Tag: 20. März 2018

  • Krankheit und Kränkung antiker Götter 

     

    Was bedeutet Krankheit für die Götter zur Zeit des trojanischen Krieges? Man denkt an die Söhne des Asklepios, Machaon und Podaleirios[1], die später von ihrem Vater, dem Heilgott schlechthin, bei Weitem an Ruhm übertroffen werden. Aber erleben Gottheiten auch selbst Unfälle und krankhafte Veränderungen, erfahren sie Kränkungen?  Nun, sie mischen sich in die kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschen ein und übertragen, wie auf dem Schlachtfeld vor Troja, nicht nur ihre eigenen Zwistigkeiten auf die gegnerischen Parteien[2], sondern sie schlagen, noch dazu unter dem beifälligen Lachen des Göttervaters Zeus, heftig auf einander los[3]. Sie werden verwundet wie Menschen, dank ihrer Unsterblichkeit aber nicht tödlich, und sie beklagen ihre Verletzungen auf durchaus menschliche Art.

    Auch von nichttraumatischen pathologischen Veränderungen bleiben sie, wie etwa der Gott Hephaistos mit seiner Gehbehinderung[4], nicht ganz verschont. Götter reagieren äußerst empfindlich, wenn sie sich nicht genügend geehrt fühlen[5], sind verärgert und gekränkt, wenn man ihnen mit Hybris – Anmaßung – begegnet. Dann strafen sie unnachsichtig, senden Krankheiten[6], Unfruchtbarkeit[7], Tod und Verderben.

    1. Verwundete Götter:

    In seiner Ilias zeigt Homer die Götter in jener unmittelbaren, persönlichen Aktivität, wie sie sonst das Handeln der Menschen kennzeichnet[8].

    Herakles verwundet die Gottheiten Hera und Hades. Erstere, die Königin der Götter, verfolgt den illegitimen Sprössling ihres Gemahls mit gnadenlosem Hass. Wir erinnern uns, dass der stets für sterbliche Frauen entflammbare Zeus sich der schönen Alkmene in Gestalt ihres abwesenden Gatten Amphitryon genähert und mit ihr den überragenden Helden Herakles gezeugt hatte. Diesen Fehltritt nimmt die ständig betrogene Hera ganz besonders übel. Darüber, wie es zum Angriff des Herakles auf seine göttliche „Stiefmutter“ kommt, erfahren wir wenig mehr als nichts[9].

    Hera ertrug es, als sie des Amphitryon mächtiger Sprosse
    Traf in die rechte Brust mit dem Pfeile, dem dreifachgezackten.
    Damals ergriffen auch sie ganz unerträgliche Schmerzen[10].  

    Andere antike Quellen zu diesem speziellen Ereignis fehlen[11]. Aus dem Wort „damals“ können wir auf Vorzeitigkeit schließen. In der Ilias wird mehrfach von früheren Geschehnissen berichtet.

    In demselben Zusammenhang ist von der Verletzung des Hades die Rede. Anders als Hera, die den Schmerz einfach erträgt, lässt sich der Herr der Unterwelt von Paiéon behandeln[12].

    Hades ertrug den schnellen Pfeil, der übergewaltge,
    Als ihn derselbe Mann, des Zeus Sohn …
    in Pylos traf und ihm Schmerzen bereitet‘
    ... es war ja der Pfeil ihm
     in seine wuchtige Schulter gedrungen...
    Aber Paiéon heilte ihn dann mit lindernden Kräutern.

    Diomedes, ein weiterer griechischer Heros und wie Herakles Schützling der Göttin Athena, verletzt Aphrodite[13] und Ares.

    Von der lieblichen Aphrodite sagt Zeus: Dir sind nicht gegeben, mein Kind, die Werke des Krieges[14]. Dennoch hatte sie sich auf das Schlachtfeld gewagt, um ihren sterblichen Sohn Aeneas vor dem Schlimmsten zu bewahren. Der kampfesmutige Diomedes verfolgt sie.

    Nachspringend  stieß er ihr dann mit dem scharfen Speer in das Ende ihrer so zarten Hand.. nahe der Wurzel …; es floss das ambrosische Blut … chor genannt, wie es fließt bei den seligen Göttern …. Sie aber schrie laut auf und ließ den Sohn dabei  fallen, doch den fasste … und barg ihn in schwarzblauer Wolke Phoibos Apollon. Er bringt Aeneas in seinen Tempel auf der Burg von Troja, wo sich Artemis und Leto seiner annehmen und die Verletzungen heilen[15].

