeugnis an alle Welt, dass die Welt und alle Menschen Klarheit haben und wissen, was Sache ist.“
Ich starrte verständnislos. Ich verstand nichts. Nichts von allem: wie ich hierhergekommen war, was hier vor sich ging und vor allem, was ich dabei sollte.
„Jetzt! Pass gut auf!“, flüsterte sie und schüttelte mich. Alle menschlichen Attribute waren von ihr gewichen. Hier neben mir stand ein Wesen, völlig verklärt von höheren Kräften. Sie oder er oder es, jedenfalls der Engel schob mich einige Schritte bis zum Abgrund vor. Jetzt konnte ich das ganze Geschehen, das ganze Tal, alles, das Alles überblicken. Entsetzten ergriff mich. Geräusche hatte ich schon die ganze Zeit vernommen. Jetzt formten sie sich mit meinem Gesehenen zu einem Bild. Tausend und abertausende Menschen gingen, nein wurden vorangetrieben. Gebeugt, Schritt für Schritt schleppten sie sich in einer langen Prozession. Staub von ihrem Schritt wirbelte auf. Ich hörte diese schweren Schritte. Ich hörte ihr Jammern und Seufzen. Ich hörte auch ihren Aufschrei, wenn die Peitschen ihren Rücken trafen. Immer weiter wurden sie getrieben. Gebeugt und geschunden schleppten sie sich weiter. Die Menschen, jung und alt, Männer und Frauen, auch Kinder wurden von Teufeln, die ihre Peitschen auf die Rücken klatschen ließen, vorangepeitscht. Dort, wo das Tal eng wurde, machte es einen Knick nach links. Dort verschwanden die Massen von Menschen in lodernden Rot. Immer wieder hörte ich das Knallen und das Platzen der Haut auf dem Rücken. Fast spürte ich ihren Schmerz. Ich spürte jeden Schritt dieser geschundenen Kreaturen.
Entsetzt, fassungslos blickte ich zu Lulu. Emotionslos blickte sie zurück, fast spöttisch, ob meines Entsetzens. Dann zeigte sie auf eine Anhöhe gegenüber der Abknickung des Tales.
„Kevin!“, sie rüttelte an mir.
„Pass auf! Achte nur auf den Berg.“
Aber ich konnte meinen Blick nicht von den armen Verdammten, von den geschundenen Leibern lösen. Und dann: immer wieder das Knallen der Peitschen.
„Achte nicht auf sie, das sind Einzelschicksale“, beschwor mich Lulu.
„Einzelschicksale?“, schrie ich auf.
„Ja. Kevin, Einzelschicksale, sonst nichts! Sie sind bedeutungslos. Sie haben nur Bedeutung für sich selbst und ihr eigenes Leben, nicht für den Ablauf des Ganzen.“
Bewegungsunfähig stand ich und starrte auf die Ödnis. Auf die Wüste, die sich immer mehr verengte und im Höllenschlund endete.
Lulu Hand griff nach meiner Hand und drückte fest.
„Achtung!“, hörte ich sie wispern und deutete auf den Hügel.
Ein schwarzes, gewaltiges Wesen, muskulösen Körper, voller archaischer Kraft und furchtbarer Potenz, erklomm den Hügel. Schritt für Schritt, ein schrecklicher Titan. Von der anderen Seite tänzelte, ich weiß nicht woher, eine weiße Figur. Mit seinen kleinen, weißen Flügelchen flatterte er auf den Riesen zu.
Ich machte einen Schritt auf das Schauspiel zu, aber Lulu hielt mich zurück.
„Nicht weiter“, sagte sie drohend. Dabei hob sie einen flammenden Stab.
„Das ist doch nicht etwa das Flammenschwert, von dem in der Bibel berichtet wird?“
„Ja“, antwortete sie mit Stolz in der Stimme.
„Das Feuerschwert von Michael, dem Erzengel“.
Der Stab, leuchtend und funkelnd, von unbestimmter Farbe, faszinierte mich.
„Nein, das ist mein Schwert“, Lulu schien fast beleidigt.
Darf ich es anfassen?“
Ich griff nach dem Griff und wollte es ihr aus der Hand nehmen.
