Heute bin ich einem Kunstwerk begegnet. Ich saß in der Sauna. Unter all den Menschen, die dort miteinander schwitzten, saß Emilio.
Er war ein alt-junger Mann und groß. Er schwitzte anders als die anderen. Seins war ein Schwitzen am Leben, er schien es zu feiern wie das Beten in einer indianischen Schwitzhütte.
Sein Schwitzen war ein schweigender Gesang, eine stumme Hymne an das Leben.
Er war das Schwitzen selbst. Er ging sich waschen, und ich sah ihn. Er wusch sich in jeder Falte des riesigen Leibes und wurde zum Waschen selbst.
Dann wusch er seinen weißen Schädel so ausführlich und wild, dass er das Sich-den-Kopf-Waschen war.
Ich sah ihn als das Sich-Waschen. Seine Bewegungen sprachen zu mir.
Still vor dem Schauspiel seiner Körperrede stand ich und hörte ihr schauend zu. Er war ein Lehrer in Kunst, der mir Unterricht schenkte.
Ich bedeckte meine Blöße mit dem Tuch. Ob ich ihn zeichnen dürfe, er mir Modell stehen wolle. Er riss den Mund auf und war das Staunen selbst. Dann sprach er und wurde mit seinen Händen zum Sprechen selbst. „Warum ich“, fragte er. „Ich bin doch bloß, wie ich bin, sonst nichts.“- „Das ist es eben“, sagte ich. Dass er nichts anderes sein will, als er ist, sprach sein gigantischer Leib zu mir. „Aber ich mache alles sehr intensiv, was ich tue.“
„Das ist es halt auch“, gab ich zurück. – „Emilio, das bin ich.“
Der alternde Riese war auch das Altern selbst. Seine Stirn war niedrig. In der Schwere, sie zu runzeln, griff Geist in den gewaltigen, alterslosen Leib und redete, indem er ihn formte. Andächtig stand ich vor dem Neandertaler.
Emilio wusch sich weiter und lachte.
Er lachte als das Lachen selbst.
Aus „Schicksale ziehen vorüber“ 1995 – ISBN 3-9803228-7-4