Hall. George Hall. Protagonist in Mark Haddons Roman „Der wunde Punkt“, Oberhaupt einer typisch amerikanischen Familie. Ehefrau, zwei erwachsene Kinder. Sohn homosexuell, Tochter geschieden. Jeder hat seinen wunden Punkt. Bei George war
es die Stelle gewesen, die ihn umgehauen hatte. Er hatte seine Hose ausgezogen, als er ein kleines Oval hochgewölbter Haut sah, das dunkler als die Haut drum herum war und leicht schuppte.
So sieht er aus, der schwarze Hautkrebs. Auf den ersten Blick ein Mal wie andere Male auch, beim zweiten Blick die Ahnung, dass dieses Mal bösartig sein könnte, ein schwarzes Schaf.
Der Magen drehte sich ihm um.
Dieser Verdacht wirft ihn fast um, Hoffnungslosigkeit und schreckliche Vorstellungen vom nahen Ende machen sich breit.
Er würde sich umbringen müssen.
Aber wie? Etwa wie Hemingway, der sich das Hirn in den Orangensaft geballert hatte, wie das Charles Bukowski auf seine brutal-ehrliche Weise formuliert hatte? Oder wie Sylvia Plath, den Kopf im Backofen, den Gashahn geöffnet? Doch warum sich umbringen, der Tod kommt doch heutzutage sanft, begleitet von schmerzstillenden Medikamenten, nicht wie bei Rilke und Benn mit heillosen Schmerzen.
Ist Krebs nicht eine Erkrankung wie jede andere auch, wie Diabetes oder Bluthochdruck? Oder wie Tuberkulose, an der so viele Berühmtheiten vergangener Jahrhunderte gestorben sind? Diese ästhetisierende Krankheit, die Thomas Mann in seinem Zauberberg so romantisiert hat. Oder hat Susan Sontag in ihrem klugen Essay über Krankheit als Metapher Recht, dass Krebs eine andere metaphysische Dimension hat als Tuberkulose, Syphilis und Lepra? Krebs nicht als Krankheit, sondern als dämonischer Feind, als anti-soziales, nicht zu akzeptierendes Ereignis, das mit allen Mitteln vom Patienten selbst zu bekämpfen ist, gemeinsam mit einem Heer von Onkologen, die sich dem Kreuzzug gegen den Krebs verschrieben haben?
Dann ging er nach oben und klebte ein großes Pflaster über das Wundmal an der Hüfte, damit er es nicht mehr zu sehen brauchte. Das Aus-dem-Auge-aus-dem Sinn funktioniert meistens nicht, und schon gar nicht, wenn es sich um Krebs handelt.
Ein kleines Problem ergab sich, als George seine Arbeitskleidung auszog. Er wollte gerade Hemd und Hose ausziehen, als ihm wieder einfiel, was sich darunter verbarg.
Das Mal, durch das Pflaster dem Blick entzogen, macht sich auf andere Art und Weise bemerkbar.
Sie waren gerade beim Brombeerstreuselkuchen, da fing die Stelle an zu jucken wie ein Fußpilz. Das Wort „Tumor“ drängte sich in seinen Kopf, und es war ein hässliches Wort, das er nicht hören wollte, aber auch nicht loswerden konnte.
Die von der Krebsdiagnose überreizten Sinne spielen verrückt, die fatale Diagnose geht nicht mehr aus dem Kopf.
Während er am Tisch saß, konnte er spüren, wie er wuchs, … genau wie der Schimmel auf der Brotkante.
Wie zum Hohn kommt George auch noch an Plakaten vorbei, auf denen die sogenannte gesunde Bräune in direkte Verbindung mit Hautkrebs gebracht wird! Die Zeiten, in denen ein Hemingway völlig hemmungslos tief gebräunte Haut und von der Sonne gebleichte Haare fetischisieren konnte, sind längst vorbei. Für George bedeuten Bräune nur mehr Hautkrebs, Siechtum und Gedanken an den drohenden Tod.
Er würde umrundet von Medizinstudenten und Gastprofessoren der Dermatologie an Krebs sterben.
Doch halt: Die Diagnose ist ja nicht gesichert. Handelt es sich wirklich um Krebs oder nicht doch um etwas so Harmloses wie ein Ekzem? Aber selbst wenn es sich um Krebs handelte – wäre das so schlimm, schließlich muss doch jeder sterben?
Die Vorstellung, wirklich Krebs zu haben, erschien ihm allmählich fast wie eine Erleichterung.
Langsam nimmt die Idee Gestalt an, den oberflächlichen Hautkrebs durch einen schnellen Schnitt selbst zu eliminieren. Es wird zwar bluten, aber bestimmt nicht allzu sehr. Es gibt blutigere Eingriffe, etwa die Selbstkastration der Skopzen, ausgeführt, um eine höhere Stufe des Daseins zu erreichen. Oder um sich von der Fleischeslust zu befreien, wie der junge Mann in Hemingways Erzählung „Gott hab euch selig, ihr Herren“, oder der „Hofmeister“ in der Komödie von J. M. R. Lenz?
