Requiem für eine Kommilitonin (Fast eine Autobiographie)
Sie saß neben mir in der ersten Vorlesung zu Beginn des Studiums. Wir machten zwei Semester lang viel zusammen. Man aß damals im Kolpinghaus, wo man für DM 1,25 Spagetti mit Tomatensoße bekam. Es hieß nämlich, der Student geht so lange zur Mensa bis er bricht. In der Tat war das Essen in der Freiburger Mensa abscheulich, man meinte Spülwasser zu schmecken.
Da ich von einem Realgymnasium kam, glaubte ich das, was in Physik und Chemie verzapft wurde, bereits zu wissen, sodass ich nicht zu lernen brauchte. Maren hatte an einem sprachlichen Gymnasium Abitur gemacht, lernte also etwas für die naturwissenschaftlichen Fächer, mit der Folge, dass sie im Vorphysikum viel besser abschnitt als ich. Es entstand eine Freundschaft, die auf einer gewissen Konkurrenzsituation basierte.
Maren war Einzelkind so wie ich, hatte aber beide Eltern, von denen sie den Vater abgöttisch liebte, während sie ihre Mutter – wie ich mir später zusammenreimte – hasste.
Ich dagegen lebte mit meinem verwitweten Vater unter dem Diktat der Mutter meiner Mutter. Papa war viel zu alt für mich, lieb und gütig, konnte mir aber die eigene Mutter, vor allem in seelischen Angelegenheiten, natürlich nicht ersetzen. In geistiger Hinsicht hatte ich ungewöhnlich viel von ihm, lernte und wurde nach Kräften gefördert. Obwohl das Geld in der Nachkriegszeit sehr knapp war, sparte er nicht an Büchern, Reisen, Theaterbesuchen. Was das tägliche Leben kostete, wusste mein Vater nicht. An manchen Tagen hatte ich gerade noch 50 Pfennig für eine Suppe, doch es wäre mir unangenehm gewesen, ihn um eine pünktliche Überweisung meines monatlichen Unterhalts zu bitten. Kurz, ich war reichlich unselbständig, unreif, übermäßig behütet und “durfte nichts”, was heißt, dass ich z. B. zu Hause in unserer kleinen Garnisonstadt nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein auf die Straße gelassen wurde. In Freiburg zu studieren war ein Privileg, das ich der Anwesenheit meiner etwas älteren Cousine am Studienort verdankte.
Als weitere Vergünstigung durfte ich nach dem Semester zu Maren an die untere Weser fahren. Sie hatte einen Dackel und ein Paddelboot, nahm mich mit zu Bootsausflügen. Natürlich saß ich als Anfängerin vorn, was mich zunächst ziemlich ängstigte. Als ich einmal vor ihr und ihrem Vater die Treppe hinaufging, sagte sie zu ihm: “Guck mal was für schöne Beine sie hat, wie Marmor”. Das hat sich, wie man sieht, eingeprägt. Viele Komplimente bekam ich ja nicht, empfand mich als Mauerblümchen und war es auch.
Unsere Studienorte, Wege, Fachrichtungen trennten sich, wir blieben über Geburtstags- und Weihnachtsbriefe in Verbindung. Ich heiratete verhältnismäßig früh, kam damit und mit der Schwiegerfamilie nicht sehr gut zurecht, auch nicht mit der Zeit als Medizinalassistentin, landete aber glücklicherweise in dem für mich richtigen Fach.
Maren wurde Anaesthesistin. Sie war entschlossen, sich damals nicht zu binden, nachdem sie einem Verehrer, der sie gleich nach dem Abitur heiraten wollte, den Laufpass gegeben hatte. Ich glaube, sie hat sich das insgeheim immer übel genommen, zumal sie erleben musste, wie eine Freundin und dieser Verehrer sich näher kamen und später auch heirateten.
Sie besuchte mich einmal während der Zeit, als ich noch – todunglücklich – mit meinem Mann zusammen im Haus meiner Schwiegermutter lebte. Maren empfand die ebenso tüchtige wie bestimmende Frau ebenfalls als tyrannisch, verstand sich aber gut mit dem Hund des Hauses (viel besser als ich), was ihr natürlich Sympathien einbrachte.