    Inzwischen wird die schmerzgeplagte Aphrodite von Iris mit windschnellen Füßen hinweg geführt. Ares stellt seiner Schwester (Geliebten, Gattin) seine Rosse zur Verfügung, Iris ergreift die Zügel … da flogen die Pferde

    Doch Aphrodite … fiel in den Schoß der Dione, ihrer Mutter 
    Halte es aus, mein Kind, rät diese, und fasse dich, wie du auch leidest!

    Dann wischt sie das göttliche Blut ab und heil ward die Hand, und die schweren Schmerzen wurden gelindert.

    Bei der Verwundung des Ares greift Athena entscheidend ein[16]:

    Sie, mit strahlenden Augen … führt ihm die Lanze von Erz … gegen die Weichen am Bauch … dorthin traf sie stoßend und riss ihm die Haut auf

    Klagend zeigt Ares dem Allvater das göttliche Blut, das nieder rann aus der Wunde[17],

    Dann macht er seinem Unmut gegenüber Zeus und Athena gründlich Luft:

    Immer müssen wir Götter doch das Ärgste ertragen…[18] [sic!]
    Mit dir hadern wir alle; du zeugtest das sinnlose Mädchen,
    das verderbliche, das stets denkt an gewaltsame Taten…[19]
    Dieser wirfst du nie etwas vor mit Worten und Werken,
    Sondern du lässt sie, da du sie geboren, die scheußliche Tochter…[20]

    Diese Tochter, von Zeus selbst ausgetragen[21], steht ihm besonders nahe. Den „wimmernden“ Ares dagegen duldet er nicht länger in seiner Nähe[22] und beauftragt Paieon, ihn zu kurieren:

    Und Paeion streute ihm auf schmerzlindernde Kräuter,
    Und er heilte ihn
    Wie wenn die weiße Milch von Feigenlabe gerinnet,
    Erst noch flüssig, aber sehr rasch beim Rühren dann dick wird,
    So wurde geschwinde geheilt der stürmische Ares.[23]

    Doch dieser verzeiht seiner Schwester Athena die ihm in Diomedes‘ Namen zugefügte Verletzung nicht. Darum zahle ich dir jetzt heim  für das, was du tatest[24]. Athena jedoch ist nicht nur Kriegsgottheit wie ihr Bruder, sondern auch die Göttin der Weisheit und des Geistesblitzes, daher dem „stürmenden, blutbesudelten“ Ares weit überlegen. Sie weicht seiner Lanze aus und schlägt ihn lachend mit einem Grenzstein zu Boden[25].

     

    1. Nichttraumatische Krankheiten:

    Hephaistos ist ein Gott mit – wie wir heute sagen würden – eingeschränkter Gehfähigkeit[26]. Doch statt sich zu bemitleiden und aus seiner Behinderung eine richtige Krankheit zu machen, nimmt er sie gelassen hin und legt als geschickter Kunsthandwerker und Waffenschmied  Ehre ein. Kränkung allerdings verträgt er ebenso wenig wie irgend ein anderer Gott. Dergleichen erfordert Rache. Seine Mutter Hera, die ihn ohne die Mitwirkung eines männlichen Wesens erzeugt hatte und ihn, entsetzt über seine verkrüppelten Füße (oder über seine Hässlichkeit), vom Olymp herab warf, nötigt er auf einen von ihm konstruierten Thronsessel, von dem sie sich ohne seine Hilfe nicht mehr erheben kann. Aphrodite, die treulose Gattin, die er mit ihrem Liebhaber Ares in flagranti erwischt, fängt er in seinem unzerreißbaren Netz ein[27].

     

    1. Götter senden Seuchen

    Apollon, erzürnt wegen der Kränkung seines Priesters Chryses, schießt  Pestpfeile in das vor Troja befindliche Lager der Achäer[28].

    Artemis, Herrin der Tiere[29], schützt kleine Mädchen und Parthenoi, die sie aber bestraft, wenn sie ihre Jungfräulichkeit verlieren. Sie ist Hüterin der Frauen, doch Zeus verlieh ihr auch, zu töten, wen du nur möchtest[30]. So steht neben der sichtbaren Krankheit Artemis‘ unsichtbares Geschoss als denkbare Todesursache[31]. Dass Artemis mit ihren Pfeilen – so wie Apollon die Pest verursachte – bei den Gebärenden das Puerperalfieber hervorgerufen haben könne, an dem doch so viele Wöchnerinnen nach kurzer Krankheit sterben, ist ein neuzeitlich- interessanter aber unbewiesener Gedanke[32].