„Nein! Das geht nicht. Es würde dich verbrennen.“
Meine Hand zuckte auch schon schmerzhaft zurück. Sofort bildete sich in der Handinnenfläche eine Brandblase.
„Hat jeder Engel, oder was du auch immer bist, so ein Schwert?“
„Natürlich“, antwortete Lulu, „das gehört zu unserer Grundausrüstung. Genau wie meine Flügel, übrigens.“ Sie flatterte leicht mit ihrem linken Flügel, dann mit dem rechten Flügel.
„Ihr Männer seid alle gleich. Für mein Schwert als Waffe und meine Brüste als Ziel eurer Sehnsucht habe ihr Augen. Gib zu, deine Gedanken waren nicht die, die man einem Engel entgegenbringt. Für das Wunder meiner Flügel, das Wunder des Fliegens, du hast es selbst erlebt, interessiert ihr Männer euch nicht.“
Wieder flatterte sie, und wir wurden leicht angehoben. Bei unserer Wanderung über Berge und Meere hat sie da mit ihren Flügel geschlagen?
Plötzlich wurde es still, gänzlich still um uns herum. Ich verspürte eine besondere Ergriffenheit. Auch die kesse Art war von Lulu gewichen. Mit feuchten Augen und gefalteten Händen stand sie still und blickte zu dem Schauspiel auf dem gegenüberliegenden Hügel.
Der schwarze Riese mit dem finsteren Blick, muskelbepackt und mit dunkler Rüstung bewehrt, schritt auf den weißen, tuntigen Tänzer zu. Der Weiße war es, der das erste Wort ergriff. Er sah zu dem Schwarzen auf. Seine hohe Fistelstimme klang dünn zu uns herüber.
„Ich grüße dich, Jehove. Gibt es einen bestimmten Grund, lieber Bruder? Und was soll dieser Verkleidung? Hast du das wirklich nötig?“
Laut und wuchtig dröhnte er.
„Auch ich grüße dich: Mein lieber Bruder Luzifer.“
Er reichte dem Tänzer seine riesige Pranke zum Gruße und schüttelte sie heftig.
„Setzten wir uns, Luzi. Ich möchte mit dir reden und habe dir einen Vorschlag zu machen.“
Der Finstere trat beängstigen nah auf seinen Bruder zu.
„Gut, reden ist immer gut. Aber, mein Lieber, lassen wir doch die Show.“
Luzifer zeigte nicht die Spur von Ängstlichkeit.
„Du hast deine Vektoren versammelt, wie ich sehe.“
Mit einer weit ausladenden Geste zeigte er auf den Hügel, wo wir standen. Erst jetzt bemerkte ich, dass noch weitere Menschen, neben jedem stand ein Engel, auf dem Hügel versammelt waren. Mit dem anderen Arm deutete er auf einen weiteren Hügel.
„Auch meine Botschafter sind versammelt.“
Jetzt sah ich dort ebenfalls Menschen. Neben jedem dieser Menschen stand ein Teufel. Einige der Menschen schienen mir bekannt zu sein, aber richtig erkennen konnte ich es nicht. Von denen, die ich zu erkennen glaubte, wusste ich, dass sie schon tot waren. Einer könnte Mussolini sein, aber das konnte nicht sein. Oder doch? Und war dort nicht Papst Pius XII.? Das war doch wirklich unmöglich!
Auf dem Hügel gegenüber stand ein Tisch mit zwei Stühlen.
„In Ordnung, Luzi“, sagte Jehove.
Beiden gingen zum Tisch und setzten sich.
Jetzt saßen sich zwei Männer gegenüber: Zwillinge, so ähnelten sie einander.
„Geht doch!“, lachten sie, als haben sie einen Witz gemacht.
Mehrmals zupfte ich Lulu am Flügel.
„Was geht hier vor?“, fragte ich.
„Pssst.“
„Ich dachte, Luzifer sei ein von Gott verstoßener Engel?“
„Ach, ihr Menschenkinder glaubt aber auch jedes Märchen, das man euch erzählt. Nein, Jehove und Luzifer sind Brüder, Zwillinge, wie du siehst. Vor einiger Zeit schlossen die beiden Brüder eine Wette. Sie wetteten, wer in einer bestimmten Zeitspanne mehr Menschenseelen einfängt. Und wie es in den letzten Jahren aussieht, wird Luzifer seine Wette gewinnen.“
Lulus Erklärung klang ganz sachlich.
