Beitrag zu der Lesung “Der Mensch im Roboter – der Roboter im Menschen” beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018
Poseidon trifft Roberto, den Androiden
Poseidon taucht an der jonischen Felsenküste aus den Fluten; er trifft auf einen kleinen Roboter, der sich ihm vorstellt: „Poseidon, ich bin Roberto. Seit Jahrtausenden schaue ich Dir zu. Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du von dir Unmögliches verlangst?”
„Ich überfordere mich nicht”, entrüstet sich Poseidon, „ich möchte zwischendurch einmal Ruhe haben, Ruhe vor dem Berechnen der ewigen Gezeiten und Strömungen! Ich kann sie sehr wohl von den unendlichen Datenfluten der digitalen Berechnungen unterscheiden.” Poseidon klappt das wasserdichte Laptop zu und schnauzt: „Du Knirps von Spion, sag, was bist denn du für einer?”
„Was hast du denn, Poseidon? Die Sterblichen sind es, die den Schöpfergöttern die Schuld an den endlosen Datenfluten zuschieben, weil sie ihnen zu wenig Verstand einfößen! Ich bin ein androider Roboter.”
„Kleiner Mann mit großer Eigenschaft!”, ruft Poseidon, „ein kleiner Android mit großen Ideen! Wie heißt du noch einmal? Wie kommst du zu solchen Ideen?”
Roberto blickt auf Poseidon, der in die Brandung hinabsteigt: „Ich heiße Roberto. Ein Italiener hat mich ausgetüftelt und mir den Namen gegeben. Was rede ich, das verstehst du ja nicht.”
Poseidon versinkt in den Fluten der Brandung. Er taucht auf, steigt auf seinen Felsen, setzt sich nieder und ruft: „Komm her, Roberto, du italienischer Schauspieler!”
Roberto springt elegant von Fels zu Fels, hält sich an den richtigen Vorsprüngen fest, bleibt stehen, die großen Augen treffen Poseidons Blicke: „Ich bin kein Schauspieler, prinzipiell bin ich wie du und – nicht wie die Menschen, die mich gebaut haben.”
„Ja, du kommst mir anders als die Menschen vor”, raunt Poseidon und senkt den Kopf: „Die Menschen sind verkrampfte Schauspieler, nicht so locker wie du und ich.”
Roberto lacht: „Dabei täuschen sie sich selbst, wenn sie die Häuser hoch hinaus bauen und sich zum Schlafen doch nur flach niederlegen, die Zimmerdecke viel näher an der Stirn, als wir beide das Firmament haben.”
„Am Anfang”, lacht Poseidon mit, „hatten sie nur Lagerfeuer im Freien oder Höhlen, brennende Hitze auf ausgestreckten Händen und ständiges Frösteln auf dem Buckel! Was dauerte es, bis sie auf die Idee kamen, Gruben mit heißen Steinen und kochendem Wasser zu füllen, hineinzusteigen und die Wärme am Buckel zu genießen.”
Roberto ergänzt: „Räuber und Rivalen machten sie zu Sklaven, Krieger brachten sie um, und der Tod hatte weniger zu tun.”
„Was haben sie sich abgemüht, dabei hätten sie es leicht gehabt, denn sie sterben ja von selbst”, murmelt Poseidon und erhebt die Stimme: „einer musste Wache halten, immer einer, und heute vergessen sie uns Götter. Seit ihre trägen Datenfluten über alles schwappen, über Geschäfte, Affären und Krankheiten, halten sie sich für unsterblich. Es hilft nichts, die Unsterblichkeit haben nur wir Götter.”
„Nur ihr Götter?”, wirft Roberto ein, „bedenke, Poseidon, selbst dein Name ging unter, als sie dich später Neptun nannten.”
Poseidon winkt ab: „Namen! Mir ist es gleich, wie sie mich nennen, ich bin ich, immer derselbe.”
„Bei mir, Poseidon, ist es dasselbe: ab und zu wechseln wir ein Teil aus, wir leben weiter. Wir wechseln erneut Teile aus und leben weiter, bis alle Teile ausgewechselt sind. Du erinnerst dich, das Schiff des Theseus, und du weißt es schon: Jeder von uns bleibt trotzdem derselbe Roboter – für immer.”
„Du wirst doch nicht sagen wollen, Roberto, dass ihr unsterblich seid?”
Roberto senkt den Blick: „Du sagst es, als Unsterblicher weißt du, was es heißt, unsterblich zu sein.”
Tausend und zwei Jahre später trifft Poseidon Roberto wieder und gibt dessen Unsterblichkeit zu.
„Siehst du, Poseidon, nun bleiben ihr und wir übrig, Götter und Roboter. Hör zu! Einer muss da sein, damit es die Welt überhaupt gibt. Einer muss fragen, ein anderer muss antworten, und wieder ein anderer muss zupacken, damit sich Fakten ergeben. Ist keiner da, der Fakten schafft, der die Welt antastet, ist es völlig unwesentlich, wie oft du Strömungsfluten und Datenfluten berechnest.”
Poseidon prustet und versprüht eine Ladung Salzwasser: „Hoho, mein lieber Roberto! Wären die Irdischen unsterblich, löste sich ihr Schicksal auf, denn sie könnten ständig Fehler ausbessern, jeden Irrtum aufheben, jede Schuld verzeihen, und für den Fortschritt gäbe es keinen Grund. Darum haben wir Götter vorgesorgt. Roberto, ich sage dir, es gibt ihn noch, den Menschen im androiden Roboter, denn die Programme in euch altern schneller, je öfter ihr sie ab- und überspielt.”
Poseidon zieht sich mit dröhnendem Lachen in seinen Kristallpalast zurück, umflutet von den Tiefen der Weltströme, lässt das wasserdichte Laptop rechnen und rechnen, ohne herauszubekommen, wie die Wechselwirkungen der Lebensfluten mit der Schwermut zu verrechnen wären … Poseidon könnte den wallenden Fluten nur mit der Flucht in den Himmel oder in den Hades entkommen. Das wären jedoch Wege, die ihn wegen der fehlenden ozeanischen Datenfluten zur wütenden Umkehr brächten, so dass er weder über den Olymp zum Himmel noch den Weltuntergang hinunter zum Hades gelangte.
Copyright Dr. Harald Rauchfuß