     

    1. Heilende Götter:

    Wir hören von Paiéon, dem Wundarzt der Götter. Die Ägypter sollen von ihm abstammen, denn sie sind kundiger im Umgang mit heilenden Kräutern als andere Menschen[33]. Der Paián ist aber auch ein Heilsgesang der jungen Griechen für Apollon. Bei Hesiod werden Paiéon und Apollon neben einander genannt als Ärzte, die Heilmittel gegen alles kennen und im Stande sind, vor dem Tode zu retten[34].

    Ein Sohn des Apollon ist Asklepios. Sterblich zunächst, empfängt er bald göttliche Ehren. Die Kulte für seine Söhne Machaon und Podaleirios bleiben eher von lokaler Bedeutung[35].

    Auf den Heiler der Krankheit Asklepios heb ich mein Lied an,
    auf den Sohn Apollons; die hehre Koronis gebar ihn[36].

     

    Abkürzungen:

    DNP: Der Neue Pauly

    Hom. h.: Homerische Hymnen

    Il.: Hom. Il.: Homer, Ilias

    Hom. Od.: Homer, Odyssee

     

    [1] W. Wamser-Krasznai, Ärzte und Tod in der Alten Welt. Mythos, Magie und Metamorphosen, in dies., Streufunde (Filderstadt 2017) 71-74.

    [2] Kein Krieg in Troja. Legende und Wirklichkeit in den Gedichten Homers (Würzburg 1997) 10.

    [3] Il. 21, 390.

    [4] W. Wamser-Krasznai, Hephaistos – ein  hinkender Künstler und Gott, in: dies., Auf schmalem Pfad (Budapest 2012/13) 72-82.

    [5] Hesiod, Werke und Tage. Griechisch und deutsch (Darmstadt1991) 138 f.

    [6] S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom S, 62 f.

    [7] Laser a. O. 85 f.

    [8] H. Jung, Thronende und sitzende Götter. Zum griechischen Götterbild und Menschenideal in geometrischer und früharchaischer Zeit (Diss.Bonn 1982) 18 Anm. 16.

    [9] „Herakles…shot…Hera under unknown circumstances“,  J. Larson, The singularity of  Herakles, in: S. Albersmeier (Hrsg.), Heroes. Mortals and Myths in Ancient Greece. Walters Art Museum (Baltimore 2009) 32.

    [10] Il. 5, 392-394.

    [11] Wie Hera und Hades vom Pfeil des Herakles getroffen wurden, wird als bekannt vorausgesetzt, R. Hampe, Nachwort zur Ilias (Stuttgart 2007) 562. Larson a. O. 32. Der Trojanische Sagenkreis besteht ja nicht nur aus Ilias und Odyssee, sondern aus weiteren fragmentarisch erhaltenen Epen, die zum Teil erneut von späteren Dichtern erzählt wurden. Troja war bereits, bevor es den Achäern unter Agamemnon und Achilleus in zehnjährigem Kampf unterlag, durch Herakles berannt und geplündert worden. Vom Haus des Königs Laomedon überlebten  nur eine Tochter und ein Sohn, der spätere König Priamos, DNP 1138 f.; Il. 5, 636-642 und Il. 21, 442-457.

    [12] Il. 5, 395-401.

    [13] Il. 5, 336-382. 416.

    [14] Il. 5, 428 f.

    [15] Il. 5. 445-448.

    [16] Il. 5, 856-858.

    [17] Il. 5, 870.

    [18] Il. 5, 873.

    [19] Il. 5, 875 f.

    [20] Il. 5, 879 f.

    [21] Laser a. O. 168.

    [22] Il. 5, 889.

    [23] Il. 5, 899-904.

    [24] Il. 21, 399.

    [25] Il. 21, 402-408.

    [26] Spekulative Diagnosen erstrecken sich von Klumpfüßen über posttraumatische Läsionen bis zur Lähmung als Berufskrankheit bei dem für einen Schmied ständig notwendigen Umgang mit Arsenbronzen, dazu Wamser-Krasznai a. O. 2012/23, 74-77.

    [27] dies. a. O. 2012/13, 75. 80.

