Es geht ein Geheimnis um den Sevan-See, den großen hoch gelegenen See in Armenien. Dunkle Wolken, die sich regenbeladen von den steilen Uferklippen auf das Wasser stürzen und sich dort in fahle Nebel, später dann in ein milchiges Grau und schweifende Geisterschwaden auflösen, sind die Zeichen dieses nur dem Kundigen sich offenbarenden Geheimnisses.
Auch im Sommer, wenn die Sonne in der Höhenluft brennt und die Schrecken bringenden aber auch so erschreckbaren Geister in ihre unterirdischen, direkt über dem Seespiegel liegenden Höhlen scheinbar eingeschlossen und zum Schlafen verdammt hat, auch die Sonne kann sie nicht im Zaum halten. Immer wieder entwinden sie sich dem wärmenden Zwang des Lichtes und entlassen ihre tanzenden Schemen an den Ufern des Sees zumeist auf der östlichen Seite, der untergehenden Sonne zugewandt, in die Freiheit des weit ausladenden Sees.
Die Fischer kennen diese Geister und ihre Geheimnisse. Es sind ihre Geheimnisse, und sie reichen tief in die Seele ihres Volkes zurück. Sie sind Zeugen aus der Vergangenheit, vor allem aber, so berichtet der Fischer Armen Bagdalyan, sind sie Zeugen für die Zukunft. Die ungeheimnisvollen Menschen denken zwar, sie seien nur Zeugen aus der Vergangenheit. Sie würden nur berichten über wundersame Ereignisse, unglaubhaft wahr, mit Gutem und Bösem verknüpft. Sie seien vor allem fröhlich wie ein wackelnder Hammelhintern, dem sein blökender Widderkopf abhanden gekommen ist. Oder sie seien so traurig, wenn sie über die Unfähigkeit der Seenixen nachdenken, deren Liebster an der Unvollkommenheit ihres Beinersatzes verzweifelte.
Das ist zwar alles wahrheitsgemäß und unwiderlegbar dokumentiert, ergänzte Armen Bagdalyan, aber es sei auf keinen Fall das Wesentliche. Natürlich, im Prinzip ja, auf der Vergangenheit baue sich alles auf und ohne sie gäbe es ihn, den Fischer Armen Bagdalyan, wahrscheinlich nicht, aber, und hier liegt eben das Geheimnis des Sevan-Sees, seine Gegenwart sei ohne das Einwirken der Geheimnisse auf die Zukunft überhaupt nicht möglich. Geheimnisse wirken immer auf die Zukunft, erklärte er verschmitzt, denn ohne Zukunft gibt es keine Geheimnisse. Und schon gar nicht die des Sevan-Sees.
Wenn ich so über das Gespräch mit dem Fischer Armen Bagdalyan nachdenke und mich erneut in die Gegebenheit vertiefe, bin ich der Meinung, dass ich zunächst den Fischer Armen Badgalyan vorstellen sollte.
Armen Bagdalyan war eigentlich ein hagerer, hoch gewachsener Mann mit tiefschwarzen Haaren und kräftigen Oberarmmuskeln. Im Laufe seines Lebens, er war zum Zeitpunkt meines Gespräches mindestens fünfundsechzig Jahre alt, hatte er an Leibesfülle und Gewicht sowohl in körperlicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht deutlich zugenommen, ganz im Gegensatz zu seiner ehemaligen Haaresfülle, die sich eindeutig sichtbar den Erntebemühungen des Alterns unterworfen hatte. Seine kräftige Stirn lag nun entblößt und trotzig frei, eine lange bogenartig gekrümmte Nase schützte sie vor allzu aufdringlichen Anstößen, denen er sich, da er ein freier und wilder Mann war, häufig ausgesetzt fühlte. Ein breiter Oberlippenbart, der jedoch Kinn und Wangen frei ließ, gab ihm zusätzlich ein geheimnisvolles Aussehen, das er auch gewinnbringend einzusetzen wusste, wie wir gleich berichten werden, und das er zudem sichtlich genoss.
