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Zertifizierer und Zertifizierte (Harald Rauchfuß)

Zertifizierer und Zertifizierte

 

Der Klinikverwalter hielt den Erlös des Hospitals seit Jahren in der Gewinnzone. Die Eingabe eines Advokaten bei Gericht, der die Konkurrenzklinik vertrat, zwang ihn zu einer Nachzertifizierung.

Zertifizierer prüfen jedes angeforderte Papier genau, vergleichen es mit Hilfe elek-tronischer Schablonen, um keine Dokumentationslücke zu übersehen, und fordern ständig neue Informationen an.

HansEmsig, der Leiter der Firma Zertissimo, genoss es, mit dem ständigen Stochern in Unterlagen bei den Kunden Dankbarkeit zu wecken. Jedes Klinik-Team möchte das andere übertreffen, die Gunst der Haushaltsplaner erheischen. Doch kein Team organisiert den Arbeitsprozess so perfekt, dass Herr Emsig kein Optimierungspotenzial entdecken würde.

Dr. Moor, der für die Zertifizierung abgestellte Arzt, wusste, wann Herr Emsig den Aufzug bestieg. Der Doktor bezog Position in der finsteren Ecke des Korridors zum Kon-ferenzzimmer im siebten Stock. Dort befandsich eine Schalttafel des Lifts. Auf- und Abfahr-Geschwindigkeit, Ein- und Ausstieg regulierte man für den zügigen Ablauf von Konferenzen. Dr. Moor öffnete die Schalttafel und ließ Hans Emsig in den Keller fahren.

HansEmsigfuhr zurück; einer von der Firma Zertissimo stieg im Parterre hinzu. Der Lift karrte sie hinab. HansEmsig fragte den Mitarbeiter: »Wissen Sie, wer für den Fahrstuhl verantwortlich ist?«

»Wird der Hausmeister sein«, murmelte der Fachkollege, »er ist fällig. Der Aufzug hält ja im Parterre!«

Der nächste Fachgenosse stieg zu. Drei Fachkräfte der Firma Zertissimo gerieten in den Keller. Jede Stunde geht dem Profit verloren, die man nicht mit Zertifizieren verbringt. Sie trösteten sich damit, eine Gewinn bringende Zertifizierungslücke aufzuspüren.

In der Eingangshalle berieten sie die Lage. Sie mochten keinen gegen sich aufbringen, dessen Dankbarkeit sie brauchen dürften. Die Herren – ein Vierter kam hinzu –  vereinbarten, dass der Jüngste die Stockwerke zum Konferenzzimmer hinaufsteigen und den Arzt holen soll.

Er nahm den Lift im ersten Stock und gelangte in den siebten. Dr. Moor gratulierte dem Zertissimo. Wie erwartet, fragte Dr. Moornicht nach dem Grund der Verspätung. Die Firmengenossen hatten die Anzeige über der Aufzugtür verfolgt und machten es dem Jüngsten nach.

Endlich besprach Firma Zertissimo mit Dr. Moor die Nachzertifizierung. Ärzte gehören zur schwierigsten Kundschaft. Man begeistert sie zwar für  Prozessqualität und Qualitätsmanagement, Psychiater aberhalten es für Aberglauben, dass Zertifizierung Erfolg bringen soll. Sie fördere allenfalls die informationsleere Dokumentation.