    [28] Il. I 44-52; S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom Kap. S 62.

    [29] Potnia theron, Il. 21, 470.

    [30] Il. 21, 483 f.

    [31] DNP 53; Hom.Od. 11, 171 f.

    [32] G. Maggiulli, Artemide – Callisto, in: Mythos. Scripti in Honorem Marii Untersteiner (Genova 1970) 183.

    [33] Hom. Od. 4, 229-232.

    [34] Hes. Fr. 194 Rz, Laser a. O. S 94.

    [35] Wamser-Krasznai a. O. 2017, 71-74.

    [36] An Asklepios, Hom. h. 16.

  • Krankes und Morbides im Werk von Thomas Mann

     

    Das Wort Krankheit steht hier für bedrohliche pathologische Veränderungen am Patienten; das „Morbide“ setzt sich aus einer Gruppe von Befindlichkeitsstörungen zusammen, wie Hypochondrie, Resignation, Neurasthenie. Die Betroffenen erleben einen schleichenden Niedergang. Beide Erscheinungsformen, Krankheit und Morbides treten in den Erzählungen des Autors nebeneinander auf und  durchdringen einander, sowohl in demselben Text und auch innerhalb ein und derselben Person.

    Wir beginnen mit einer Erzählung, die unter den vielen Pathographien Thomas Manns als einzige von einer Krebserkrankung handelt.

     

    … betrauert von allen, die sie kannten.

    Ovarialcarcinom: (Die Betrogene, 1953)

    Eine Dame der Gesellschaft verliebt sich in den Englischlehrer ihres Sohnes, einen etwa 25 Jahre jüngeren Amerikaner. Der junge Ken ist zunächst an der so viel Älteren nur höflich interessiert, dann aber vom reizvollen Gegensatz immer stärker fasziniert. Kurz bevor sich die wieder erblühte Frau den drängenden Wünschen ihres Körpers ergeben kann, widerfährt ihr mit einer nächtlichen Massenblutung der Anfang vom Ende.

    Infektionskrankheiten

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten Seuchen eine ernsthafte Bedrohung dar. Man musste sich oft mit dem Lindern von Symptomen begnügen, und manche Chefärzte übertrugen hoffnungslose Fälle, die ihnen weder Ehre noch schnöden Mammon versprachen, lieber auf unbedeutende Assistenten. Die Rede ist von der Tuberkulose.

    Als Soldat und brav (Der Zauberberg, 1924)

    Joachim, ein junger Offiziersanwärter, kaschiert die Symptome so lange es irgend geht durch Sonnenbräune und militärische Haltung, während sein Vetter Hans das bleibt, was er in jeder Hinsicht ist, der „hübsche Bourgeois mit einer kleinen feuchten Stelle“. Nach dem missglückten Versuch, seinen Dienst wieder anzutreten, stirbt der Fahnenjunker an progredienter Laryngitis tuberculosa. Die Spur des anderen verliert sich in den Wirren des ersten Weltkriegs.

    Wenn es Tuberkeln sind, so muss man sich ergeben (Buddenbrooks, 1901)

    Clara Buddenbrook, ein ernstes, strenges Mädchen, hatte schon als Jugendliche an Gehirnschmerzen gelitten, sie traten neuerdings periodisch in fast unerträglichem Grade auf. Manchmal führt sie eine Hand zum Kopfe, denn dort schmerzt es. Nach geraumer Zeit erliegt sie einer Gehirntuberkulose.

    An einem Zahne … (Buddenbrooks)

    Um die Gesundheit des Thomas Buddenbrook ist es nicht gut bestellt. Während seiner Volontärzeit in Amsterdam erleidet er einen Blutsturz und unterzieht sich einer Luftkur  in Südfrankreich. Frostige Blässe, bläuliches Geäder und eine Neigung zum Schüttelfrost sind ständige Begleiter als er in jungen Jahren bereits…Chef des großen Handelshauses wird. Seine Grundkrankheit ist zwar die Tuberkulose, aber die Ursache seines allzu frühen Todes ist sie nicht… Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben, hieß es in der Stadt. Man denkt an eine Apoplexie oder man behilft sich mit der gängigen Formel für Fälle, in denen man es nicht so genau weiß: „Verstorben unter den Zeichen des Herz-und Kreislaufversagens“.