Armen Bagdalyan war der Sohn eines Fischers, und dieser wiederum der Sohn eines Fischers, und dieser ebenso der Sohn eines Fischers. Diese Sohn – Fischer Kette reicht, soweit wir den leider nicht mehr einsehbaren schriftlichen Quellen entnehmen können, weit in die Vergangenheit zurück, mindestens bis in das groß – armenische Reich, dessen Hauptstadt allerdings in Tiflis in Georgien lag, wahrscheinlich aber zurück bis zu der großen Flut, die als ewige Erinnerung an den Zorn Gottes den Sevan-See als „noch nicht in China“ gefertigtes Souvenir für alle reiselustigen Menschen den Sevan-See Fischern, allen voran Armen Bagdalyan als Vorbild, ewige Mahnung an das Böse, als Nahrungsquelle und als Grundlage einer jeglichen, überhaupt möglichen menschlichen Gedankenwelt diente.
Die auf den Fischer Armen Bagdalyan zurückzuführende Geschichte beruht zumindest im Prinzip, wahrscheinlich aber in Allem auf den frühesten Erkenntnissen der Sevan-Fischer, wenn nicht sogar aller Urmenschen.
„Bedenken Sie, dass alles, was ich Ihnen zu berichten habe, aus der Urzeit meiner Vorfahren stammt. Genau so, wie die Chinesische Medizin, die abgeleitet von den im Prinzip aus Armenien importierten heute natürlich nicht mehr aktuellen Darstellungen des Aufbaus unseres menschlichen Körpers bis hin zur Akupunktur, Homöopathie und allgemeine Schlangen und Kröten Medizin sich vor Jahrtausenden entwickelte. Zwar waren damals eine Injektion, eine Blutuntersuchung oder gar eine Darmspiegelung aufgrund der allgegenwärtigen Geister und Feen Gestalten nicht durchführbar, das ändert aber gar nichts an der Wirkung der durch die Jahrtausende sich teilweise gewaltsam teilweise auch von tiefreligiösen Gläubigen in unsere jetzige Welt getragenen chemischen Eigenschaften von halb angedauten und in anregend duftende Tinkturen eingelegten Kriechtierleichen“.
„Bedenken Sie weiter, dass hier, am Sevan-See, schon vor tausenden von Jahren Menschen siedelten, die sich intensiv um die Fortentwicklung ihrer Nachbarn kümmerten und sie mit ihren bronzenen Pfeilspitzen so sehr am Gesäß und vielleicht auch an anderen Körperstellen kitzelten, dass sie vor Lachen sich nicht mehr wehren konnten und sich freudig unseren damals mächtigen Herrschern unterwarfen.
Das steht alles niedergeschrieben in der Felsinschrift von Zowinar, hier, am südlichen Ufer unseres so berühmten Sevan-Sees. Wer hat diese Inschrift verfasst? Natürlich unser allseits berühmter König Rusa, von dem, Sie wollen es glauben oder nicht, noch heute so umfangreich geredet wird. Denken Sie nur an Russland und an die vielen Russen, deren Namen sich zwar von unserem berühmten Vorfahren ableitet, die aber, ich muss es leider so deutlich sagen, von unserem berühmten Rusa, dem Sohn des noch berühmteren Sarduri, der sich in der vollkommen anders gestalteten, aber nicht weniger herausragenden Insel Sardinien mit den dicht gepackten Sardinen zusätzlich verewigt hat, – bis auf seine armenienhaft übertreibende, die Jahrhunderte überdauernde Keilschrift – nichts hinzu gelernt haben.
Davon jedoch wollen wir jetzt nicht reden. Das ist bereits armenischer Alltag, zumindest im Prinzip und, wie jeder vernünftige und auch unwissende Mensch sich vorstellen kann, von wesentlichem Einfluss auf den Ablauf einer jeden und allgegenwärtigen Geschichte, sei sie nun heute wirklich, in der Zukunft phantasievoll, oder in der Vergangenheit märchenhaft gewesen.“
„Versuchen wir bis auf den tiefsten Grund des Sevan-Sees zu schauen und uns vorzustellen, was dort eigentlich zu erspähen und zu erkennen ist. Ich sage Ihnen bei allem Respekt: Gar nichts! Jedenfalls nichts, das wir mit nacktem Auge in der Dunkelheit am Grund des Sevan-Sees sehen können.“
Ich saß mit Armen Bagdalyan, dem Fischer, in einer kleinen, aber sympathisch schmucken Gaststätte am Rand des Sevan-Sees und schaute ihm neugierig in die braunen, überzeugend wachen Augen. Dann auf den graublauen See, dessen Steilhänge am gegenüber liegenden Ufer von einem herabsinkenden Nebelvorhang verdeckt waren. Wir aßen frisch gefangene und über einem Holzkohlenfeuer gegrillte Forellen. Sie schmeckten herrlich.