»Es ist jetzt alles auf dem modernsten Stand«, begann Herr Emsig, »wir widerlegen den Klägeranwalt. Das Gericht wird künftig genau prüfen, ob es seine Klagen annimmt.«

»Meine Herren«, antwortete Dr. Moor, »stillhalten, kein Interesse erregen, das ist nichtmein Rezept. Ich war es, der das Interesse des Klägers auf unser Hospital lenkte.«

»Sie?«

»Beruhigen Sie sich! Ich tat es, um Zertissimo zu zertifizieren. Sehen Sie, ein Klinikum ist ein Organismus. Mag es Ihnen auch gegen den Bürstenstrich gehen: Organische Prozesse bleiben ständig in der Schwebe. Ändert sich das Organ, ändert sich der Prozess. Wer nicht aufpasst und sich nur nach der Prozessqualitätsvorschrift richtet, verliert den Anschluss.«

»Da haben wir es«, warf der zweite der Firma Zertifissimo ein, »der Organismus braucht Betriebsstörungen, um das Anpassen nicht zu verlernen!«

Dr. Moor lächelte: »Genau, meinHerr! Das gesunde System gleicht jeden Defekt aus, es findet selbst den Ausweg.«

»Dochsicher«, stürmte der Dritte von Zertissimo vor, »nur bis zu einer gewissenGrenze.«

»An dieser Grenze«, erklärt Dr. Moor, »wird der Organismus zornig. Er bestraft Grenzüberschreitung mit Krebs, Depression oder Suizid.«

»Das ist nicht unsere Kompetenz«, stellt der vierte Zertissimist fest, »nennen Sie ein Beispiel, das in unsere Kompetenz gehört!«

»Gern. Patienten, Lokalpolitiker, die Medien würden aufschreien, wenn wir den Be-trieb herunterfahren. Betrachten Sie Ihre Ratschläge! Wo taucht der brauchbare auf?«

»Aber Herr Dr. Moor, das gehört nicht zu unserer Kompetenz!«

»Doch! Sie stören den Organismus. Sie schaffen den Leidenden ohne Eigenschaft. Sie heften ihm Nummern an, obendrein vernichten Sie seinen Namen. Sie rechtfertigen jede Kostenoptimierung, werfen das Ziel des Organismus über Bord. Sie lösen seine Beziehungen auf. Aus Sozialdaten und Gesundheitskosten zimmern Sie eine dubiose Signifikanz, eingebettet in Zertissimo-Diagramme, die niemand glaubt.«

Eine Pause trat ein.

»Lassen Sie uns zum Ende kommen«, lächelt Dr. Moor, »Ihre Analyse macht namenlose Patienten zur Ursache für Kostenproduktion. Zertissimo erstellt irgendein Statistik-Diagramm. Es sieht wie ein allergischer Ausschlag auf der Haut des Organismus aus … Verstehen Sie nun, dass Sie mich zwingen, gegen den Ausschlag vorzugehen, obwohl er für michals Psychiater fachfremd ist?«

Herr Emsig hakt ungeduldig nach: »Warum haben Sie, Herr Dr. Moor, uns den Streich mit dem Aufzug gespielt?«

Dr. Moor lächelt. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie ÄrzteundPatienten ohne Eigenschaften produzieren. Sie versuchen mit Ihrem Raster alles abzufangen, was den Menschen betrifft, das Schicksal eines Kranken, das Tun eines behandelnden Doktors. Sie verdammen das Gesprächals Kostentreiber, Sie haben keine Vorstellung vom Wert des Gesprächs für Patientund den Organismus.«

»Wir bitten Sie, HerrDoktor, denken Sie an die Geschäftsführung des Hospitals! Sie braucht den Vergleich mit Zahlen, nicht mit Worten!«

»… und ich brauche Worte«, gab Dr. Moor zurück, »damit habe ich Erfolg, präsentiere dem Verwaltungsleiter wachsende undnicht fallende Fallzahlen. Wir Psychiater verschrei-ben andere Rezepte und verrechnen uns nie beim Nachzählen.«

Hans Emsig fand keine Antwort.

Dr. Moor schaute lächelnd den jüngsten Zertifizierer an: »Ich halte Sie für talentiert. Ich sähe Sie gern im Funktionsbereich Qualität der Klinik. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sich einmal verändern möchten. Der Funktionsbereich ist meine Aufgabe.«

Copyright Dr. Harald Rauchfuß

Published inProsa

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