„Was passiert, wenn Luzifer die Wette gewinnt?“
„Jeder der vier Geschwister hat eine bestimmte Fähigkeit, die die anderen drei nicht haben. Der Gewinner kann diese Fähigkeit für eine kurze Zeit beanspruchen.“
Erstaunt fragte ich: „Vier Geschwister?“
„Ja“, antwortete meine Engelin, „es gibt vier Geschwister. Außer den beiden Brüdern dort noch zwei Schwestern, also Vierlinge.“
„Ich habe noch nie von Schwestern von Gott gehört.“
Langsam fragte ich mich, was das für ein Traum sei. Aber so oft und so fest ich mich kniff, ich wachte nicht auf.
„Lass das!“ sagte Lulu, ohne hinzusehen, „das macht nur blaue Flecken, und wie willst du die dann Judith erklären?“
„Ich glaube, ich habe schon genug Problem, das hier alles Judith oder irgendeinem anderen Menschen, zu erklären, da kommt es auf ein paar blaue Flecken auf Oberschenkel und Bauch nicht an.“
Ich war sarkastisch, in dieser Situation war ich sarkastisch.
„Du kannst auch nichts von den Schwestern gehört haben. Sie interessieren sich für andere Sachen des Seins, nicht für ein paar Menschen auf einem kleinen Himmelskörper, abgelegen im Universum.“
Für Lulu waren das Selbstverständlichkeiten.
„Welche Fähigkeiten haben Jehove und Luzifer?“
Wären Sie, lieber Leser, nicht auch neugierig, trotz dieser Situation?
Jehove, mein Chef, bestimmt über die Zeit und Luzifer über den Raum.“
„Und welche Fähigkeiten haben die Schwestern?“
Lulu sah mich an und schüttelte ihren Kopf, so dass ihre schwarzen Haare in Wellen ihren Rücken hinab liefen.
„Frag nicht, du würdest es nicht verstehen. Die Vierlinge zusammen und nur zusammen sind Alles.“
Luzifer und Jehove unterhielten sich am Tisch sitzend. Insbesondere Luzifer äußerte sich erfreut über den Verlauf seiner Wette.
„Da gebe ich dir recht. Meine Vorkehrungen sind ins Stocken geraten“, sagte Jehove.
„Ich bin gut aufgestellt und für die Zukunft vorbereitet. Ich erwarte noch weitere Verbesserungen der Entwicklung“, antwortete sein Bruder.
„Schau!“ Er wies auf die lange Menschenschlange, die ins Tal getrieben wurde.
Jetzt konnte ich auch wieder das vielstimmige Jammern und Klagen, das Heulen und Stöhnen hören. Ebenso die Tritte des schleppenden Gleichschritts. Auch das Knallen der Peitschen und kurz darauf der jammervolle Aufschrei. Jedes Klatschen erzeugte ein Ächzen einer Seele.
„Ich bin es müde. Mir macht es keinen Spaß mehr“, sagte Jehove, in dreihundertzweiundzwanzig Jahren gibt es keine Menschen mehr.“
„Gibt es keine Menschen mehr?“, fragte Luzifer interessiert. „Warum?“
„Die Menschen sind gerade dabei, sich selbst zu vernichten. Dein Werk, Luzi!“
„Gute Arbeit, nicht?“
Luzifer war sichtlich stolz. Er grinste breit.
„Was willst du also?“, fragte er wieder.
„Ich will die Menschheit retten. Deshalb schenke ich dir den Sieg unserer Wette.“
„Warum willst du die paar Milliarden Menschen retten?“, erstaunte sich Luzifer.
Jehove zog seine Brauen in die Stirn.
„Du weißt doch, ich bin der Gute. Ich bin Gott!“
„Was ist mit den verbleibenden Menschenseelen auf der Erde, jetzt und in Zukunft?“, fragte Luzifer misstrauisch, als wittere er eine Falle.