„Wer von Euch westlichen Europäern, von Euch erfolgsverwöhnten und vom Schicksal so begünstigten Menschen, die Ihr nicht die Nähe des Himmels in den Kaukasusbergen, noch die Reife der Früchte in seinen Tälern oder gar die Freude der Fische, besonders die der Forellen in seinen Seen und Bächen kennt oder gar erfahren habt, kann schon auf den Grund des Sevan-Sees schauen oder dort gar den Sinn des Schicksals entdecken?
Sieh auf die Oberfläche des Sees, sein leicht gekräuseltes Wasser, das sanft und doch fest unter den eigentlich niemals ruhenden, nie aus nur einer Richtung heran eilenden und häufig zornentbrannt wütenden Winden dahin gleitet. Seine Oberfläche bedeutet die Grenze zwischen Leben und Sein, zwischen Wissen und Glauben, Himmel und Hölle. Oder, wie wir in Armenien sagen, zwischen dem Prinzip und der Wirklichkeit.“
„Lieber Armen“, sagte ich verwirrt, „bei allem Respekt, das verstehe ich nicht. Was haben Himmel und Hölle, Glauben und Wissen, mit Prinzip und Wirklichkeit, oder gar mit der Oberfläche Eures so wunderbaren Sevan-Sees zu tun? Hier haben Eure Vorfahren oder zumindest ein Teil Eurer Vorfahren gelebt, von hieraus haben sie andere Völker unterworfen, sich auch von anderen Völkern wie den Persern oder Assyrern unterwerfen lassen, hier hat der technische Wahn des modernen Kommunismus eine wunderbare Natur fast vollständig getötet, hat der verschwenderische und unbedachtsam grenzenlose Verbrauch des Wassers für Energieerzeugung und die Bewässerung der Felder den Wasserspiegel um zwanzig Meter gesenkt, ja, das alles ist wahr und einwandfrei dokumentiert.
Aber die Grenze zwischen dem Sevan-See und seiner Umgebung, sei es nun der sanft abfallende Strand an der westlichen oder die Steilküste an der östliche Seite oder sei es die Luft an der Wasseroberfläche bedeuten doch noch lange nicht eine Grenze zwischen Glauben und Wissen, Leben und Sein, Prinzip und Wirklichkeit. Und falls dennoch, auf welcher Seite liegen denn Leben, Wissen oder Himmel, und auf welcher Seite Sein, Glauben oder Hölle?“
Armen lächelte und sagte vergnügt: „Siehst du, deine Fragen sind schon ein Hinweis, wenn nicht gar ein Beweis für die Richtigkeit meiner Aussage: Zum einen erkennst du, nicht nur im Prinzip, sondern auch in der Wirklichkeit die Grenze zwischen dem Wasser und seiner Umgebung, sei es nun Land oder Luft an.“
„Aber das ist doch selbstverständlich. Ich wäre ein Narr, wenn ich diese Grenze nicht sehen und mich danach richten würde.“
„Genau. Wenn du sie nicht sehen und nicht beachten würdest, dann wärest du längst in den Sevan-See hineingefallen und trotz all deiner hervorragenden Schwimmkünsten schon ertrunken oder würdest zappelnd um Hilfe schreien! Du kämst gar nicht heraus aus dem See, da du seine Grenze und das rettende Ufer nicht erkennen würdest!“
„Ja, und? Das erklärt doch noch lange nicht, was die Sevan-Seegrenzen mit Glauben und Wissen und all den anderen Dingen zu tun haben“, wandte ich siegessicher ein.
Armen lächelte erneut verschmitzt und einladend: „Du hast eben zugegeben, dass der Sevan-See seine Grenzen hat. Niemand wird das bestreiten. Auch du hast das gesagt. Nun, zwischen Glauben und Wissen ist auch eine Grenze. Genauso wie zwischen Himmel und Hölle, oder Prinzip und Wirklichkeit.“
„Ja, aber, auf welcher Seite liegen denn nun Prinzip oder Wirklichkeit, Glauben oder Wissen? Über oder unter beziehungsweise genauer im Wasser?“ fragte ich immer noch siegessiecher.
„Das kommt eben darauf an, wer die Frage stellt, oder von welcher Seite aus man die Dinge betrachtet“, kam die mich vernichtende Antwort.