Er nahm die Schere in die rechte Hand und fuhr auf der Suche nach dem wunden Punkt mit den Fingern der linken Hand über seine Hüfte.
George täuscht sich über das Ausmaß der Blutung.
Eine solch große Menge Blut hatte er nicht erwartet. … Es war dicker und dunkler, als er gedacht hatte, fast ölig und erstaunlich warm.
Als Laie kann George nicht wissen, dass man schon einige Liter Blut verlieren muss, bevor es bedrohlich wird, eine derartige Schnittwunde reicht da nicht.
Die Badewanne sah aus, als hätte man darin ein Schwein abgestochen.
George landet im Krankenhaus. Aus Scham über die stümperhafte Selbstbehandlung erfindet er eine Verletzung, hervorgerufen durch einen unsachgemäß gehandhabten Meisel. Doch Lügen haben bekanntlich kurze Beine, die Verwandtschaft findet schnell die Wahrheit heraus.
Er wollte sich den Tumor offensichtlich rausschneiden.
Der Tumor ist zwar weg, nicht aber die Todesfurcht, die untrennbar mit dem Schwarzen Krebs verbunden ist, diesem „Schwarzen Tod“ der Neuzeit, der heutzutage angeblich Zigtausende jedes Jahr tötet, so wie im Mittelalter die Pest, von der die Menschen reihenweise dahingerafft wurden. Nicht nur Laien, auch viele Ärzte und selbst Hautärzte sind der anachronistischen Überzeugung, dass der Schwarze Krebs ein Todesurteil ist, obwohl wir doch seit mindestens zwei Jahrzehnten wissen, dass 9 von 10 Betroffenen überleben. Da verwundert es nicht, dass auch George sich fürchtet.
Ich habe Angst, Jamie. Solche Angst. Vor dem Sterben. Vor dem Krebs. Eigentlich fast ständig. Viele Ärzte taugen wirklich gar nichts. Man braucht nur drei Jahre mit Medizinstudenten zu verbringen, um den Glauben an diesen Berufsstand ein für alle Mal zu verlieren.
Auch George projiziert seine Ängste auf die Ärzte, von denen er annimmt, dass diese ihr Handwerk nicht verstehen oder zu wenig empathisch sind. Wo gibt es noch Ärzte, die wie Bulgakow, tief im Innern eines rückständigen Landes, in einem Jahr Tausende von Patienten behandeln, bis hin zur Selbstaufgabe und um den Preis der Morphiumsucht? George tröstet sich mit dem Wissen, dass alles Leben mit dem Tod endet, allen ärztlichen Bemühungen zum Trotz.
Was sollte denn eigentlich so schlimm am Tod sein? Früher oder später musste jeder dran glauben. Es war Teil des Lebens. Als schliefe man ein.
Schmerzen, für viele Menschen ein Grund, sich vor dem Krebstod zu fürchten, spielen in Georges Überlegungen keine Rolle. Er weiß, dass die moderne Medizin nicht nur Krebs, sondern auch Schmerzen mit allen Mitteln bekämpft. Es ist nicht wie bei Rilke, der in einem Gedicht den Herrn darum bittet, jedem seinen eignen Tod zu geben, ein Sterben, das aus jenem Leben geht, darin Liebe, Sinn und Not waren. Rilke hat seine eigene Not, seine furchtbaren Schmerzen, bewusst bis zum Ende durchlitten.
Haddons George hat seinen Krebstod nicht so ganz akzeptiert, immer wieder tröstet er sich mit dem Gedanken, an einer harmlosen Entzündung zu leiden.
Er litt an einem Ekzem. Jetzt konnte er das einsehen.
Also eine Entzündung, die vor der Zeit des aufgeklärten Patienten und des shared decision making übliche, verharmlosende Diagnose selbst in fortgeschrittenen Stadien der Krebskrankheit. Der Arzt damals als notorischer Überbringer guter Nachrichten? Wie im Fall von Theodor Storm, dessen Arzt die Diagnose Magenkrebs auf Wunsch des Patienten korrigierte. Doch ob mit oder ohne ehrliche Information des Patienten: die meisten leben vom Prinzip Hoffnung, von der Vorstellung, zu denen zu gehören, die ihren Krebs überleben. Für manche Patienten mit fortgeschrittenem Schwarzen Krebs ist diese Vorstellung heute kein Wunschdenken mehr. Als Haddon seine Geschichte schrieb, war noch nicht abzusehen, dass die fulminanten Fortschritte in der Therapie des Schwarzen Krebses dieses Wunschdenken langsam Realität werden lassen. Haddon lässt, unabhängig vom medizinischen Fortschritt, Georges Schicksal offen, der davon träumen kann, dass er seinem Krebs nicht vor der Zeit zum Opfer fallen wird.
Mark Haddon: Der wunde Punkt. Heyne Verlag, München 2006 [Zitate kursiv]