Eine Erinnerung an Budapest 1988
Die Familie erwartet den älteren Bruder meines Schwiegervaters, Krasznai András, genannt Bandi bácsi, zum Abendessen. Der rüstige 81-Jährige pflegt mit der Straßenbahn via Petöfi-Brücke zu kommen. Die Zeit vergeht, das Essen wird kalt, der sonst immer pünktliche Onkel bleibt aus. Petúr fährt schnell zur Wohnung, er hat ja einen Schlüssel. Alles ist ordentlich abgeschlossen, unauffällig. Petúr sucht die Gegend ab, fragt bei der Polizei. Nichts. Am anderen Tag erneut zur Polizei. Jaaa, da gab es etwas, aber damit befassen sich die Alliierten. Für Leute, die das nicht gewusst oder vergessen haben: Auch Budapest ist in vier Sektoren geteilt. Also zur Kommandantur. Jaaa, wir haben damit nichts zu tun, das werden die Kollegen erledigt haben. Also dorthin. Jaaa, da gab es einen Unfall. Und wo ist mein Onkel? Leider verstorben. Wo sind dann seine sterblichen Überreste? Davon ist nicht viel geblieben, eine Zeile im Tagesprotokoll. Was wollen Sie denn mit der Leiche?, wird Petúr gefragt. Damit nichts, aber ich bin der Erbe, mein Onkel hat ein Testament zu meinen Gunsten gemacht, hier, bitte schön. Na, das ist kein Problem. Rasch wird die ungarische Justiz angewiesen, einen rechtsgültigen Erbschein auszustellen, Unterschrift, Stempel. Zu Bestattungs-Formalitäten kommt es nicht, ein besonderer Fall. Kosten entstehen der Familie auch nicht, das wird höheren Orts erledigt.
Jetzt hat Petúr uneingeschränkten Zugang zum Erbe. Sein Vater, Jurist, hatte das Testament seiner Zeit mit unterschrieben. Bandi bácsi setzte offensichtlich großes Vertrauen in seinen Neffen, mit Recht. Nach und nach findet dieser in Büchern, Sport-Trophäen und hinter Bildern versteckt insgesamt 1 Million – na ja, Forint – aber immerhin! Eine wohlhabende Familie war es schon. Zum besseren Verständnis: die Rente eines András Krasznai als altgedientem Gymnasialdirektor betrug damals 1900 Forint im Monat, die Wohnungsmiete belief sich auf 120 Forint, eine Straßenbahn-Monatskarte kostete 20 Forint, ein Liter Benzin 2, 50 Forint.
Mobiliar und Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind völlig wertlos. In 60 gemeinsamen Jahren haben Bandi bácsi und seine aus begüterter k. und k.- Familie stammende verstorbene Ehefrau alles abgewirtschaftet. Einige Stücke Herend-Porzellan sind ganz geblieben und gelangen zu mir.
Was ist nun eigentlich mit dem Onkel passiert? Sickert mit der Zeit etwas durch oder reimen wir es uns zusammen? Ein alliierter Lastwagen hat vermutlich mit überhöhter Geschwindigkeit den Fußgänger so gründlich erfasst, dass nicht einmal ein Beerdigungsinstitut in Hollywood noch etwas hätte ausrichten können. Der Rest ist Schweigen.