Ich erkannte, dass ich hierauf keine rettende Erwiderung geben konnte. Es war wie bei einem Schachspiel: Im Prinzip hatte ich gewonnen, in der Wirklichkeit war ich verloren. Das stand eigentlich schon bei Beginn oder nach dem ersten Zug des Spiels fest.
Ich ergab mich meinem Schicksal und meinte kleinlaut: „Wir hier, die wir in der Luft atmen, leben in der Wirklichkeit, mit unserem Wissen, in unserem Sein. Die Fische atmen im Wasser. Sie leben dort in ihrer Wirklichkeit, mit ihrem Wissen und in ihrem Sein. Wir, oder du als Fischer, du kannst sie nur fangen, wenn du glaubst, dass sie sich dort aufhalten, wo du deine Netze auswirfst. Wenn sie dort sind, wo du es glaubst, dann wirst du sie fangen. Sind sie nicht dort, dann hast du falsch geglaubt und du fängst nichts. Das meinst du doch?“
Er lächelte wieder hintergründig und wie ein persischer Teppichhändler, der nach erfolgreichem Handel über den Verkaufspreis eines handgewebten Teppichs noch einen kleinen zusätzlichen Gewinn erzielen möchte: „Im Prinzip hast du verstanden, was ich meine. Aber eigentlich nur im Prinzip. Denn, man kann die Dinge auch umdrehen, und dann stimmt all das wieder nicht so genau: Wenn ich nichts gefangen und trotzdem geglaubt habe, dass sich die Fische dort aufgehalten haben, dann darf ich nicht daraus schließen, dass ich falsch geglaubt habe. Es kann sein, dass die Fische vor dem Netz sich gefürchtet und versteckt haben, es kann sein, dass sich mein Netz, das Werkzeug meines Glaubens, nicht richtig gespannt hatte, es kann sein, dass die Fische von einem großen Raubfisch verjagt wurden, es kann so vieles sein. Vielleicht haben die Fische auch gelernt, sich sofort von dem ins Wasser klatschen Netz fern zu halten, obwohl sie genau dort geschwommen sind“.
„Da habe ich es wieder“, dachte ich ein wenig erzürnt. „Man kann diesen armenischen Burschen einfach nicht beikommen. Selbst wenn sie zugeben, dass man Recht hat, so empfindet man das als Niederlage. So ist das eben mit dem Prinzip des Radio Eriwan“.
Aber böse im eigentlichen Sinn war ich nicht. Dazu waren das Essen viel zu schmackhaft, der See zu einladend und friedlich, die Stimmung zu abendlich und ausruhend.
„Für die Fische ist das Wasser keine Glaubens Angelegenheit, so wie es das für den Fischer ist“, meinte ich nachdenklich. „Sie glauben eher an etwas, das außerhalb, also oberhalb des Wassers ist, an etwas, das wir in unserer Welt nicht mehr als Glauben, sondern als Wirklichkeit ansehen. Vielleicht springen sie deshalb manchmal aus dem Wasser, um nachzusehen, was in ihrer Glaubenswelt geschieht. Ob sie Recht mit ihrem Glauben haben. Ob ihr Gott zürnt, oder ob das Unheil, du, der Fischer, schon nach ihnen jagt.“
„Hm,“ meinte Armen. „Hm. Sie springen zumeist dann aus dem Wasser, wenn, so wie jetzt, da, schau an die Ostwand, sich der Nebel von den Berggipfeln löst und zum See hinunter kriecht. Das ist ein böses Zeichen. Es kündigt Sturm und Kälte an. Nicht nur für den See, nicht nur für die Fische, die sich, sobald sie den kriechenden Nebel in ihrer Glaubenswelt bemerkt haben, zum Grund des Sevan-Sees flüchten. Auch für die Menschen, wie mir mein Großvater, der es von seinem Vater erfahren und mir berichtet hat, auch für die Menschen war und ist es eine Vorwarnung auf das wirklich Böse, das Allvernichtende, das vom Menschen dem Menschen zugefügte Unheil.