    Die junge Frau litt an der Luftröhre…und Gott sei Dank, dass es nicht die Lunge war: (Tristan,1902)

    …kaum vom Wochenbette erstanden … äußerst verarmt an Lebenskräften, als sie beim Husten ein wenig Blut aufgebracht hatte …  es war, wie gesagt, die Luftröhre, ein Wort, das … eine überraschend tröstliche, beruhigende, fast erheiternde Wirkung auf alle Gemüter ausübte … Manchmal hüstelte sie. Hierbei führte sie ihr Taschentuch zum Munde und betrachtete es alsdann.

    Das Ende kommt rasch, nicht ohne dass Thomas Mann den Kontrast zwischen Gabrieles ätherischem Wesen und ihrem stämmigen Gatten, mehr noch: ihrem pausbäckigen, prächtigen und wohlgeratenen Sohn gehörig herausarbeitet hätte.

    Andere Infektionskrankheiten nehmen im Werk des Autors weniger  Raum ein. 

    Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt: (Buddenbrooks)

    Die Diagnose ist gelegentlich durch besondere Umstände erschwert, wenn nämlich die Anfangssymptome, Verstimmung, Mattigkeit, Appetitlosigkeit, unruhiger Schlaf, Kopfschmerzen, schon vorher bei anscheinend völliger Gesundheit vorhanden sind. Von völliger Gesundheit kann allerdings kaum die Rede sein, doch geraten wir hier an die Grenze zum Morbiden, von dem später noch zu reden sein wird.

    Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte Neigung zur…Wanderung an den Tag gelegt: (Der Tod in Venedig, 1911)

    Möglicherweise infiziert sich der Schriftsteller Gustav Aschenbach mit rohem Obst, das er vor einem kleinen Gemüseladen kauft, Erdbeeren, überreife und weiche Ware. Die nur halb körperlichen Symptome, die ihn wenig später befallen, sind Schwindel und eine heftig aufsteigende Angst … Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.

    Bevor wir uns dem „Morbiden“ zuwenden, müssen wir uns noch mit einer weiteren durch Infektion in Gang gesetzten Krankheit beschäftigen, der Syphilis.

    Krankheit, und nun gar anstößige, diskrete, geheime Krankheit … (Doktor Faustus 1947)

    Progressive Paralyse:

    Die Lues oder Syphilis wird gern als der „Affe unter den Krankheiten“ bezeichnet, da sie „alle“ Symptome nachahmen könne. Sie hat eine besondere Affinität zum Nervensystem. Adrian Leverkühn, ein hochbegabter Musiker und Komponist aus wohlsituiertem bürgerlichen Hause, handelt sich bei einer reizvollen Werktätigen im ältesten Gewerbe der Welt einen Primäraffekt ein, der scheinbar nach einer Therapie durch zwei Dermatologen spurlos verschwindet. Doch die Behandlung bleibt unvollständig, da der erste Arzt aus unbekannter Ursache plötzlich verstirbt und der zweite unter ebenso unklaren Umständen verhaftet wird – Teufelswerk, wie Adrian später erfährt. Nachdem er sich den Mächten der Finsternis überantwortet hat, erlebt er eine Steigerung seiner mentalen Fähigkeiten und Phasen höchster Seligkeit, schafft unerhörte  musikalische Werke. Nun hat seine Spirochaeta pallida eine Passion für das zarte Parenchym der Kopfregion. Zunächst leidet der Künstler nur an Schwindelerscheinungen und Migräne, wird aber volle vierundzwanzig Jahre post infectionem in tiefster Verzweiflung und Rettungslosigkeit, von unerträglichen Schmerzen gepeinigt, mit allen Anzeichen einer progressiven Paralyse enden.  

    Ebenso einprägsam schildert Thomas Mann die Zeichen der Tabes dorsalis.

    Mehrere Herren mit entfleischten Gesichtern werfen auf  jene unbeherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet. Sobald sie in Gabrieles Nähe kommen, lächeln dieselben Herren und versuchen angestrengt, ihre Beine zu beherrschen (Tristan, 1902).

    Das Morbide

    Bei den Buddenbrooks wandert das Übel in Form von Neurasthenie, einer reizbaren Nervenschwäche, als schleichende Familienkrankheit über vier Generationen hinweg, um die beiden letzten Vertreter gänzlich zu zerstören. Eine Schwächung des „Selbst“ macht die Betroffenen unfähig, ihre Arbeits- und Lebenswelt sinnvoll zu strukturieren. Die veraltete Bezeichnung Neurasthenie ersetzen wir heute gern durch die des allgegenwärtigen Syndroms „burnout“.