„Die Menschen sollen eine Chance bekommen, aber dann schenke ich sie dir alle. Jetzt und sofort.“
Jehove gab sich großzügig.
„Daher weht der Wind.“
Luzifer tat empört.
„Jehove, mein Bruder, du bist ein verschlagener, alter Teufel. Der listenreiche Odysseus ist ein Anfänger dagegen. Du weißt genau, dann macht mir das Ganze keinen Spaß mehr.“
Luzifer lehnte sich gedankenvoll zurück. Prüfend wanderte sein Blick zu seinem Bruder. Jehove erwiderte offen seinen Blick. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund. Er kannte seinen Bruder.
„Du kennst mich ganz genau, Briderchen!“
Luzifer gab seiner Stimme einen russischen Akzent und lachte schnarrend.
„Abgemacht!“, rief er.
Sie griffen nach zwei gefüllten Gläsern und ließen sie klingen.
Als sich Luzifer gerade erheben wollte, hielt ihn Jehove zurück.
„Noch eine Frage, Kamerad: was wirst du mit meiner Fähigkeit anfangen?“
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete Weiße.
„Ehrlich?“, fragte der schwarze Zyklop.
„Ehrlich!“, antwortete Luzifer nachdrücklich.
Die Brüder umarmten sich. Jehove konnte es nicht unterlassen und boxte seinem Bruder auf den linken Oberarm. Jeder glaubte, dass die weißen Federn davon geschleudert würde, aber getäuscht. Luzifer sprang hoch und boxte zurück. Dann lachten sie beide schäppernd.
„Du schickst deine Vektoren los und lässt unsere Abmachung verkünden. Vor allem sollen alle Menschen wissen, sie haben nur noch eine kleine Chance. Dass sie schließlich alle mir gehören, brauchen sie ja nicht zu wissen.“
„Und du schickst deine Botschafter in gleicher Mission los, um diese Prophezeiung zu verbreiten.“
„Howji, das werden sie, aber es wird auf meine persönliche Art und Weise geschehen.“
Ich war gebannt. Ich konnte das alles nicht glauben. Lulu reagierte kaum, als ich es ihr sagte. Sie hatte nur Augen für einen kleinen, dicken Teufel, der heftig zu ihr winkte.
„Das dort ist Belcilas, ein wunderbares Teufelchen, und ein teuflisch guter Liebhaber.“
„Sag bloß, wie macht ihr das?“, ragte ich ungläubig.
Sie war amüsiert.
„Wir materialisieren uns ein wenig und durchdringen einander. Das ist viel intensiver“, klärte sie mich fachengelhaften Ton auf.
„Aber, aber“, stotterte ich, „seid ihr nicht unversöhnliche Feinde“?
„Nein, natürlich nicht“, sie lachte über so viel Dummheit, „wir sind beide Lichtwesen. Wir haben nur unterschiedliche Arbeitgeber und unterschiedliche Aufgaben. Ich soll gut sein und Seelen fangen, und die da drüben sollen böse sein und Seelen fangen. Das hier ist nur unsere Arbeitskleidung. Menschen ertragen unseren realen Anblick nicht.“
Wieder legte sie ihren Arm um mich und schob mich.
„Jetzt komm, du hast große Aufgaben vor dir.“
Sie war ernst und eindringlich.
„Was soll ich tun? Was wird erwartet?“
„Du bist nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, der Menschheit klar zu machen, wie es um sie steht und dass sie nur eine kleine Chance zur Umkehr hat. Die Quintessenz soll sein: Umkehr oder Untergang“, erklärte sie.
Ich schwieg betroffen.
„Das kann ich nicht.“
„Denk an deine Kinder und an deine Enkel“.
Lulu wurde böse.
Sie gab mir einen Schubs.
Plötzlich stand ich wieder in meinem Schlafzimmer neben Judiths Bett. Lulu tätschelte aufmunternd meinen Popo.
„Wo warst du gewesen?“, fragte mich eine schneidende Stimme. Der Ton des Jüngsten Gerichts kann nicht schlimmer sein.
„Mir war übel“, antwortete ich.
Da hörte ich Lulus Stimme: „Männer! Alles Feiglinge.“
Copyright Dr. Gerhard Langenberger