Denn so erzählte mein Großvater:
Der Sevan-See ist ein Spiegel unserer Seele. Er lacht und tanzt. Er berichtet von den herrlichen Taten unserer Vorfahren. Er leidet unter unserer Gegenwart. Ihm graut vor der Zukunft, und er singt mit den tiefen Stimmen unserer Mönche und Priester. Vor vielen tausend Jahren, im Land Quihu, lebte einst einer unserer Vorfahren. Er war ein Fischer so wie mein Urgroßvater, mein Großvater, dein Vater und auch ich. Er liebte den See und hatte mit ihm ein so enges Bündnis geschlossen, dass der Sevan-See, der unberechenbare und jähzornige See ihn in sein Vertrauen zog und ihm sagte:
„Du, Simon Bagdalyan, du lebst auf und von mir. Ich respektiere dich, denn du bist freundlich, singst auch bei wütenden Stürmen deine Lieder und nimmst Rücksicht auf die Glaubenswelt meiner Fische.
Höre mir genau zu, was ich dir jetzt sagen werde. Höre mir genau zu. Es ist die Gnade unseres Allmächtigen, der mir erlaubt, dir zu sagen, was sonst keine Sterblichen erfahren dürfen: es wird ein großes Unheil über das armenische Volk hereinbrechen, ein unabwendbares und schreckliches Unheil. Ein Verbrechen von Menschen an Euch Menschen, an Euch, die Ihr hier friedlich und gottesfürchtig an meinen Ufern lebt.
So sagt der zürnende Gott: Ich werde mein Volk, das geliebte armenische Volk der Prüfung durch die Ungläubigen aussetzen. Nicht, dass ich meine lieben Gläubigen fallen oder im Stich lassen werde. Aber, ich muss im Prinzip wissen, was meine Gläubigen von den Ungläubigen unterscheidet.
Sind die Ungläubigen wirklich so grausam und menschliche Teufel, wie es meine Jünger behaupten? Werden meine gläubigen Schafe sich brav und dem Schicksal ergeben in die Wüste treiben lassen von den Ungläubigen? Werden die Ungläubigen nicht wenigstens Mitleid, das einfachste der menschlichen Gefühle empfinden? Werden sie oder wenigstens einige von ihnen meinen Gläubigen hilfreich zu Seite stehen, damit ich auch sie in meinen Glauben aufnehmen und ihnen meine friedfertigen Waffen anvertrauen kann?
Als Zeichen werde ich dir den herab fallenden Nebel senden. Wenn er den See vollständig einhüllt, dann benutzt den Nebel zur Flucht. Er wird Euch vor den grausamen Feinden verbergen, solange, bis sie mit ihren Opfern in die Wüste gezogen sind. Im Prinzip wird so das Unheil vorher gesagt. Es wird kommen, unabwendbar, nur wann, das kann Euch niemand sagen.
So sprach der Sevan-See vor vielen Jahren zu Simon Bagdalyan, und Simon Bagdalyan sprach zu seinem Sohn und sein Sohn zu seinem Sohn und sein Sohn zu seinem Sohn und dessen Sohn zu dessen Sohn.
Der Sevan-See hörte zu und freute sich über die ihm anvertraute und im Prinzip nicht vergessene Warnung. Aber nichts Böses geschah. Friedlich lebten die Fischer, nur geplagt von den alltäglichen Kümmernissen, den unvermeidbaren Schmerzen ihrer Frauen bei der Geburt ihrer Söhne, dem überraschenden Wüten des Sees mit den Leichen der ertrunkenen Söhne, den gebrochenen Beinen der beim Besteigen der Berggipfel verunglückten Söhne, auch den harsch geopferten Söhnen, die im Verlauf der Blutrache gemeuchelt wurden.
Aber friedlich und gottesfromm behütet verlief das Leben des Simon Bagdalyan und seiner Söhne, bis, ja, bis der Sevansee sein Zeichen sandte.
Es war ein schrecklicher Tag. Der See wütete in seinen kräftigsten Tagen. Er wollte und wollte sich nicht beruhigen. Graue, Furcht erregende Nebelschwaden krochen wie graue Teufelsdrachen die östlichen Steilhänge hinab in den tosenden See. Es war als wollte sich die Natur, die sich an die Anwesenheit der friedlichen Fischer gewöhnt und sie lieb gewonnen hatte, gegen die Grausamkeit des Allmächtigen wehren. Aber der Allmächtige erlaubte keinen Widerspruch. Die Warnung war gesprochen. Es war nun den Menschen überlassen, auf sie zu hören, oder eben nicht.
Die Familie oder Sippe des Simon Bagdalyan hatte sich im Laufe der vielen Generationen in zahlreiche Erbfolgen gespalten. Nicht alle seine männlichen Nachkommen waren Fischer geworden: Manche hatten sich der Landwirtschaft, andere einem einträglichen Handwerk wie Zimmermann, dem Bootsbau, oder dem Handel zugewendet.