Maren litt ebenso wie ich an Migräne, jedoch wesentlich häufiger und mit schwereren Symptomen. Damals half ihr, wenigstens einigermaßen, Avamigran, was i. v. zu injizieren war. Als ich sie einmal an ihrem Arbeitsort besuchte, hatte es sie gerade so schlimm erwischt, dass sie nur noch im Sessel hing und wimmerte, bis ich sie mit einer i. v. Spritze erlöste, d. h. es wurde nach etwa 20 Minuten erträglich. Wehleidig war sie nicht, fand dann rasch ihre Vitalität wieder.
Irgendwann bekam sie eine Hepatitis. Ihre Arbeit hat sie nie länger als unbedingt notwendig unterbrochen. Zu welchem Zeitpunkt ihre depressiven Verstimmungen begannen, weiß ich gar nicht. Sie machte nicht viel Wesens darum und versuchte, sich an ihrem eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Später heiratete sie einen viel älteren Mann, ganz folgerichtig, wie ich im Hinblick auf ihre Familiengeschichte fand. Ihn lernte ich erst vor zwei Jahren kennen, einen kultivierten, liebenswürdigen Herrn alter Schule, der natürlich verheiratet gewesen war und Kinder hatte, nicht willens und auch nicht fähig, sich für Dinge des täglichen Lebens zu engagieren. Sie sagte nicht mehr als: die erste Zeit war sehr schwer. Wenig später wurde er hilfsbedürftig, zum Teil aus Bequemlichkeit. Maren stand treu zu ihm, hatte schreckliche Depressionen. Wir trafen uns in Abständen, gingen zusammen ins Ägyptische Museum. Sie meinte, dass zwischen uns “die Chemie immer noch stimme”. Clichés mag ich nicht, verstand aber die positive Botschaft. In der Folge gewann ich eine Art Oberhand, als ich gute Erfahrungen mit einer zweiten lebendigen, spannungsvollen und interessanten Ehe machte, erfolgreich bis zum 68. Lebensjahr eine Einzelkämpferpraxis führte und meinen Ehrgeiz durch ein Zweitstudium und kurzweilige schriftstellerische Tätigkeit befriedigen konnte.
Es kam der Sommer 2016. Ich war wegen einer Tagung an Marens Wohnort, mit ihr zum Kaffeetrinken und “Schwätzen” verabredet. Wir trafen uns, sie setzte einen Fuß unglücklich auf die Rolltreppe, fiel buchstäblich auf die Nase, erlitt einen Nasenbeinbruch und, was viel unangenehmer war, eine stark blutende Platzwunde unter dem linken Auge. Notfall-Ambulanz, ab ins Klinikum, ich fuhr natürlich mit. In dem Zimmer, in dem wir dann mehr als zwei Stunden warten mussten (ein Notfall nach dem anderen, Wochenende natürlich), war alles vorhanden. Ich zog Handschuhe an und war in Versuchung, selbst zu nähen, ließ es glücklicherweise doch lieber bleiben und beschränkte mich auf Blutstillung und Zuspruch. Ein Kollege produzierte eine auch kosmetisch absolut einwandfreie Naht, für die Maren “nur” 125, – Euro zahlen musste, während die Rechnung für den Krankentransport mit mehr als 500 Euro zu Buche schlug.
Es kam der Juli 2017. Ich wollte mich fernmündlich nach ihrem Befinden erkundigen und an dieses gemeinsame Erlebnis erinnern, bekam ihren Mann ans Telefon und musste hören, dass Maren vier Wochen zuvor verstorben war. Ich schrie auf, erfuhr, dass sie wohl eine Apoplexie erlitten hatte und die Kellertreppe hinuntergestürzt war. Ihr Mann, gehbehindert und an ihre Fürsorge gewöhnt, fand sie Stunden später bewusstlos in einer Blutlache. Sie verstarb drei Tage später in der Klinik, ohne noch einmal aus dem Koma zu erwachen.
Entlastet mich das jetzt? Es soll ja manchmal helfen, sich etwas von der Seele zu schreiben…