Wie mein Enkelkind meine Erinnerungen ordnet und durcheinanderbringt.
Mein ganzes Leben lang wollte ich wissen, wie wir wissen können und denken, und wie wir gelerntes in unserem Gehirn abspeichern. In der Schule habe ich etwas in Biologie dazu gehört, und dann gab es noch bei meinem Deutschlehrer den Kurs „Pädagogische Psychologie“. Dort lernte man, was Intelligenz ist. Dass Intelligenz ein Konstrukt ist.
1978 erschien dann ein Buch von Frederik Vester mit dem Titel „Denken, Lernen, Vergessen“. Das war schon interessant, und das Gedächtnis wurde in ein Ultrakurzzeitgedächtnis, ein Kurzzeit- und ein Langzeitgedächtnis unterteilt.
Was gelernt war, wurde im Langzeitgedächtnis abgespeichert.
Im Ultrakurzzeitgedächtnis wurde eigentlich alles gleich wieder gelöscht.
Heute wissen wir, dass vieles, sogar das meiste, gar nicht ins Gedächtnis gelangt. Das meiste verarbeiten wir im Unterbewusstsein. Über dieses, und über das Unbewusste arbeitete Sigmund Freud.
Dann kam Daniel Kahnemann mit „Thinking, Fast and Slow“, er unterteilte das Hirn in zwei Systeme. Das System 1 ist unwillkürlich, arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung.
System 2 macht die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die komplexen Berechnungen und Betrachtungen. System 2 gibt uns das Gefühl der Entscheidungsfreiheit und der Konzentration.
Für seine Erkenntnisse wurde Daniel Kahnemann mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.
Schließlich schreibt Martin Korte aus Braunschweig das Buch „Wir sind Gedächtnis“.
Und da sieht man dann, dass es so einfach nicht ist, es gibt nicht System 1 und 2, sondern Prozesse, Programme und Gedächtnis lassen sich nicht voneinander trennen. Gespeicherte Routinen und Prozesse lassen sich nicht vom Prozessor trennen. Das ist anders als beim Computer mit seiner Festplatte.
Wir wissen nun auch, wie Lernen funktioniert: Neues wird am einfachsten gelernt, wenn man es mit Bekanntem verknüpft. Wenn Gelerntes ins Langzeitgedächtnis gegeben wird, werden neue Synapsen, neuronale Verbindungen geknüpft. Funktionelle Veränderungen, nämlich die Verstärkung einer Synapse zieht strukturelle Veränderungen nach sich: Die Zahl der Synapsen wird größer.
Eine Erinnerung heißt in diesem Zusammenhang nicht, etwas von der Festplatte abzugreifen. Wenn wir uns erinnern, unterliegen die neuronalen Aktivitätsmuster der Großhirnrinde und im Hippocampus den gleichen plastischen Prozessen, die zu ihrer Einspeicherung geführt haben. Anders als das Abspielen einer DVD ist jede neue Erinnerung anders, quasi neu konsolidiert. Das Gedächtnis kann so aktualisiert, aber auch verändert oder sogar manipuliert werden.
Mir wird das alles gerade sehr bewusst.
Ich bin nämlich Opa geworden.
Jeden Tag bekommen wir Bilder und Filme von den Entwicklungsfortschritten unseres Enkelkindes.
Da denkt man zwangsläufig eine Generation zurück.
Und nun:
Mitten im Zeitalter der Digitalisierung haben ich analoge Datenträger wiederentdeckt. Erst den Videokassettenrecorder, weil ich die Bilder meines Enkelsohnes mit den Bildern unserer Kinder vergleichen wollte. Jahrelang lag die Videokamera unbenutzt in der Schublade. Video 8 von Sony aus den 80er Jahren. Es funktioniert perfekt. Und ruft die Erinnerungen wach, rückt sie aber auch zurecht.
Um das Maß voll zu machen, haben wir nun auch unseren Cassettenrecorder wieder an die Stereoanlage angeschlossen. Auch der funktioniert. Die Bänder drehen sich. Und ich höre wieder „Sweet, Soft und Lazy“ aus dem Jahr 1983. Die Erinnerung kommt wieder. Und das Vergessen, selbst eine Leistung des Gedächtnisses, wird zurechtgerückt.
Den Bandsalat, den wir früher bei den Magnetbändern beklagten, haben wir vor allem auch in unserem Kopf.
Re-Konsolidierung macht Spaß.
„Denken, Lernen, Vergessen“ muss ergänzt werden durch „Erinnern“.
Erinnern scheint die entscheidende kognitive Leistung für Kreativität und Wissen zu sein. Immer wieder anders, immer wieder neu.
Und nun: Film ab.
April 2020