Einer seiner Nachkommen, der Fischer Tigran Bagdalyan, der mit seiner Frau Anna und seinen vier Söhnen Aram, Ashot, Levon und Hayk in seinem kleinen Haus am westlichen Seeufer lebte, sah mit Entsetzen das Tosen und den irrsinnigen Zorn des Sees.
„Das ist seltsam. Der See will sich überhaupt nicht beruhigen. Es scheint, dass die Natur sich über etwas Ungeheures aufregt. Was meinst du, Frau?“, fragte er seine etwas dickliche, aber noch sehr ansehnliche Frau.
„Ja, irgendetwas stimmt nicht. Alles ist unheimlich geworden. Denke nur, gestern habe ich Hasmik auf dem Weg zum Markt getroffen. Es waren auch türkische Soldaten zu sehen, die das Kloster Sevanawank besetzt und dort alle Priester interniert, wie man munkelt, sogar getötet haben.
Es liege ein großes Unheil in der Luft, sagte mir Hasmik. Sie habe gehört, dass die Soldaten Befehl erhalten hätten, alle Familien zusammen zu treiben und nach Süden in die Wüste zu bringen. Nur der Sturm hindere sie daran, mit der Vertreibung zu beginnen. Das sagte mir Hasmik, die Bäckerfrau. Was sollen wir tun?“
Aram, der mit sechzehn Jahren älteste der Söhne hörte zufällig das Gespräch zwischen seiner Mutter und seinem Vater. Er erinnerte sich an die Gespräche mit seinem Großvater, der vor drei Jahren an einer unheilbaren Herzkrankheit verstorben war. Der Großvater hatte ihm viele Geschichten über den Sevan-See, darunter immer wieder die eindringliche Warnung über das bevorstehende, aber bisher niemals eingetretene Unheil erzählt.
Konnte es sein, dass dieses unheilvolle Wetter, das tosende Wüten des Sees, die grauenvoll kriechenden Nebel die Warnung bedeuteten, die seit Generationen in den abendlichen Wodkareichen Geschichten der Fischer erzählt wurde? Seine Fantasie, die ihm den Beinamen Surenmyan eingetragen hatte, ließ ihn aufgeregt zu seinen Eltern laufen.
„Vater, Mutter, kann es sein, dass die alten Wahrsagungen Wirklichkeit werden?“ fragte er aufgeregt.
„Ach, Surenmyan, deine Fantasie spielt dir wieder einen Streich. Wahrsagungen sind wichtig, im Prinzip, aber, ebenfalls im Prinzip, sie werden nie so Wirklichkeit, wie angekündigt“, versuchte der Vater ihn zu beruhigen.
„Wenn aber doch? Alle sprechen, Mutter hat es auch berichtet, von der Furcht vor fürchterlichen Vertreibungen und einem langen bevorstehenden Weg in die Wüste mit Verdursten und Hungertod. Die Soldaten sind ja schon da. Was wollen die denn hier? Und der See, unser geliebter Sevansee zürnt und tobt wie ein Wahnsinniger. Hast du schon einmal ein derartiges Unwetter erlebt, Vater? Alles passt doch zusammen. Wie es die Vorsagen berichtet haben. Großvater würde mir wohl zustimmen.“
Dem Vater, dessen Großvater ihm ebenfalls die unheimlichen Wahrsagungen eindringlich erzählt hatte, wurde unheimlich. Er schaute aus dem Fenster und sah die heftigen Regenwolken, hörte den wütenden Sturm und war unschlüssig, was zu tun war.
Der See war bei diesem Sturm mit seinem kleinen Fischerboot nicht zu befahren. Das kleine Boot würde nahezu augenblicklich von den mannshohen Wellen mit Seewasser überschüttet werden und sofort sinken. Im Haus zu bleiben, das schien die vernünftigste Lösung in der schwierigen Lage zu sein. Jedoch, die Soldaten hatten schon das Kloster übernommen und waren vielleicht schon auf dem Weg in das kleine Dorf. Dann wäre es fast unmöglich, sich ihrem Zugriff zu entziehen. Sie waren gut bewaffnet. Es waren viele, sehr viele, ungläubige, fremde, gut trainierte sowie gehorsame, mitleidslose Uniformierte.