    Buddenbrooks

    Thomas, der Firmenchef, empfindet, obwohl er kaum siebenunddreißig Jahre zählt, ein Nachlassen der Spannkraft, eine raschere Abnützbarkeit, die mit Rastlosigkeit und einem übertriebenen Hang zur persönlichen Sauberkeit und äußeren Perfektion einhergeht. Er wird sich darüber klar, dass oft die … sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstieges erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht. An seinem Bruder Christian missfallen ihm Dinge, die er schon an sich selbst mit Abscheu bemerkt hat, nämlich eine ängstliche, eitle und neugierige Beschäftigung mit sich selbst, die zerfahren, untüchtig und haltlos macht. Aber wir sind bloß einfache Kaufleute … unsere Selbstbeobachtungen sind verzweifelt unbeträchtlich.

    Christian bietet die Zeichen einer schweren hypochondrischen Störung. Er ist ein liebenswürdiger Taugenichts, alles andere als dumm, aber unfähig zu ernsthafter Arbeit. Während er sich als begabter Imitator und geistreicher Unterhalter betätigt, ergeht er sich andererseits in abstoßenden, detaillierten Beschreibungen seiner Qual. Haltlos und bar jeder Selbstkontrolle wird er schnell zum Spielball anderer „Suitiers“ und einer Frau von zweifelhafter Lebensführung. Als seine Ehefrau betreibt sie schließlich unter Berufung auf Wahnideen und Zwangsvorstellungen seine Entmündigung und die Einweisung in eine Anstalt.

    Hanno, der jüngste und letzte Buddenbrook-Spross, still und kränklich, leidend und mitleidend, taugt gewiss nicht zum Kaufmann, allenfalls zum Künstler. Seine Spannungen entladen sich in musikalischen Phantasien bis zur Kakophonie. Die bläulichen Schatten in den tief liegenden Augenwinkeln hat er von seiner Mutter Gerda, und dass sie schon bei dem Neugeborenen auftreten, kleidet, wie Thomas Mann bemerkt, ein vier Wochen altes Gesichtchen nicht zum besten.

    Tristan

    In geringer Abwandlung erscheinen das blaue Äderchen über dem Auge und die tiefen Schatten zu beiden Seiten der Nasenwurzel als Leitmotiv auch bei Tristans Gabriele. Für die Beschreibung ihrer Ankunft in Einfried  findet Thomas Mann ironisierende Sätze, da die beiden Braunen [Pferde] … mit rückwärts gerollten Augen angestrengt diesen ängstlichen Vorgang verfolgen, voll Besorgnis für soviel schwache Grazie und zarten Liebreiz. Wie pathetisch aber wird erst der Neurastheniker Spinell, den die Mitpatienten geschmackvoll den verwesten Säugling nennen! Er schwärmt die junge Frau an, die doch aus einem alten Geschlecht stamme, zu müde bereits und zu edel zur Tat [sic!] und zum Leben, … das sich gegen das Ende seiner Tage noch einmal durch die Kunst verklärt.

    Der Zauberberg

    Hans Castorp, Hospitant und weicher Neuling, bringt es auf dem Berghof mit Fiebermessen und anderen Bemühungen endlich dahin, dass er sich fast wie ein ‚richtiger‘ Patient fühlen darf.

    Der Tod in Venedig

    Gustav Aschenbach erliegt zwar am Ende der Cholera, doch auf der Basis eines Gefühls der Ausweg- und Aussichtslosigkeit, nachdem er sich, ein betörter Liebhaber, im Traum der Raserei des Untergangs ergeben hat und es auch im wachen Zustand gegen die Mahnung seines Gewissens unterlässt, die polnische Adelsfamilie vor den Gefahren der verseuchten Stadt zu warnen, damit er nicht auf den Anblick des leidenschaftlich Begehrten verzichten muss – Man soll schweigen! Man soll das verschweigen!  und:  Ich werde schweigen!

    Meisterhaft versteht es Thomas Mann, seinen Protagonisten stets solche Krankheiten aufzuerlegen, die längst durch das Morbide in ihnen vorbereitet sind und sich schon beim scheinbar Gesunden in persönlichen Eigenschaften und als Symptome einer reizbaren Nervenschwäche äußern.

     

    Lit. bei der Verfasserin.