Er rief den Familienrat zu sich. Zwar hatten Frauen und Kinder nach alter Tradition im Familienrat kein Stimmrecht und waren eher dem Sklavenstand zuzurechnen, aber in einer so geheimnisvollen Situation mit dem wohl vom Allmächtigen befohlenen Zusammentreffen der Sevan-See-Legende und den sich im Land ausbreitenden Gerüchten, Verhaftungen, ja sogar Hinrichtungen und in einen Todesmarsch getriebenen war jede, insbesondere jede fantasievolle Stimme gefragt. Es stand die Zukunft der gläubigen Familie, die ja nach den Legendenberichten den Ungläubigen zum Test über deren Ungläubigkeit ausgesetzt werden sollte, auf dem Spiel.
„Was sollen wir tun? Wir alle sind in Gefahr. Die türkischen Soldaten haben schon unser Kloster Sevanawank besetzt. Eure Mutter hat erfahren, dass die Priester und Mönche getötet wurden. Nicht erschossen, nein, in Reih und Glied aufgehängt, wie die Schafe, die wir zum Ausnehmen an den Beinen aber nicht am Hals aufhängen. Hasmik, die Bäckerfrau hat erzählt, dass die Soldaten die Vertreibung von uns allen ohne Rücksicht auf Frauen und Kinder vorbereiten.
Es scheint, als solle die Sevan-See Mahnung vom Allmächtigen in die Wirklichkeit heute oder spätestens morgen umgesetzt werden. Surenmyan, du besitzt die weiteste Fantasie von uns allen. Was schlägst du vor? Was sollen wir tun? Uns dem wütenden See ausliefern, oder auf die Gnade und die Unvollkommenheit des Allmächtigen hoffen?“ fragte der Vater sorgenvoll.
Surenmyan war überrascht. Es war das erste Mal, dass er den Vater so hilflos erblickte und, noch schlimmer, dass er, der älteste, aber mit sechzehn Jahren noch junge Sohn der Familie zu einer Entscheidung aufgefordert wurde, der sich zu beugen der Vater, der allmächtige Vater in der Familie bereit war. Das erfüllte Surenmyan mit Stolz und mit dem Bewusstsein, dass er, der älteste Sohn nun an Kraft und Verantwortung seinem Vater überlegen war.
Er sagte kraftvoll und streng seinen Vater anblickend: „Mutter, Vater, meine jungen Brüder Ashot, Levon und Hayk, ich habe unserem Großvater genau zugehört. Immer und immer wieder hat er von der Warnung unseres geliebten, jetzt so erzürnten Levansees und dem fürchterlichen Test unseres Allmächtigen gesprochen. Leider können wir ihn nicht mehr um Rat fragen.
Ihr sagt mir, dass ich die größte und vor allem heute wichtigste Fantasie von uns allen besitzen würde. Es bedarf keiner besonderen Fantasie, sich die Grausamkeit der Ungläubigen vorzustellen. Sie werden uns alle nicht nur töten, sondern zuvor unmenschlich, ja nicht nur unmenschlich sondern auch mit all ihrer Ungöttlichkeit quälen. Dem Allmächtigen können wir ebenfalls nicht widersprechen oder aus dem Weg gehen. Er wird seinen Plan, an uns die Göttlichkeit der Ungläubigen testen zu lassen, mit all seiner Vollkommenheit ausführen. Somit hilft uns keine Fantasie, dem Test des Allmächtigen und unserem dann so grausamen Schicksal entfliehen zu können. Was bleibt uns?
Vertrauen wir uns unserem Levansee an. So wie er uns vertraut hat in unserer Familie von Generation zu Generation seine Wahrsagung weiter zu tragen. Ihm zu vertrauen, auch wenn seine Prophezeiung über Jahrhunderte und über den Zeitraum, den wir und unsere Großväter zurückblicken, nicht eingetroffen ist.
Aber jetzt? Mit etwas Fantasie erfahren wir heute und erleben jetzt die Legende, die Warnung des Levansee. Wenn wir daran glauben, wenn wir daran so fest glauben wie an die Stellen im See, an denen sich die Fische aufhalten, die wir zu fangen wünschen, dann gilt nur die Wahl: Wir müssen versuchen, mit dem Boot die andere, die östliche, die von den Russen beherrschte Seite des Levansees zu erreichen.
Ich habe ausreichend Fantasie und kann im Prinzip mit einem Eimer jede in das Boot schwappende Welle wieder heraus schöpfen. Wenn wir alle zusammen schöpfen, dann wird es gelingen. Dann wird dieses Prinzip unser Dasein erhalten. Dann können wir der grausamen Wirklichkeit und den schrecklichen Quälereien der Ungläubigen, veranlasst durch die nicht zu begreifende Absicht unseres Allmächtigen an den Ungläubigen unseren Glauben zu testen, entrinnen. So werden wir überleben, zusammen und als eine unserem Levansee vertrauende Familie.“
Besser ersaufen, als in die Hände der Jungtürken zu fallen“, meinte zustimmend der Vater. Die Mutter sagte mehr Praxisnah: „Nun ja, wir haben kräftige Arme und auch genügend Eimer. Ich denke, dass ich schon vier Eimer auftreiben kann. Und Vater kann das Boot sehr gut steuern. Auch wenn der See zürnt und tobt.“
So bereitete sich die Familie auf die Überfahrt hin zu dem rettenden östlichen Ufer des Levansees vor. Das kleine Ruderboot wurde soweit als möglich mit einer Plane abgedeckt. Der Vater setzte sich an die Ruder. Die Mutter und die vier Kinder nahmen in der Mitte mit ihren Eimern Platz. Die Familie steuerte auf den tosenden See hinaus.
Kaum jedoch hatten sie das westliche Ufer mit all seinen überschwappenden Wellen verlassen, als sich der See zu beruhigen schien. Es war eine der insgesamt seltenen, aber nicht ungewöhnlichen Wind und Sturmlagen, die auf der westlichen Seeseite besonders stark wüten, sich aber zur Seemitte und zur östlichen Seite hin deutlich abschwächen und hier ohne allzu große Gefahrenmomente überwunden werden konnten.
Die Familie erreichte wohlbehalten das andere sichere Ufer und blieb von den kurz danach stattfindenden wütenden Gräueltaten der Jungtürken an den überall gesuchten und vertriebenen Armeniern verschont.
Armen Bagdalyan griff zur Wodkaflasche, füllte unsere Gläser und forderte: „Hier trink. Trinken wir auf das Wohl unserer verstorbenen Großväter! Auf deren Großväter! Und, im Prinzip, auf alle weiteren, von uns nicht mehr abzuzählenden Großväter! Prost!
Hm, das ist guter Wodka. Er stammt aus der Ukraine. Es ist zu gefährlich unseren einheimischen Wodka zu trinken. Er ist zu oft verdünnt mit Wasser und im Ausgleich versehen mit Methylalkohol. Der Kopf brummt dann grauenhaft, und man kann man leicht erblinden. Jedenfalls soll das schon vorgekommen sein.
Und dann, wenn man durch Genuss unseres einheimischen Wodkas zumindest im Prinzip blind geworden ist, dann kann man natürlich nichts mehr sehen, nichts mehr unterscheiden. Weder den Sevan-See, noch seine Ufer, oder seinen Grund oder seine Oberfläche. Wie gesagt, dann läuft man leicht Gefahr zu ertrinken, besonders nach Genuss unseres einheimischen Wodkas. Zumindest im Prinzip.“
Ich sah auf den See hinaus. Es war Nacht geworden. Auf der gegenüber liegenden, der östlichen Uferseite blinkten Lichter einzeln stehender Häuser. Es war kühl geworden. Undeutlich waren die hinab sinkenden Nebelbänke als graue verwehende Schleier noch sichtbar. In sanfter und friedlicher Stimmung plätscherten kleine Wellen an die Boote und an die Holzplanken des Anlegestegs. Schon war der Abendstern aufgegangen. Die Wodkaflasche war geleert. Die junge Bedienung stellte eine neue auf unseren Tisch. Armen schenkte ein.
Ich sagte leise zu ihm: „Auf all die Großväter, die von dem Allmächtigen für seinen Test an den Ungläubigen geopfert wurden. Und Du, See, schenke den so Gequälten vertrauensvoll deinen Frieden.“
Bei diesem Toast trank Armen sein Glas nicht vollständig aus, sondern erhob sich, blickte ernst und würdevoll auf den See, opferte den verbliebenen Wodkarest mit einem kurzen Schwung dem See und sagte: „Herr und Du Sevan, sei ihnen und uns allen gnädig.“
Es wurde eine lange, sehr lange Nacht, natürlich nur im Prinzip, und nur für die Fische im Sevansee, wie Armen ergänzend hinzufügte.
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